Sympathie für den Kriminellen

Kolumne Lebenslanges Lernen schützt vor Kinderstreichen nicht: Was das "Klingelputzen" mit Kriminalität zu tun hat und wieso man den Verbrecher auch ambivalent betrachten kann

Vieles ändert sich rasant. Die Orientierung fällt immer schwerer. Hatten früher Rentner Probleme, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden, weil diese sich seit ihrer Kindheit so sehr gewandelt hatte, so sorgt die Akzeleration dafür, dass heute schon Jugendliche vom „lebenslangen Lernen“ überfordert sind. Das Tempo der Veränderungen selbst hat sich radikal verändert.

Inmitten dieser Entwicklung aber gibt es Dinge, die sich erstaunlicherweise über Generationen hinweg erhalten haben, auch und gerade bei den Verhaltensmustern von Kindern. Nach wie vor spielt man „Mensch ärgere dich nicht“, als gehörten Computer und Handy nicht zum Alltag. Das „Tempelhüpfen“ ist ebenso wenig aus der Mode gekommen wie „Schere, Stein, Papier“, Murmelspiele, das Seilspringen oder das „Klingelputzen“.

Das „Klingelputzen“ unterscheidet sich von den genannten Spielen dadurch, dass es keine einsame Betätigung und kein Wettbewerb unter Gleichen ist, sondern ein „Streich“, der darauf angelegt ist, jemanden hereinzulegen – mit anderen Worten: jemanden zum Narren zu halten, ihn, wenn auch geringfügig, zu schädigen.
Für den Betroffenen, der hereingefallen und an die Haustür gegangen ist, mag der Kinderstreich ärgerlich sein. Man kann ihn aber auch sportlich sehen: als Herausforderung der Klingelputzer an sich selbst, schneller zu sein als der Gefoppte. Sie dürfen sich von den meist körperlich überlegenen Erwachsenen nicht erwischen lassen. Wenn sie entkommen, so ist das ein Sieg der Schwächeren über die Stärkeren. Und die gewinnen Sympathie, auch wenn dabei jemand getriezt wird.

Das Modell der Klingelputzer lässt sich mühelos auf Kriminelle übertragen. Was sie miteinander verbindet, ist die Verletzung von Verboten. Sie unterscheidet sich bei diesen und jenen nur in der Dimension, nicht im Prinzip. Und vergleichbar ist auch die Ambivalenz, die dieser Verbotsverletzung hier wie dort innewohnt. Wer durch eine kriminelle Tat geschädigt wird, wer bestohlen, betrogen, ausgetrickst wird, ist wohl kaum geneigt, für den Täter Verständnis aufzubringen. Der außenstehende Beobachter aber wird die Tat in Relation setzen zu den Lebensumständen des Täters und des Geschädigten. Und da kann es schon sein, dass er sogar Sympathie für den „Kriminellen“ empfindet. Es ist ja nicht nur eine realitätsferne Verschiebung, wenn man im Kino mitfiebert mit Gesetzesbrechern vom Typus Bonnie und Clyde. Sie übertreten das Gesetz – aber ihr „Verbrechen“ wird auch als Akt ausgleichender Gerechtigkeit erfahren. Und noch die Zeitungsnachrichten über reale Bankräuber, die mit Millionenbeträgen davongekommen sind, nötigen den meisten Lesern mehr Respekt als Abscheu ab.

Von Robin Hood, der die Reichen bestahl, um den Armen zu geben, ist beim gewöhnlichen Kriminellen geblieben, dass er die Reichen oder den als Bedrohung empfundenen Staat schädigt, und das erweckt bei den Armen selbst dann Sympathie, wenn sie nichts dabei abbekommen. Das Kriminelle ist ambivalent in einer Umgebung, die ihrerseits sehr oft unter dem Deckmantel des Legalen kriminell agiert.
Wer wüsste das besser als ein Krimi-Autor mit politischem Verstand. Dieser Tage veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung ein Interview mit dem Schriftsteller Wolfgang Schorlau, das den Wassertrinkern nördlich des Nesenbachs nicht vorenthalten werden soll. Und weil ich solche krummen Zufälle liebe, sei dem geneigten Leser verraten, dass Georg Dengler, der Privatdetektiv des Stuttgarter Pendants zu Wolf Haas, in der Wagnerstraße wohnt, dem Parallelsträßchen zu jener Straße im Bohnenviertel, die den Namen des (in den Verfilmungen von Josef Hader verkörperten) Wiener Protagonisten von Wolf Haas trägt: Brennerstraße. Es hängt eben alles mit allem zusammen, zumal wenn es um Verbrechen geht.


In der Freitag(s)-Kolumne "Linker Haken" beklagt Thomas Rothschild Woche für Woche, dass alles immer schlimmer wird. Manchmal hat er aber auch andere Sorgen. Letzte Woche: Zweierlei Maß: Man kann sich mit guten Gründen über Menschen aufregen, die ungerechtfertigte Vorteile einstreichen. Aber warum wird dieses Kriterium immer nur bei Juden angelegt?

Thomas Rothschild (geb. 1942) ist ein britisch-österreichischer Literaturwissenschaftler und Träger des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik. Er lebt in der Nähe von Stuttgart.

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