Bei der 62. Berlinale erlebte der Wettbewerb seine Wiedergeburt. Der Siegerfilm des Wettbewerbs ist ein umstrittenes, besonders von der deutschen Kritik ungeliebtes Werk
Das Schauspiel ist vorüber, die Akteure und Zuschauer gehen heim. In „Cesare deve morire“ (Cesar must die) kehrt der Hauptdarsteller am Ende in seine Zelle zurück. Er ist ein Schwerverbrecher, der mit seinen Zellengenossen im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Rebibbia Shakespeares Königsdrama aufgeführt und für kurze Zeit noch einmal Freiheit und Leidenschaft erleben durfte. „Seit ich die Kunst kennengelernt habe“, sagt er, „ist diese Zelle für mich zum Gefängnis geworden.“ Allerdings klingt der Film nicht auf dieser melancholischen Note aus. Mit erhabener Lakonie zeigen die Brüder Taviani, wie er wieder in seinen Alltag zurückfindet: Nun wird er sich erst einmal einen Espresso kochen.
Der Film des bet
lm des betagten Regieduos ist ein umstrittener (zumal von der deutschen Kritik ungeliebter), aber erfreulicher Sieger des diesjährigen Wettbewerbs. Er erzählt, vermeintlich zwischen Fiktion und dokumentarischem Gestus schillernd, von der befreienden Kraft der Kunst. Seine Figuren nimmt er stets als Darsteller war; auch in den Szenen jenseits der Aufführung und Proben. Ihre Auseinandersetzung mit einem raffiniert schlichten, stets noch immer aktuellen Dramentext lässt diesen Film zu einer zutiefst humanistischen Apologie von Künstlichkeit und Inszenierung werden.Die eingeschränkte HandhabeDer letzte Dialogsatz legt die Spur aus zu einem Motiv, das sich durch die gesamte Hauptsektion des Festivals zog. Neben den thematischen Dauerbrennern des zeitgenössischen Festivalbetriebs – der bedrohten Kindheit, der Brüchigkeit familiärer Beziehungen – war die Erfahrung, in einem eng begrenzten Gehege zu existieren, eine Konstante des Wettbewerbsprogramms. Auf unterschiedliche Weise mussten Figuren erleben, wie ihre eigene Handhabe eingeschränkt ist: die Ärztin, die in Christian Petzolds „Barabara“ aus der DDR auswandern will; der Mönch und die Nonne, deren Liebe in „Meteora“ gegen ihr Gelübde verstößt; die Kindersoldatin in „Rebelle“ ((War Witch), der keine Wahl bleibt, als beim Töten mitzumachen; selbst die Weite der agrarischen Landschaft in der chinesischen Provinz Shaanxi erscheint in Wang Quan’ans „Bai Lu Yuan“ (White Deer Plain) als ein Terrain der Unentrinnbarkeit.In diesen abgeschlossenen Welten erstreiten die Regisseure ihren Figuren nur selten Freiräume der Poesie: etwa dem im Zoo von Jakarta ausgesetzte Kind, das in „Postcards from the Zoo“ inmitten der Fauna aufwächst und dort ein haptisches Glück findet oder der Enklave portugiesischer Plantagenbesitzer im Mozambique der ausgehenden Kolonialzeit, die Miguel Gomes in „Tabu“ mit schelmische entrückter Phantasie schildert. Nicht wenige Regisseure (darunter Matthias Glasner im deutschen Beitrag „Gnade“) ließen sich überwältigen von der Pracht der Landschaften, in die sie ihren Blick versenkten. Neben dem genauen Blick auf die verharschten sozialen Verhältnisse (namentlich in Ursula Meiers schweizerisch-französischen Beitrag „L’enfant d’en haut“, der sich aus dem Einfluss der Dardenne-Brüder nur in Nuancen löst) hatten in diesem Wettbewerb traumverlorene, widerständige Idyllen indes nur ein eingeschränktes Bleiberecht.Die 62. Berlinale wird vielleicht in die Geschichte eingehen, weil sie die Wiederentdeckung ihrer Hauptsektion bedeutete. Seit seinem Amtsantritt hat Dieter Kosslick systematisch die Strategie verfolgt, den Erfolg des Festivals von der Qualität des Wettbewerbs unabhängig werden zu lassen, hat immer neue, glamouröse und publikumswirksame Sektionen hinzuerfunden. Für die Ausdünnung des Wettbewerbs musste er besonders im letzten Jahr massive Kritik einstecken müssen. Nun hat er sich seine Bedeutung zurückerobert: auf einem generell hohen Niveau, das durch wenige Fehlgriffe (eigentlich nur den spanischen Beitrag „Dictado“) und eine kapitale Enttäuschung (Brillante Mendozas „Captive“) nicht kompromittiert wurde.Befremdlicher Hang zum GediegenenAllerdings war es ein großartiger Wettbewerb ohne wirklich herausragende Filme. Nur wenige Regisseure bewiesen ästhetischen Eigensinn. Miguel Gomes war einer der wenigen, die das Verhältnis von Bildern, Tönen und Sprache mit entschlossenem Raffinement überdachten und ungeläufige dramaturgische Bewegungen vollzogen - der Alfred-Bauer-Preis für ein Werk, das der Filmsprache neue Perspektiven eröffnet, wurde an „Tabu“ mit Augenmaß vergeben. Die Animationsszenen, die in einfallsreich das Innenleben der Charaktere offenbaren, verliehen dem griechischen Beitrag „Meteora“ eine ungekannte Dimension. Der Handkamera, die längst zum filmischen Gemeinplatz geworden ist und sonst nur behavioristische Charakterstudien erbeutet, entlockte Bence Fliegauf im ungarischen Beitrag „Csak a szel“ (Just the Wind) eine besondere atmosphärische Eindringlichkeit: Sie akzentuieren das Klima des alltäglichen Rassismus‘; der Große Preis der Jury war weit mehr als nur eine Solidaradresse an die erregbare Filmkultur Ungarns, die Gefahr läuft, von der repressiven Politik Orbans zum Verstummen gebracht zu werden. Der Regiepreis an Christian Petzold wiederum honoriert die Konsolidierung einer Regiehandschrift, die sich in strenger, umsichtiger Akribie entfaltet.Die Preisvergabe bewies ansonsten einen befremdlichen Hang zum Gediegenen, der nachträglich jene Wende revidiert, die der diesjährige Wettbewerb ankündigen könnte. Es ist unverständlich, weshalb der wohltemperierte dänische Beitrag „En kongelig Affaere“ (Der Leibarzt und die Königin) gleich zwei Bären einheimsen konnte. Wenn schon ein prunkender Kostümfilm ausgezeichnet werden musste, hätte die elegante Engführung der Perspektive in Benoit Jacquots Eröffnungsfilm „Les adieux à la Reine“ (Lebwohl, meine Königin!) viel eher den Preis für das beste Drehbuch verdient: Bevorzugte die Jury angesichts von Revolution und Umbrüchen nicht ohnehin die Außenperspektive?