Der Tod auf Erden

Leidmotiv Am 1. Mai beginnt das Theatertreffen mit Christoph Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir": Wie der Regisseur Krankheit als Kunst inszeniert

Wagners Musik ist giftig und benötigt einen Beipackzettel. Schon Nietzsche hat sich an den Leitmotiven infiziert. Thomas Mann hat vor der Infektionsgefahr der Liebeschromatik gewarnt, und der Dirigent Christian Thielemann verlangt bis heute, Tristan und Isolde in einen Giftschrank zu schließen – weil kein Mensch so viel Sehnsucht ertragen kann.

Mehr zum Thema:

Rezension zur Inszenierung von "Eine Kirche der Angst" bei der Ruhrtriennale

Als Christoph Schlingensief vor acht Jahren eine Wagner-CD herausgab, schwärmte er im Begleitbuch über die Wunderkraft der Musik. Als Beweis legte er eine Salami vor eine Box und Wagner ein und stellte fest: „Die beschallte Wurst schmeckt anders als die unbeschallte.“ Seither hat sich Schlingensief die volle Dröhnung gegeben: auf seiner Wagner-Ralley durch Afrika, in seinem Bayreuther Parsifal und in seinen Volksbühnen-Performance-Rehas nach den traumatischen Erlebnissen vom Grünen Hügel.

Heute behauptet er, sein Lungenkrebs sei in Bayreuth ausgebrochen. Bei den Parsifal-Proben. In dieser Oper lüftet Amfortas mit klaffender Wunde täglich den heiligen Gral. Der reine Tor Parsifal wird zum mitleidenden Mes­sias und erlöst den untoten Ritter nach fünf Opernstunden. Schlingensief vereint die multiplen Persönlichkeiten, die er in seinem Leben angesammelt hat, öffentlichkeitswirksam unter den Leitmotiven Wagners: Er ist Aufrührer, Leidensmann und Erlöser in einer Person. Kundry, Amfortas, und Parsifal – Sünder, Jesus und Gott.

Wagners Opern sind ein Schwamm für fast alle deutschen Mythen. Mit Wagner haben sich Ludwig II., Hitler und Angela Merkel angesteckt, aber niemand so echt und wahrhaftig wie Christoph Schlingensief das nun von sich behauptet. Sein Leiden ist operngroß. Aus seiner Wunde blutet selbst die deutsche Vergangenheit, wenn Schlingensief vom „faschistischen Bayreuth“ redet. Privates und Politisches, Inszenierung und Wirklichkeit überblenden sich. Der kranke Künstler wird zum nationalen Gesamtkunstwerk.

Das Feuilleton umjubelt Schlingensiefs Selbstentäußerung. Wer hat schon das Recht, diese nackte und existenzielle Inszenierung zu kritisieren? Schlingensief trägt sein eigenes Fleisch und seine Seele zur Schau. Er spielt die Passion seines Lebens, seine Krankenakte wird zur Soap-Opera, zur persönlichen Lungenwurmstraße, in der er die eigene Götterdämmerung als Entsündigung Deutschlands stilisiert. Mit Wagner an seiner Seite überkommt der Mensch als Künstler das gesellschaftliche Tabu des Todes und stellt sich als leibhaftig leidender Schauspieler an die Spitze von Millionen Krebskranken. Er ringt um Herbert Marcuses These: „Einvernehmen mit dem Tod ist Einvernehmen mit den Herrn über den Tod: der Natur oder dem Gott.“

Natürlich würde all das auch eine Nummer kleiner gehen. Heiner Müller ist nach seiner Bayreuther Tristan-Inszenierung wesentlich leiser an Krebs gestorben. Und das Ehepaar Stolpe erklärte jüngst auf Maischbergers Sofa, dass der Krebs zwar blöde sei, aber letztlich jedes Leben ein Ende habe. Die Stolpes zeigen, dass der Tod ideologische Kategorien von Politik, Kunst und selbst von Religion auflösen kann. Weil er einfach da ist. Bei ihnen folgt der Tod dem Leben. Ihre private Demut macht sie groß – und vorbildhaft für viele Krebspatienten. Schlingensief zwingt den Tod auf die Erde, er will als Leibhaftiger transzendieren und gönnt sich, die Krankheit als Kunst zu inszenieren. Ob das Erlösung bringt, weiß man nicht.

Parsifals Mitleid aber ist ihm sicher.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden