Krisengipfel nach Mitternacht

Fernsehkritik Mit dem Zweiten debattiert man besser: Manchmal lohnt es sich, vor dem Fernsehen auszuharren. Das "Nachtstudio" lieferte den überzeugenden Beweis

Gerecht ist es nicht, dass das Nachtstudio wie immer zuletzt dran kam. Anne Will hatte mit dem Thema "Kindergangster" gelangweilt, Druckfrisch einmal mehr gezeigt, dass man der Literatur mit hektischer Kamera, Bonmot-Salven und bemüht originellen Schauplätzen keinen Gefallen tut, und ach so ja, Titel, Thesen, Temperamente gab es auch.

Wer um Mitternacht noch nicht eingeschlafen war und das ZDF wählte, wurde Zeuge, dass eine anregende Diskussionssendung im deutschen Fernsehen tatsächlich möglich ist. Nur der Titel erinnerte an einen anderen Sonntagabendtalk: "Krise als Chance – Brauchen wir eine neue Wertedebatte". Gähn, so hätte das auch bei Sabine Christiansen stehen können. Aber es wurde eben nicht wie weiland bei Christiansen diskutiert. Also nicht mit erhobenem Zeigefinger, und immer genau dann intervenierend, wenn es tatsächlich kontrovers und spannend wurde. Nein, der Diskussionsstil in diesem Nachtstudio war höflich, klug und erstaunlicherweise kaum besserwisserisch. Es hing wohl auch mit dem Thema zusammen. Über die "Krise" sollte also gesprochen werden. Schön, aber welche meinte man? Die Rede war von der Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Systemkrise, Krise des Kapitalismus, gesellschaftlicher Krise, moralischer Krise.... Sie ist da, wird vermutlich noch wachsen, und sie ist eine Hydra; schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen sofort zwei neue Köpfe nach. Das Verrückte an dieser unbegriffenen, vielleicht auch unbegreiflichen Krise ist ja, dass sie längst auch in unseren Köpfen steckt und uns die Gewissheiten raubt.

Die Folge: Unterschiedliche, sich oft diametral widersprechende Urteile finden unsere Zustimmung: "Die Armut der dritten Welt ist mit unserer nicht vergleichbar." Nicken. "Auch in Deutschland gibt es echte Armut". Nicken. "Obama ist ein wunderbarer Politiker" Nicken. "Es ist naiv und gefährlich, einem einzigen politischen Führer so viel Vertrauen zu schenken". Nicken. Und so fort. Die Äußerungen sind so oder ähnlich in dieser Gesprächsrunde gefallen. Genickt wurde vor dem Bildschirm, aber auch in der Runde und in wechselnden Allianzen. Nun muss das Ende der Gewissheiten nicht dazu führen, dass man ohne Meinung dasteht. Zwangsläufig wird man jedoch duchlässiger für die Meinung des anderen. Das demonstrierte gerade auch Norbert Bolz, von dem das nicht unbedingt zu erwarten war. In seinen Büchern polemisiert der Berliner Professor für Medienwissenschaft gerne gegen "Gutmenschen", "linksliberale Professoren", "radikalen Feminismus" und was sonst noch alles seinen Verstand beleidigt.

Als Gesprächspartner war er höflich, verbindlich und in einem elementaren Sinn klug, das heißt, skeptisch gegen wohlfeile Überzeugungen: "Wenn jeder von Gier spricht, ein Herr Wallraff ebenso wie ein Herr Schäuble, dann reizt mich das zum Nachdenken". Natürlich hat er sein polemisches Talent nicht ganz versteckt, warum auch. "Moralisch argumentieren heißt, dass man ein Problem nicht versteht", provozierte er. Daraus spricht eine Geisteshaltung, die von Marx bis Luhmann reicht: Die Aufklärung abklären. Fragen der Gerechtigkeit stellen sich freilich auch dann noch, wenn man die 3,4 Billionen Dollar zur Rettung der US-Wirtschaft als rein "technischen Vorgang" begreift. Auf Widerspruch stieß Bolz besonders bei Günter Wallraff, der bekanntermaßen ein feines Gespür für Ungerechtigkeiten hat. Wallraffs Credo lag in einem "Alles wird noch schlimmer werden". Man fragte sich schon, woher der Reporter diese Gewissheit nahm, die deutlich mehr als die Summe seiner Einzeleinsichten darstellte.

Auch die Publizistin und Unternehmensberaterin Gertrud Höhler, welche die Krise wohlfeil im "Zockertum" der Alpha-Männer begründet sah, wollte die Moral und die Werte nicht einfach beiseite geschoben wissen. Höhler könnte man sich auch als liberale Bundespräsidentin vorstellen. Neben ihr saß Rupert Neudeck, der Humanist. Man kann sagen, dass er die Welt gesehen hat, von Volker Panzer wurde er auch immer wieder auf seine Weltklugheit hin befragt. Besonders angenehm an Panzer ist die Selbstironie, mit der er eine habituelle Eitelkeit immer wieder aufbricht. Selbstironie ist unter Moderatoren nicht sehr verbreitet, wird wohl auch nicht allgemein gewünscht, und so ist in naher Zukunft mit mehr Gerechtigkeit am Fernseh-Sonntagabend nicht zu rechnen.

Topworte (In Klammern: Anzahl ihrer Nennungen)

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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