Ein großer Leidender

Kulturkommentar Pädophilie-Skandal: Hartmut von Hentig spricht sich mit eloquenter Weinerlichkeit frei. Bislang hörte keiner hin

Ein Jahr ist vorbei, seit bekannt wurde, dass an der Odenwaldschule bei Heppenheim in den siebziger und achtziger Jahren Schüler von ihren Lehrern sexuell missbraucht wurden. Das reformpädagogisch orientierte Internat soll ein Hort für Pädophile gewesen sein. Besonders der damalige Schulleiter Gerold Becker hat schwere Schuld auf sich geladen, indem er Schutzbefohlene sich gefügig machte.

Im Zusammenhang mit Becker geriet auch dessen Lebensgefährte, der berühmte Pädagoge Hartmut von Hentig, in Schwierigkeiten. Denn von Hentig, blind vor Loyalität, konnte oder wollte sich nicht vorstellen, dass der feinsin­nige Becker zu solchen Taten fähig war, ja er „leugnete, verdrängte und bagatellisierte“ das Geschehene, wie es in der Presse hieß. Wenn überhaupt, äußerte er, könne allenfalls mal ein Schüler den begnadeten Pädagogen verführt haben, und riet ansonsten dazu, den Missbrauchsskandal „auszusitzen“.

Offensichtlich hatte sich der greise von Hentig verrannt und war dabei, auch die von ihm mitbegründete Reformpädagogik einschließlich der Laborschule Bielefeld in Misskredit zu bringen. Und während er sich bemühte, den totkranken Freund auf schwer erträgliche Weise zu decken, erwartete eine linksliberale Öffentlichkeit, die ihm jahrzehntelang zugejubelt hatte, klare Worte von ihrem einstigen Guru, der sich daraufhin gekränkt zurückzog.

Ein Sündenbock

Sein Schweigen hat er nun gebrochen. Nicht im Spiegel oder der Zeit, die vermutlich nichts mehr von ihm publizieren wollen, sondern ein wenig versteckt am Ende des aktuellen Hefts der Literaturzeitschrift Akzente, die im Verlag erscheint, in dem auch seine drei letzten Bücher publiziert wurden (Hanser). Dort also, unter dem arglos klingenden Titel Ist Bildung nützlich?, findet man einen Text, mit dem man sich öffentlich auseinandersetzen sollte, was die Feuilletons bislang versäumt haben. Er, von Hentig, so liest man erstaunt, dieser viel bewunderte Geist, sehe sich plötzlich in eine sich steigernde „Verleumdung hineingezogen“ und zur Flucht ins „Exil“ gezwungen. Nicht ohne Selbstge­rechtigkeit stilisiert er sich zum Opfer einer Kampagne, zum tragischen Schmerzensmann, ja er vergleicht seine Situa­tion mit der von Geschichtsheroen wie Jesus und Sokrates, die auch zu Unrecht beschuldigt und verurteilt wurden. Auch Rousseau ist für ihn so ein „Bruder im Geist“, ein jäh aus der öffent­lichen Gunst in die Verdammnis Gestürzter, aller Verdienste beraubt, ein „großer Leidender“, ein „Sündenbock“.

Hartmut von Hentig verteidigt sich elitär, mit Bildungsbesitz, er schmiegt sich förmlich in den Traditionszusammenhang, sucht nach weiteren Bundesgenossen in der Literatur und glaubt sie in seinen Lieblingshelden zu finden, in Ausgestoßenen wie Joseph Conrads Lord Jim, Dostojewskijs Fürst Myschkin, Thomas Manns Erwähltem. Von Hentig ist tief verletzt und demonstriert das mit einer gewissen eloquenten Weinerlichkeit. So lässt er die Höhepunkte der Weltpoesie zu seinen Gunsten sprechen, sie sind ihm gewissermaßen „nützlich“. Das ist nicht frei von Peinlichkeit. Denn während sich von Hentig zum Opfer anonymer Verleumder und Neider erklärt, hat er – der Musterpä­dagoge – für die wirklichen Opfer, die von Gerold Becker und anderen Lehrern missbrauchten Kinder und Jugend­lichen, weiter keinen Blick und kein Wort des Verständnisses übrig.


Akzente hat leider keine eigene Homepage. Die Zeitschrift ist im gut sortieren Buchhandel erhältlich.

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