Vor dem SPD-Parteitag drängen Alt-Genossen ihre Partei, mehr sozialdemokratische Forderungen zu wagen. Eine Arbeitsgemeinschaft haben die Kritiker auch schon gegründet
Normalerweise sind Wahlschlappen ein fruchtbarer Humus für innerparteiliche Auseinandersetzungen – auch bei den Sozialdemokraten. Nach dem EU-Debakel geht die SPD-Linke dem offenen Streit mit ihrem Vorsitzenden Franz Müntefering und dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier aber lieber aus dem Weg. Bei einem Treffen am Dienstagabend sollen sich maßgebliche Vertreter des Flügels, darunter Andrea Nahles und Ralf Stegner, auf Zurückhaltung festgelegt haben. Linken-Sprecher Björn Böhning wird mit den Worten zitiert: „Wir wollen keine Konflikte.“ Unmut kocht eher im Verborgenen. Im Südwesten wird zumindest hinter verschlossenen Türen über ein kritisches Positionspapier debattiert.
Öffentlich aber herrscht weitgehend Ruh
über ein kritisches Positionspapier debattiert.Öffentlich aber herrscht weitgehend Ruhe vor dem Wahlparteitag am Sonntag. Die sich aufdrängende Frage, ob nach der Niederlage bei der Europawahl eine Kurskorrektur nach links wenn schon nicht zwingend so doch diskussionswürdig wäre, wird nicht offensiv gestellt. Die Schwäche der SPD-Linken, die personelle Alternativlosigkeit, das politische Umfeld kurz vor einem wichtigen Urnengang und nicht zuletzt die unbeantwortete Frage, was man eigentlich anders machen würde – es sind dies wahrlich keine guten Voraussetzungen für eine Rebellion.SPD-Obere fühlen sich provoziertEs gibt sie aber doch: In Niedersachsen haben linke Sozialdemokraten ein erstes Signal gesetzt – und prompt die Parteioberen verärgert. Die zu Wochenbeginn gegründete „Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten in der SPD“ ist für Landeschef Wolfgang Jüttner „eine Anmaßung, eine gezielte Provokation“. Die Reaktion fiel wohl auch deshalb so harsch aus, weil in der AG mit dem früheren Verdi-Landesvorsitzenden Wolfgang Denia ein SPD-Mann dabei ist, den Jüttner bei der Landtagswahl 2008 noch als designierten Arbeitsminister in sein Schattenkabinett geholt hatte. Nun führt ausgerechnet er eine Riege von Kritikern an, die die Zukunft der Sozialdemokratie in ihrer Vergangenheit sucht. In der Zeit vor Schröder, Agenda und Neuer Mitte.Schon seit ein paar Wochen machen E-Mails und Erklärungen im Internet die Runde, von mehreren Hundert Mitstreitern ist bereits die Rede. Auffällig ist, wie viele namhafte Genossen darunter sind, die inzwischen keine Ämter mehr in der Partei bekleiden. Zum Kreis gehören der Sozialexperte Rudolf Dreßler, der Ex-ÖTV-Landeschef Horst Fricke, die einstigen niedersächsischen Sozialminister Wolf Weber und Walter Hiller, Albrecht Müller und Wolfgang Lieb und andere. Es ist auch so etwas wie der Aufstand der Altvorderen. Und wenn Jüttner sich über deren „Altersradikalität“ lustig macht, verkennt er womöglich die Sprengkraft der Truppe.Von den Seeheimern zur SPD-LinkenSogar der ehemalige Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg ist bei der AG mit an Bord. An ihm lässt sich vielleicht am besten nachvollziehen, wovon die Arbeitsgemeinschaft Ausdruck ist. Ehrenberg ist nämlich keineswegs ein „klassischer“ Parteilinker – im Gegenteil: Der Lohnexperte gehörte einst zu den Mitgründern des Seeheimer Kreises und damit zum rechten Flügel der SPD. Sein Engagement bei der linken AG begründete Ehrenberg damit, dass die Partei immer weiter nach rechts gerückt, er aber bei seinen Positionen geblieben sei – weshalb er nun links im sozialdemokratischen Koordinatensystem angekommen ist.In den kommenden Wochen will sich die Arbeitsgemeinschaft in weiteren Bundesländern konstituieren. „Der Aufbau geht voran!“, heißt es auf der Website der AG, in Hessen fand in dieser Woche bereits ein Treffen statt, Ende Juni soll es in Nordrhein-Westfalen weitergehen. Aber warum ausgerechnet jetzt? Warum gehen die Kritiker nicht gleich den Weg von Oskar Lafontaine? Auch wenn der Vergleich mit dem Entstehen jener beiden Initiativen naheliegt, aus der später die WASG hervorgegangen ist, führt er wohl in die Irre: Denia und seine Mitstreitern wollen auf jeden Fall in der SPD bleiben. „Wir haben es nicht auf Spaltung abgesehen, sondern im Gegenteil darauf, die Partei zu ihren sozialpolitischen Wurzeln zurückzuführen und damit für ihre frühere Anhängerschaft wieder wählbar zu machen.“ Das ist auch eine strategische Frage. „Mit einer noch schwächeren SPD und einer womöglich leicht stärkeren Linkspartei gibt es keinen Regierungs- und Politikwechsel“, hat Denia schon vor ein paar Wochen in einem Zeitungsinterview erklärt."Eigentlich die Schnauze voll"Die Idee, eine „Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten in der SPD“ zu gründen, ist nicht ganz neu. Schon im Herbst 2006 hatten sich Braunschweiger Jusos auf einer Unterbezirkskonferenz dafür ausgesprochen – man wollte auf diese Weise „das soziale Profil der SPD“ stärken und jene Menschen wieder für Sozialdemokraten erreichbar machen, „die die Regierungspolitik der SPD nicht mehr anspricht“. Daran hat sich auch bei der Initiative von Denia und anderen nichts geändert. Am Anfang habe eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen über die Art und Weise gestanden, mit der SPD „eine Politik gegen die Mehrheit der Menschen“ durchgesetzt habe. „Die meisten hatten eigentlich die Schnauze voll, doch wer verlässt schon eine Partei, für die er Jahrzehnte gekämpft und an der er nur allzu oft gelitten hat“, schreiben Denia und seine Mitstreiter in einem der ersten Papiere der Arbeitsgemeinschaft. Die Idee zu deren Gründung sei dann aus einem eher selbstironischen Vorschlag entstanden – inzwischen aber ist es den linken Sozialdemokraten aber durchaus ernst mit ihrem Projekt.Noch am Abend der Europawahlschlappe kritisierte Denia die Reaktionen der SPD-Spitze. „Müntefering und Steinmeier machen es sich zu einfach, wenn sie die Ursachen dafür der geringen Wahlbeteiligung“ zuordnen – der wahre Grund für das Debakel liege in der jüngeren Geschichte der Sozialdemokratie. Das starre Festhalten an der Agenda-2010-Politik und der Glaubwürdigkeitsverlust seit der Schröder-Ära hätten zu dem schlechtesten Ergebnis bei einer Europawahl seit jeher geführt. Darin, dass es SPD-Chef Franz Müntefering noch am Wahlabend „als besonders positiv“ vermerkte, „dass man die Linke auf Abstand gehalten habe“, sieht Denia schließlich einen Ausdruck für die „strategische Falle“, in die sich die Sozialdemokraten manövriert haben. „Als ob wir“, sagt der Ex-Gewerkschafter, „keine anderen Sorgen hätten.“Kurz vor dem Wahlparteitag der SPD am Sonntag hat die neue Arbeitsgemeinschaft ihre Forderung nach einem Kurswechsel noch einmal unterstrichen. Die „Flut von Änderungsanträgen“ zum Wahlentwurf zeigt nach Ansicht von AG-Mitgründer Michael Buckup, „dass sich viele nicht mehr mit einem Programm abfinden wollen, das weit von unseren Grundsatzprogrammen entfernt ist“. Die Arbeitsgemeinschaft wird versuchen, auf dem Parteitag am Sonntag in Berlin „die kritischen Delegierten“ zu unterstützen. Mit einem Papier, dessen Überschrift an einen Satz des Übervaters der Sozialdemokraten, an Willy Brandt erinnert: „Mehr sozialdemokratische Forderungen wagen“. Den Mut werden Steinmeier und Müntefering nicht aufbringen.