Der Freitag: Die Kommunikationswissenschaftlerin und Publizistin Miriam Meckel hat ein Buch über ihren Burnout geschrieben. Das hat mich beschäftigt. Ich kann verstehen, dass das Menschen hilft, die in einer solchen Situation stecken. Aber zugleich fühle ich mich davon belästigt. Ich will mir von Miriam Meckel nicht auch noch erklären lassen, dass zuviel Arbeit ungesund ist.
Peter Schneider:
Meckel ist ein interessantes Beispiel dafür, wie allein eine Diagnose und das Bekenntnis zu ihr zum Beginn einer therapeutischen Katharsis werden können, Krankheit als Chance. Dabei gibt es beim Burnout nicht einmal eine spezifische Therapie. Wie bei der klassischen psychosomatischen Erkrankung besteht die Therapie hier vor allem darin, die Botschaft der Krankheit zu v
r klassischen psychosomatischen Erkrankung besteht die Therapie hier vor allem darin, die Botschaft der Krankheit zu vernehmen: Ändere Dein Leben! Das macht wahrscheinlich das Erfolgsrezept des Burnout aus – dass eine Diagnose wie ein Erweckungserlebnis daherkommt.Die scheinbare Schwäche wird in die Erfolgsgeschichte integriert.Beziehungsweise in eine solche umgewandelt. Die Stärke, die man aus der Krankheit ziehen kann, zeigt sich darin, sich zu seiner Schwäche bekennen zu können. Darum auch die Floskel vom Mut, den es braucht, sich seiner Erschöpfung zu stellen. Oder dass man damit ein Tabu bricht in einer Gesellschaft, die so sehr auf Leistung fixiert ist. Der Zusammenbruch und das anschließende Sprechen darüber erscheinen als Akte der Befreiung. Doch die mit dem Burnout verbundene Rhetorik kann einen gewissen Sündenstolz nicht verhehlen.Beim Essen, wenn auch nicht nur da, gibt es dafür den Begriff „guilty pleasures“. Man bekennt, Dinge zu mögen, die eigentlich nicht gemocht werden dürfen.Offenkundig hat sich die Frage des Schuldigwerdens von der Sexualität in die Bereiche Ernährung und Gesundheit verlagert. Der Sex hingegen ist durch Naturalisierung weitgehend dem Moraldiskurs entzogen worden. Nur als Anekdote: In Zürich gibt es regelmäßig schwul-lesbische Wochen, anlässlich derer Zoo-Führungen unter dem Titel „Homosexualität im Tierreich“ angeboten werden. Dort sieht man dann, dass Sex in jeder Spielart etwas ganz Natürliches ist – Pädophilie ausgenommen. Beim Essen gibt es keine analoge Beruhigung. Da wird es sogleich schuldhaft. Wer Übergewicht hat, raucht und trinkt und sich nicht genügend bewegt, ist schuld an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Er soll sich etwas schämen. Gesündigt zu haben, bekennen nur die Schlanken und Fitten, wenn Sie mal ausnahmsweise Schokolade gegessen haben. Das Unagenehme daran ist, dass man dann immer gleich von sich sprechen muss.Bei den Themen Gesundheit und Ernährung kann man jetzt tatsächlich den Spruch durchexerzieren, dass das Private politisch ist. Und zwar indem man ganz konkret vorrechnet, dass es uns soundsoviel kostet, wenn die Leute Übergewicht haben. Das lässt sich dann mit einer Präventionsmaschinerie in der Pädagogik verknüpfen, wo Kindern ein gesundes Frühstück beigebracht wird und den Eltern ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrem Kind nicht dieses oder jenes mit in die Schule geben. Dieses Netz, das Foucault Mitte der siebziger Jahre am Beispiel des Sex beschrieben hat, lässt sich bei Ernährung und Gesundheit viel alltagsnäher spannen.Was es gleichzeitig so schwer macht, dagegen zu sein.Das ist das Problem. Mit Kritik an diesem totalitären Diskurs gerät man in eine hilflose, bestenfalls originelle Position, die aber nie eine wirkliche Außenposition ist. Wenn man wie ich Zigarre raucht, wird man zum Genussraucher und muss den barocken Bonvivant abgeben. Oder man wird zum übergewichtigen Trotzkopf.Dann ist Kritik unmöglich?Man muss sich den Alternativen verweigern, die in diesem Diskurs als selbstverständlich vorgegeben werden – also auch dem alles beherrschenden Gegensatz gesund/ungesund. Als ließe sich alles in diesem Koordinatensystem abbilden. Gesundheit ist nicht das höchste Gut. So wie auch Frieden nicht das höchste Gut ist. Es gibt kein einziges höchstes Gut.Geht es nicht auch um Benennung? „Work-Life-Balance“ etwa klingt wie eine Technologie, die man auf sein Leben anwenden kann. Ich will mein Leben aber gar nicht unter einem Begriff denken, der mir so widerstrebt.Wir beide wären geneigt zu sagen, dass wir da keinen Widerspruch sähen, zwischen „Work“ und „Life“. Aber selbst dadurch, dass man diese unsägliche Trennung einebnet, hat man sie im Grunde schon anerkannt.Zum Discounter zu gehen, nur um sich einem Begriff wie „Bio“ zu entziehen, ist aber auch albern.Ich sagte ja: Der einzige Ausweg, den diese biopolitischen Netze einem zu lassen scheinen, ist kindischer Trotz. Diese Gesundheitstipps sind nicht einfach nur Informationsaussagen, die haben etwas stark Performatives. Das sind Sprechakte, die weit darüber hinausgehen zu sagen, von soundsoviel Alkohol wird man in der Regel besoffen. Sie sind Bekenntnis- und Pathosformeln.Wäre eine Kritik daran Ideologiekritik?Der Gesundheitsdiskurs krankt – wie die Zwangsneurose – nicht an purer Unvernunft, sondern an einer karikaturhaften Übertreibung von Vernunft. Das Ganze ist so bescheuert, nicht weil‘s an sich irrational ist, sondern es wird irrational, weil es so übertrieben rational ist. Ein krasses Exempel ist Peter Singer, der bekannte Utilitarist und berüchtigte Tierrechtsphilosoph. Der operiert gern mit Beispielen wie: Man hat einen alten Bugatti, den man liebt und pflegt und sich zur Altersvorsorge angeschafft hat, und nun steht ein Kind auf den Schienen, und nur mit dem alten Bugatti kann man den Zug so umlenken, dass er das Kind nicht überfährt. Natürlich muss man den Bugatti opfern. Ein Journalist wandte kürzlich in einem Interview ein: Man könnte doch auch das Kind opfern und statt dessen lieber den Bugatti verkaufen, um damit dann ganz viele Kinder zu retten. Und Singer sagt: Ja, da haben sie auch wieder recht. Solchen Blödsinn könnte man ganz rational endlos weiterspinnen. Im Gesundheitsdiskurs nimmt die Vernunft manchmal ähnliche Formen an – es ist alles völlig vernünftig und gerade deshalb so bescheuert. Das zu kritisieren ist nicht einfach Kritik an einem „falschen Bewusstsein“, sondern Kritik an einem allzu richtigen.Reden wir so und so viel über Gesundheit, weil die großen Ideologien sich erledigt haben?Vielleicht. Jedenfalls kehrt im Gesundheitsdiskurs nun der Gedanke des Klassenkampfs als Klassenkampf von oben wieder: Die Proleten fressen, saufen und sitzen nur vorm Fernseher, während unsereiner arbeitet, ins Fitnessstudio geht und denen noch die Krankenkassenprämie subventioniert.Interessant ist, dass es im Ernährungsdiskurs nicht nur um Übergewicht geht, sondern auch um Magersucht.Diese Präventionskampagnen beschäftigen sich auf eine Weise mit Essen, wie sich vor 40 Jahren nur Anorektiker mit Essen beschäftigt haben, und das Schlimme ist, dass diese Art des Sich-Beschäftigens Konsens geworden ist. Laut einer der letzten Jugendumfragen im Kanton Zürich sind die Jugendlichen ganz zufrieden mit sich – außer mit ihrem Körper. Auf den naheliegenden Gedanken, dass das vielleicht damit zusammenhängt, jede Woche in der Zeitung lesen zu müssen, 20 Prozent der Zürcher Jugendlichen seien übergewichtig, kommt keiner. Man muss offenbar nicht mit Barbie-Puppen spielen und Modezeitschriften lesen, um magersüchtig zu werden, es reicht, die Präventionsbroschüren des Bundesamtes für Gesundheit anzuschauen. Wenn einem die Kausalität mit den Barbie-Puppen einleuchtet, ist es schwer verständlich, warum einem die andere nicht einleuchten sollte.Sind Übergewicht und Magersucht nicht die Extreme, zwischen denen sich der normierte Körper bewegen darf?Eher die beiden Seiten einer Medaille. Das gehört zusammen wie Homophobie und Homoerotik in der Armee.Wie denn?Schauen Sie sich den Bundeswehrskandal in Mittenwald an, diese Gebirgsjäger und ihre Rituale, Nacktklettern, rohe Schweineleber, gemeinsames Kotzen: Die strikte Tabuisierung von Homosexualität im Militär und Initiationsrituale, wie dem Neuen den Schwanz mit Schuhwichse schwarz einzureiben, gehören zusammen. Sie bilden keinen Widerspruch, sondern das eine ist die Voraussetzung des anderen. Offenkundig gehört es zur Dynamik solcher Männergesellschaften, sich permanent und zwanghaft mit Homosexualität zu beschäftigen.Für die Dynamik des Gesundheitsdiskurs braucht es die „Unterschicht“, an der er exemplifiziert werden kann. Dass „Unterschicht“ und schlechte Ernährung zusammengehen, ist nicht neu. Neu ist die Verachtung, die damit gepaart ist.Verkennt der Diskurs dabei aber nicht, dass „Bio“ ein Wohlstandslabel ist?Das muss er verkennen. Sonst könnte er so ja gar nicht geführt werden.Dann dienen diese Debatten und Aktionen einer Stigmatisierung dieser „Unterschicht“? Ich habe meine Jugend in jener fernen Zeit verlebt, in der für viele von uns Proletarier ein hehrer Begriff war. Bei dieser Zeit hat es sich möglicherweise nur um die Endphase eines historischen Zwischenspiels gehandelt. Vielleicht muss man anerkennen, dass der Prolet vorher eine unangenehme Figur war, die schlecht roch, ungebildet war, viele Kinder, aber kein Geld hatte, und dass er inzwischen wieder eine solche Gestalt geworden ist. Eine heutige Sozialreportage auf RTL ist die reine Social-Horror-Picture-Show ohne jede sozialromantische Filterung.Beeindruckend ist der Konsens, der plötzlich hergestellt werden kann. Beim Rauchverbot war sich auf einmal ganz Europa einig.Bürokratien haben ihre Eigengesetzlichkeiten. Und Raucher sind eine schlechte Lobby, weil sie ihr Laster selbst hassen und schlecht erklären können, Rauchen sei gut. Der einzige Widerstand, der dagegen bleibt, wäre: Ich will mich nicht von anderen gängeln lassen. Aber wie diesen Unwillen umsetzen? Smoke-Ins wären lächerlich und würden als Belästigung empfunden.Weil Passivrauchen schädlich ist.Im Rauchverbot steckt auch eine gewisse Enttäuschung und die Rache der hinters Licht geführten Konsumenten. Über Jahrzehnte wurde die Zigarette als Entspannungsmittel und Lifestyle-Accessoire verkauft, aber – das ist der Gestus des Konsumentenschutzes – sie haben uns immer verschwiegen, dass es süchtig macht und ungesund ist. Das lassen wir uns nicht länger gefallen! Sie ist weitgehend desartikuliert. Die alte Frage nach der Chancengerechtigkeit in der Bildung kommt nur noch als Frauenfrage vor oder sie wird ethnologisiert als Problem der Kinder mit Migrationshintergrund. Dagegen ist nichts zu sagen. Hinsichtlich des Problembewusstseins in Sachen sozialer Frage sind wir damit aber hinter Dahrendorfs Plädoyer für Bildung als Bürgerrecht von 1963 zurückgefallen.