Für etliche Jahre machte unter Hollywoods Drehbuchautoren und Regisseuren das Buch The Hero with a Thousand Faces von Joseph Campbell Furore. Es handelte sich um eine etwas entrümpelte Zusammenfassung der Theorien vom Mythos, der Heldenreise und den dazu gehörigen Symbolen, um den Versuch, Literaturgeschichte, Psychologie, Struktur und Bild auf eine handhabbare Weise zusammenzufassen. Die Formel für den „Monomythos“ des Helden ist dabei sehr einfach; sie lautet: Trennng – Initiaton – Rückkehr. Etwas ausgeführter in den Worten Campbells: „Der Heros verlässt die Welt des gemeinen Tages und sucht einen Bereich übernatürlicher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann k
Kultur : Das elektronische Reenactment
Der Blockbuster „Tron – Legacy“ und das 1001. Gesicht des Helden oder was wir schon immer über die eigene Funktion in der digital verwandelten Welt wissen wollten
Von
Georg Seeßlen
Sieg, dann kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimniserfüllten Fahrt zurück“.Gegenüber anderen Mythen-Theorien hat die von Joseph Campbell – sein Buch erschien 1978 in einer deutschen Ausgabe unter dem Titel Der Heros in tausend Gestalten – einige praktische Vorzüge. Sie ist nicht an ein Geschlecht und einen Altersabschnitt gebunden, sie vermeidet gesellschaftliche und individuelle Letztbegründungen, der Held hört auf, an eine königliche oder wenigstens aristokratisch-elitäre Macht gebunden zu sein. Jeder kann ein Held werden; und anders als in den großen europäischen Mythen-Theorien zuvor ist das Land der Wunder, das der Held zu durchqueren hat, zur Alltagswirklichkeit hin offen, die zyklische Bewegung des Helden schafft eine Perforation.Nach wie vor indes ist die wunderbare Zone, die der Held durchquert, nichts anderes als eine „Welt der Götter“, und in ihnen gibt es die zwei wichtigsten Erscheinungen: eine Göttin – „der Inbegriff aller Schönheit, die Antwort auf alles Begehren, das beseligende Ziel jeder irdischen und unirdischen Heldenfahrt“ (Campbell). Und neben ihr den tyrannischen, grausamen Vater-Gott; und um die Göttin heiraten zu können, muss der Held den väterlich-bösen Gott im Kampf besiegen.Mythos lightCampbells Mythentheorie besticht durch ihre Handhabbarkeit. Der fantasierte und gespielte Mythos ist hier nichts anderes als eine Begegnung mit dem eigenen Bewusstsein, nicht mit einem abgespaltenen, verbotenen Begehren, sondern ein direktes, mehr oder weniger kontrolliertes Spiel mit Wünschen und Bildern. Um es verkürzt zu sagen: Wenn man sich bei C. G. Jung, bei Sigmund Freud, bei Otto Rank und sogar noch bei Claude Lévi-Strauss vor der Gewalt der Mythen fürchten konnte, bot Campbell den Mythos als verlässliches Management von Angst und Begehren an: Mythos light. Zu den begeisterten Campbell-Lesern gehörten die Schöpfer des neuen Blockbuster-Kinos: George Miller bei den Mad Max-Sequels, George Lucas mit seinem Star Wars-Kosmos, Steven Spielberg und Steven King, sowie eine Reihe jener Regisseure, die das Mythen-Konzept mit Ironie aufluden: Disneys und Pixars Animationsräume wurden aus dem Geist der Campbell-Lektüre erneuert.Campbells Ideen, die man in der Tat streckenweise lesen kann wie eine Anleitung zum Drehbuchschreiben, veränderten die Erzählweise der Mainstream-Filme (natürlich verhielt es sich auch umgekehrt: Man konnte notwendige, technisch-ökonomisch bedingte Veränderung mit dem Hinweis auf den Heros in tausend Gestalten erklären). Eine Entwicklung begann, die ihren Höhepunkt mit der digitalen Animation und dem 3-D-Boom erreicht: Die stetige Wandlung des audiovisuellen Ereignisses vom story telling zum world building: Das mythische Grundgerüst diente vor allem zur Erzeugung der Ikonographie der fantastischen Zone. Wer sich an Campbells Regeln hielt, konnte eine Menge Energie ins Design dieser Wunderwelt stecken. Mit dieser Strategie des fantastischen world building war das große Syntagma eines Kinofilms obsolet; aus dem Wandel der Erzählhaltung begann die Ära der Trilogien, der Sequels, der Reihen, der ewigen Wiederkehr der gleichen Helden und Zeichen, des Remixes und des Sampling.Natürlich hat das Konzept des Hero with a Thousand Faces seine Limitationen. Als mythische Lebenshilfe, durchaus im Sinne einer „Ablösung“, wie es einst Bruno Bettelheim für das Märchen konstatierte, also als Fantasie zum Übergang von einem „geborgenen“ zu einem „selbstbestimmten“ Leben, als rite de passage vom symbiotischen zum subjekthaften Dasein, hat der Mythos seine Tücken. Schon Campbell erklärt, dass der Entschluss des Helden, die Alltagswirklichkeit zu verlassen und das Reich der Wunder aufzusuchen, ungleich einfacher ist als der zweite, ebenso notwendige Entschluss, auch dieses Land der Verführungen in Richtung auf die neu gesehene, neu geordnete Wirklichkeit hinter sich zu lassen. Wenn Alices Rückkehr aus dem Wunderland, Dorothys Ende der Traumreise zum Zauberer von Oz in Kansas oder Robinsons Wiederkehr zu seiner Zivilisation noch als Erlösung empfunden wurden, so fällt es den Traumreisenden durch die neuen Bildwelten zunehmend schwer, die Heldenfahrt glücklich zu beenden.Die Welt als SimulationsspielDer industriell und marktwirtschaftlich produzierte Mythos, dem weniger am Helden selber als an den Dingen gelegen ist, die ihn verführen und bedrohen, will den Helden und seine virtuellen Begleiter (als Du und Ich vor Leinwand und Bildschirm) eigentlich nicht mehr loslassen. Harry Potters Rückkehr in seine glanzlose Wirklichkeit darf nichts anderes als eine Atempause sein, um zurück in die Zauberwelt zu gelangen. Vielleicht sind der Held, sein Darsteller und seine „Fans“ nach den sieben Harry Potter-Filmen „erwachsen“ geworden. Vielleicht aber bleibt mehr als Ernüchterung und Erleichterung, ein vages Empfinden in der Welt der industriell produzierten Mythen, dass auch diese zweite Geburt, die mehr oder weniger imaginäre, die im Kino fundamental geträumte und an der Spielkonsole fundamental erarbeitete Heldenfahrt nicht dorthin führte, wo man hinwollte: zum wirklichen Menschen.Der Film Tron – Legacy ist die Wiederkehr des Campbell-Helden für die Kinder von Nintendo und Internet. Das selbstreferenzielle System scheint dabei regelrecht Blasen zu werfen: Es ist halb Sequel, halb Remake und eine Spur Reflexion des Films Tron (1982) von Steven Lisberger (der nun als Produzent fungiert), der als einer der ersten gilt, die die Konvergenz von Computerspiel und Kinofilm in einem Plot darzustellen verstanden. Es ging, wie bei den Autoren des Cyberpunk, darum, dass Menschen von Programmen verschluckt werden und sich, wie später in Nirwana (1997) und eXistenz (1999) oder in einem Spiel wieder finden, in dem sie um ihr Leben beziehungsweise ihre Wiedergeburt kämpfen müssen; und in Matrix dann ist die ganze Welt ein solches Simulationsspiel geworden.Der neue Tron-Film beginnt mit dem Abschied des Vaters Kevin Flynn (Jeff Bridges, der seine damalige Rolle wieder aufnimmt) vom kindlichen Helden; wie offensichtlich jeden Abend bricht er zu einer Arbeit in einem Büro hinter einem Computerspiel-Salon auf, wo er an einer großen, geheimnisvollen Erfindung arbeitet. Diesmal kehrt er nicht zurück; der Held, Sam Flynn, wächst allein auf, Bitternis und Einsamkeit im Herzen. Das große Unternehmen des Vaters hat ihn verstoßen, er rächt sich, indem er immer wieder in ihre Programme und Architekturen eindringt. Aber dass auch dieser Held eines Tages den falschen König vom Thron stürzen muss, den geldgierig-betrügerischen Manager, den wir gerade hassen lernten, ist von vornherein klar. „Encom“ heißt, verräterisch genug, die Firma.Sam Flynn wird schließlich durch eine geheimnisvolle Botschaft in das elektronische Zauberreich gelockt, in dem der Vater gefangen ist, in eine elektronische Welt, in der sich „Programme“ wie androide Einheiten bewegen, sich in unentwegten Kämpfen mit magischen „Discs“ gegenseitig auslöschen (kein Blut fließt, sondern die Wesen zerschellen in ihre Pixel). Sein Vater, der diese Welt geschaffen hat und zugleich das Wunder vollbrachte, die Perforation von Zauber- und Alltagswelt als Schleuse zu benutzen, ist entmachtet; sein böser Avatar, vom Gedanken an Perfektion verblendet, hat nicht nur ein Schreckensregiment erzeugt, sondern auch eine ganze Population neuer, wunderbarer digitaler Wesen, die durch ihre Klugheit und Güte hätten wohl die reale Gesellschaft der Post-Humanen begründen können, wenn eben nicht der böse König CLU (eine nicht alternde Ausgabe von Kevin Flynn) sie alle ausgelöscht hätte. Alle? Nein, da ist Quorra, die letzte ihrer Art, die Sam das Leben rettet und ihn zu seinem „richtigen“ Vater bringt, bei dem sie lebt, Tochter, Geliebte, Geschöpf und natürlich: „Göttin“.Unerschöpfliches SamplingWas weiter geschieht, muss nicht erzählt werden; der Mythos im Zeichen der Digitalisierung und der Campbellisierung erfüllt sich mechanisch und doch wirksam wie eh und je. Der böse, gespaltene Vater-König wird besiegt, natürlich durch das Opfer des guten Teils, dem Helden und der Göttin gelingt das Verlassen des Zauberreichs (das zur Sicherheit – bis zum Sequel – am verborgenen Eingang verschlossen wird), alle Verführungen und Ängste sind bezwungen, der Held ist in diesem virtuellen Geburtsraum noch einmal geworden und betritt die Wirklichkeit als ein anderer, nämlich als einer, der ein Unternehmen wie „Encom“ zu leiten versteht.Das Zauberreich selber ist das Ergebnis eines unerschöpflichen Sampling; da ist Star Wars und Kubricks Clockwork Orange, da ist Speed Racer und Matrix, eine „Sirene“ taucht ebenso auf wie der Tron aus dem ersten Film, der natürlich im entscheidenden Moment die Seiten wechselt, ein queerer master of ceremonies mit Namen „Zuse“, der zwischen Boy George und Bowies Ziggy Stardust changiert (und dem in dieser Konstruktion des Gender-Monomythos natürlich am wenigsten zu trauen ist). Im Gegensatz zum ersten Film erschöpft sich das Design nicht mehr so rasch, weil auch die reale Computergame-Welt nahezu grenzenlose Simulationsmöglichkeiten entwickelt hat. Daher ist die Geschichte zwar auch dem naiveren Blick vollkommen durchschaubar, aber nicht auf Anhieb langweilig.Und wo Tron – Legacy wirklich spannend wird, das ist der Ausblick auf den spielbaren Mythos. Nicht das Kollektiv, die Gesellschaft, eine Kultur versichert sich ihrer inneren Konstruktion durch das Ritual und den Mythos, sondern eine möglicherweise lebenslange harte Arbeit (mag sie als „Vergnügen“ getarnt sein) des Subjekts an dieser zweiten Geburt, die nur in einem neuen, digitalen und modular gebastelten Fantasieraum stattfinden kann, in dem symbolische Erzählung und körperliche Aktivität nicht mehr gänzlich zu unterscheiden sind. In dieser Hinsicht mag der Sog der Räumlichkeit zu sehen sein – nicht nur als Transformation vom story telling zum world building, sondern als notwendiges Instrument zu einer totalen Involvierung. Der Mythos soll nicht mehr „vor unseren Augen“ sich entfalten, er soll uns umfassen, aufsaugen und durchqueren; er will so wirklich und körperlich sein, wie nur möglich.Insofern handelt ein Film wie Tron – Legacy von nichts anderem als von der eigenen Funktion in der digital verwandelten Welt. Und anders als Matrix versucht er das nicht erst zu verschleiern. Das Märchen von Heldenfahrt, Vatertötung, Göttinnenheirat und Neugeburt kommt als elektronisches Reenactment mit kindlicher Unschuld daher. Beinahe sind wir in Versuchung, sogar das Happy End zu glauben.