In einem zweibändigen Sammelwerk des Hamburger Instituts für Sozialforschung versuchen sich Wissenschaftler und Publizisten daran, alten und neuen Terrorismus zu unterscheiden
Spätestens mit der Debatte um die vorzeitige Haft-Entlassung von Brigitte Mohnhaupt und das Gnadengesuch von Christian Klar ist die Auseinandersetzung um die Entstehung und die Geschichte der "Rote Armee Fraktion" (RAF) wieder voll entbrannt. Bereits Ende des vergangenen Jahres erschien in dem von Jan Philipp Reemtsma gegründeten Hamburger Institut für Sozialforschung ein zweibändiger Band zu diesem Komplex. Grund genug für eine umfassende Analyse. Unsere Autoren Achim Engelberg und Franz Schandl stellen das voluminöse Werk vor und fragen nach seinen Intentionen.
Faszination übt der Terrorismus vor allem auf die in sicherer Distanz aus, meint der Terrorismus-Forscher Walter Laqueur. Betroffene haben eine andere Optik. Im grellen Licht des neuen Terrors er
neuen Terrors erscheint der alte aus den siebziger Jahre fast im nostalgischen Abendlicht, erleichtert kann man ihn als abgeschlossenen Fall ansehen und analysieren. Das versucht Wolfgang Kraushaar mit seiner illustren Autorenschar in einem vom Hamburger Institut für Sozialforschung initiierten Großprojekt. Fast 1.500 eng bedruckte bilderlose Seiten umfasst die bislang größte Arbeit, die mit Hilfe der internationalen Terrorismusforschung das Phänomen "RAF" durchleuchten möchte.Zuweilen ist man versucht, die beiden Bände im Schuber, weit größer als zwei Ziegelsteine, mit ihrem interdisziplinären, allumfassenden Anspruch auch als die Wissenschaftsbetriebsamkeit persiflierend anzusehen - wer soll wohl wann und wie lange darin lesen? -, aber dann findet man immer wieder höchst aufschlussreiche Essays. Publizisten und Historiker, Politologen und Soziologen, Psychologen und Medienforscher, Amerikanisten und Japanologen, Germanisten und Juristen, Hispanisten und Lateinamerikaexperten umkreisen den Gegenstand und betrachten ihn durch die Brillen ihrer jeweiligen Zunft.Nach einer Einleitung von Wolfgang Kraushaar, die den alten mit dem neuen Terror vergleicht, enthält das Buch elf große Abschnitte. Mit Begriffsklärungen beginnend gibt es vielseitige Annäherungen an das RAF-Phänomen: von den ideologischen Voraussetzungen und Theorien, darunter einen absurden Aufsatz Entsetzen - Walter Benjamin und die RAF, bis zu Porträts wichtiger Terroristen, von Vergleichen mit anderen bewaffneten Gruppen in der Bundesrepublik bis zu Analysen von Terrorgruppen in Westeuropa und anderen Weltteilen (Rote Brigaden, Japanische Rote Armee); von Reaktionen der Staatsmacht bis zur Medienberichterstattung; von Interpretationen der Darstellungen in Film und Literatur bis zu Interviews mit Hans Magnus Enzensberger und dem ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Horst Herold. Glänzende Essays laden zum Lesen ein und ständige Wiederholungen machen eine durchgängige Lektüre schier unmöglich. Sprachlich-kompositorische Meisterschaft findet sich neben "wissenschaftlich" verbrämter Unfähigkeit zum Stil.Beim Vergleich des Terrorismus gestern und heute besteht Konsens, dass die neuen Täter die Kampfzone ausweiteten; überall ist heute ein Anschlag möglich, jeder kann Opfer werden, auch Neugeborene. Am 11. September 2001 kamen nach Angaben der Rand Corporation innerhalb weniger Minuten mehr Menschen um als bei allen Terroranschlägen seit 1968. Die deutsche RAF tötete in den 28 Jahren ihrer Existenz über 30 Menschen, fast ebenso viele ihrer Mitglieder starben bei Schießereien, durch Hungerstreik oder Selbstmord.Wie es für die russischen Anarchisten nahezu unakzeptabel war, dass bei einem Anschlag ein Kind stirbt, wollte die RAF vermeiden, dass Unbeteiligte getötet werden. Es starben "nur" Entscheidungsträger, Polizisten und Bedienstete wie etwa der Fahrer von Hanns-Martin Schleyer. Für heutige Terroristen aber gibt es keine Unschuldigen mehr. Im Irak ist es heute nicht ungewöhnlich, dass bis zu 100 Zivilisten pro Tag durch Anschläge sterben. Die Täter im südrussischen Beslan scheuten im September 2004 nicht vor Geiselhaft und Tötung von Schulkindern zurück. Während frühere Attentäter ihr Leben gefährdeten, betritt heute mit dem Selbstmordattentäter eine neue Gestalt die Weltbühne.Schwierigkeit bei allen Vergleichen bleibt, dass das Phänomen Terrorismus so vielgestaltig ist. Selbst die Ausweitungs- und Brutalisierungsthese wird - bezieht man, wie in einigen Beiträgen, den Staatsterrorismus in der Französischen Revolution und in der Stalinschen Sowjetunion ein - den Dingen nicht gerecht. Wenn es um Staatsterrorismus geht, wetteifern weiter Hitler, Stalin und Mao um den ersten Platz. Hier gibt es - trotz Guantánamo - heute nichts Vergleichbares. Der Terrorismus der siebziger Jahre war eine Randerscheinung des Ost-West-Konfliktes, der in diesen Bänden aufgebläht wird; der heutige ist die signifikanteste Ausgeburt der neuen Weltgewalt(un)ordnung.Dass bis heute Filme über die RAF gedreht, Romane und Sachbücher geschrieben werden, liegt am Mangel an dramatischen Geschichten in der Bundesrepublik, an der Ikonengier der Kulturindustrie und daran, dass die RAF die dunkle Seite der ´68er Reformbewegung bleibt. Diese Bürgerkinder - ihre Eltern waren Architekten und Ärzte, Pastoren und Professoren - sahen sich im weltweiten Befreiungskrieg für eine kommunistische Zukunft. Es verband sie das schlechte Gewissen des Bürgers mit dem Angriff auf die Väter, die vielfach ausgezogen waren, um für sich und Hitler die Welt zu erobern, und eine zuweilen groteske Sicht auf die Außenwelt - ausgerechnet in Nordkorea glaubte die RAF Weggefährten zu finden. Sie sah sich als bewaffneter Arm einer noch zu gründenden kommunistischen Partei. Die promovierte Theologin, ehemalige Maoistin und spätere Grünen-Politikerin Antje Vollmer formuliert es so: "Die RAF-Leute haben nur getan, was in vielen von unseren Köpfen als notwendige Radikalisierung während des Vietnamkrieges gedacht worden ist."Nach 1972 allerdings, als die erste Generation um Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin verhaftet worden war, ging es der zweiten um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar vor allem darum, die Inhaftierten frei zu bekommen. Der Höhepunkt der RAF-Aktionen - die Entführung des BDI-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer im Spätsommer 1977 und die Zusammenarbeit mit einem palästinensischen Kommando, das die Lufthansamaschine Landshut mit Touristen an Bord kaperte - hatte kein gesamtgesellschaftliches Ziel, sondern sollte nur die Stammheimer Insassen freipressen. Die RAF-Mitglieder haben sich, mit Heinrich Böll gesprochen, "in die Enge begeben" und sind gleichzeitig "in die Enge getrieben worden."Die Härte des Staates schuf wiederum neue Staatsfeinde. Der Jurist Uwe Wesel bilanziert: "Die Strafjustiz hat in den RAF-Prozessen zu hart reagiert, befangen in einem rechtsstaatswidrigen Freund-Feind-Denken." Hätte die Justiz nicht so brutal eingegriffen, wären wahrscheinlich etliche Sympathisanten nicht in die RAF gegangen, hätten eventuell früher aufgegeben. Kurzum: die Fahndung wäre erfolgreicher gewesen und das Land schneller befriedet.Viele ´68er, die es nach oben schafften, kennen einige aus den bewaffneten Gruppen aus eigener radikaler Zeit. Selbst der um etliche Jahre ältere, aber 1968 wirkungsmächtige Hans Magnus Enzensberger erzählt im Interview, dass er diesen Terror stets für aussichtslos hielt, Andreas Baader widerwärtig wie einen Zuhälter fand, aber dennoch "eine Art Resthaftung" fühlte: Deshalb besuchte er einen der RAF-Gefangenen regelmäßig und half ihm, sein paranoides Weltbild aufzugeben, ihn zu "dekontaminieren".Dass nicht zuletzt irregeleiteter Idealismus die Taten der RAF motivierte, verrät eine Erfahrung des Finanziers der beiden Bände, Jan-Philipp Reemtsma. Er gab einer Reihe entlassener RAF-Mitglieder Stipendien, damit sie in ein bürgerliches Leben zurückfinden und stellte schließlich fest: "Leider werden die dann, zu meinem Entsetzen, in der Regel Sozialpädagogen."Die RAF wollte den Volkskrieg in die Metropolen tragen, aber sie schuf nur einen "Krieg der 6 gegen die 60 Millionen" (Heinrich Böll). Dennoch gelang es ihr, internationale Beziehungen zu knüpfen, die ihr langes Überleben sicherten, etwa durch Rückzugsräume im Nahen Osten, aber auch ihr Scheitern spektakulärer machten.Einer der wichtigsten Texte der beiden Bände ist der älteste: ein Nachdruck von Sebastian Haffners Einleitung zu Mao Zedongs militärischen Schriften aus dem Jahre 1966. Darin analysiert er Maos Taktik, den historischen Hintergrund und die Folgen. Mao habe einen neuen Typus von Guerillakampf entwickelt, der in unterentwickelten Ländern wirke, aber in hochindustriellen Staaten zum Scheitern verurteilt sei. Er brauche eine verzweifelte Bevölkerung, die wenig zu verlieren hat, eine sich selbst versorgende Landwirtschaft und ein zum Teil unzugängliches oder verkehrsmäßig wenig erschlossenes Land. Ansonsten entstehen nur Terroristenvereine. Einige Jahre vor der RAF-Gründung erklärte der große Publizist bereits ihr späteres Scheitern, prophezeite die Niederlage der USA im Vietnamkrieg und lehrt uns noch heute, warum der Krieg gegen den Terror militärisch nicht zu gewinnen ist.Ob dagegen der heutige Terrorismus die Stelle zwischenstaatlicher Kriege eingenommen hat, wie der Frankfurter Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel glaubt, oder ob nicht erst eine solche Nobilitierung - die sich in der Ausrufung eines Krieges gegen den Terror zeigt - die Lage weiter verschärft, bleibt offen.