Nur ein Appell an die Menschlichkeit

Kino "Kein Ort" von Kerstin Nickig verdient Anerkennung für das verdrängte Flüchtlingsthema. Doch es hapert bei diesem Film an der Umsetzung

Eigentlich kann man einen Film wie Kerstin Nickigs Kein Ort völlig unbesehen loben. Schließlich ist es ehrenvoll, wenn sich ein Dokumentarfilm konträr zu den Gepflogenheiten des Fernsehfeatures eines Themas annimmt, das seinen Neuigkeitswert längst verloren hat. Inzwischen scheint es Ewigkeiten her, dass der Tschetschenienkonflikt bei uns in den Nachrichten auftauchte, von den Flüchtlingsströmen, die dieser noch immer schwelende Konflikt wie alle Kriege mit sich bringt, hat die europäische Öffentlichkeit so gut wie keine Notiz genommen. Und das, obwohl sie unter den Asylbewerbern innerhalb der EU die zweitgrößte Gruppe ausmachen.

Der Kritikerreflex gebietet es, anerkennend herauszustreichen, dass hier Verdrängtes zur Sprache gebracht wird, und das mit einigem Aufwand. Vier Flüchtlinge samt Familie bringt Nickig in ihrer Dokumentation vor die Kamera: eine schwierige Aufgabe, verbunden mit Recherche, Ausharren und Vertrauensbildung, schließlich handelt es sich bei der Mehrzahl der Protagonisten um „Illegale“, für die jede Aufhebung der Anonymität mit Gefahren verbunden ist. Und trotz dieser Verdienste verdeutlicht Kein Ort die inhärenten Schwächen einer bestimmten Sorte von Dokumentarfilm.

Vier Schicksale schneidet Nickig in ihrem Film parallel: Da ist der inguschetische Journalist Ali, der mit Frau und Kind in einem Flüchtlingsheim in Österreich auf den Ausgang seines Asylverfahrens wartet. Er hat mit Anna Politkowskaja gearbeitet. Da ist Tamara, die mit Mann und einer behinderten Tochter davor zittert, aus Wien erneut nach Polen abgeschoben zu werden. Da ist Ruslan, der sich als Illegaler irgendwo in der Ukraine mehr schlecht als recht durchschlägt und bald seine Frau und seine drei Töchter nachkommen lässt. Und da ist Wacha, die markanteste Persönlichkeit unter ihnen, der als ehemaliger Kämpfer für die Unabhängigkeit Tschetscheniens in Österreich Unterschlupf, Asyl und auch noch die Liebe gefunden hat. Nun zittert er um seinen Sohn, der von der russischen Armee desertiert ist.

Nickig folgt in ihrer Herangehensweise der herrschenden Dokumentarfilmmode: Sie lässt die Protagonisten erzählen, ohne dass man je eine einzige Frage hört. Ein paar Kurzinterviews mit freundlichen, aber denkbar gleichgültigen Grenzbeamten sollen die institutionelle Seite des Asylprocedere repräsentieren. Es gibt keinen Off-Kommentar, nur ein paar Infos, die als Schrifteinblendungen am Anfang und Ende erscheinen. Die Beobachtung zieht sich über einen bestimmten Zeitraum, hier ist es etwa ein Jahr.

Vor allem letzteres erweist sich als Hindernis: Während bei Wacha und seinem Sohn in diesem Jahr fast zuviel passiert, so dass der Zuschauer von den Entwicklungen überrascht wird, tut sich bei den übrigen so wenig, dass die zeitliche Perspektive ihrem Schicksal nichts hinzufügen kann.

Wie überhaupt einen über die anderthalb Stunden, die Kein Ort dauert, das dumme Gefühl beschleicht, dass sich die Autorin zu viel vorgenommen hat. Dem emphatischen Blick, mit der die Kamera Tamara, Ali, Ruslan und Wacha in den Blick nimmt, kann man sich kaum entziehen. Ihr Schicksal rührt an. Da aber keinerlei Hintergründe zum Tschetschenienkonflikt zur Sprache kommen und man auch nur von zweien etwas über das Erlittene erfährt, erschöpft sich der Film mit einem bloßen humanistischen Appell. Der würde aber für alle Flüchtlinge gelten.

Woher kommt eigentlich die größte Gruppe der Asylsuchenden in der EU?

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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