"Der 'deutsche Michel' existiert nur in völkischen Hirnen"

Dokumentation In einem Brief an den Herausgeber der "Weltbühne", Siegfried Jacobsohn, stellte der Bankier und Politiker Richard Witting sein Verständnis der deutschen Geschichte dar

Kissingen, 12. April 1922

Mein verehrter Herr Jacobsohn!

Die Weltbühne, Sie wissen es, ist mir so häufig eine Herzensfreude, daß ich nicht jedem einzelnen Wochenschluß mit besonderm Applaus zu unterstreichen brauche. Diesmal aber (in der Nummer vom 6. April) hat der Aufsatz von Otto Flake1 meinen besondern Enthusiasmus hervorgerufen. Bravo, bravissimo! Das ist ja leider Gottes Alles, Alles richtig; oft genug haben wir in gleicher Himmelsrichtung hinausgestöhnt.

Ich habe schon während des Krieges Otto Flake oft mit wehmütiger Freude gelesen; — nur schien er mir damals zuweilen hinsichtlich unsres Volkes zu optimistisch. Jetzt scheint er ziemlich gründlich informiert zu sein; es sind Schopenhauer-Nietzsche-Töne, die er anschlägt, und die auch schon Winckelmann und Hölderlin, Heine und Börne, Herwegh und Freiligrath gesungen haben — um vom Herder, Goethe und Bismarck zu schweigen, die alle dieses eigenartige, von allen Völkern des Erdballs verschiedene Volk ganz richtig beurteilt haben.

Nur in zwei Punkten weiche ich von Flake ab:

1. Fichte. Er war, nächst Luther, das allerschwerste Unglück dieser so schwer gestraften Nation. Seine Reden: ein leerer, wüster, halb oder dreiviertel psychopathischer Quatsch, den leider nur ganz Wenige gelesen haben. Fichte war freilich nicht auch noch persönlich feige, wie die meisten unsrer „nationalen“ Giganten, aber er wurde die Hauptquelle dieses kindisch-wahnwitzigen Größenwahns, der in dem kleinen, in vielen Dingen höchst kläglichen Deutschland den Nabel der Welt sah. Fichte war tapfer und gut in Jena; er wurde — wie so ziemlich ausnahmslos Alle — widerlich in der Jauchen-Atmosphäre der berliner Universität. Dort „befruchtete“ er, zusammen mit dem herzig lieben Hegel, Alle: Ranke und Droysen und Sybel und — Treitschke, bis herunter zu Lenz und Meinecke. Grade die vielgerühmte „spekulative“ Philosophie, einschließlich Kants „praktische Vernunft“, hat uns mit dahin geführt, wo wir sind.

Also: Nieder mit dem Fichte der Reden an die deutsche Nation, mit dem berliner Fichte. Es ist das Selbe wie mit dem Luther nach 1525; nach Worms (was aber auch schon nur so, so war).

2. Flake sagt treffend: Die Nation ist korrupt, ist verdummt, hat kein Verhältnis zum Moralischen. Ausgezeichnet! Aber er nennt die Deutschen auch „schwerfällig“. Das sind sie, glaube ich, in ihren entscheidenden Schichten: Intelligenz (?) und Bourgeoisie durchaus nicht. Der „deutsche Michel“ existiert nur in völkischen Hirnen. „Doof, aber gerissen“ hat meine Tochter Sybille schon vor Jahren gesagt. Die Massen sind zwar intellektuell dümmer, dafür aber technisch besser als andre Völker und ethisch ihnen etwa gleichwertig.

Aber diese Ausstände und Abweichungen ändern nichts am Gesamteindruck. Was Flake über den Nationalismus sagt, der in Deutschland von den Deutschnationalen bis zu den Unabhängigen reicht, was er über Aktivität der Moral und über Haß spricht, ist famos.

Nur täuschen wir uns nicht: es ist eine ganz verschwindende Zahl von Menschen in Deutschland, die so denken. Und es war eigentlich immer so. Immer war ein Tiefstand; die ganze deutsche Geschichte — etwa mit Ausnahme der Sachsenkaiser, Friedrichs II. von Preußen, allenfalls ein oder zwei Hohenstaufen — war erbärmlich und tief verächtlich. Und Weimar? Eine wunderschöne Episode und so „undeutsch“, wie etwa Bismarck in seinem Innersten — als Rebell, Skeptiker, Wissensdurstiger — eine undeutsche Episode war.

Ich meine: alle Kraft, aber auch alle, müßte darauf verwendet werden, die Deutschen zur Selbstkritik, zur Bescheidenheit, zur Wahrheitsliebe — welche schmierige Verlogenheit hierzulande! — zu erziehen. Wenn die Lausejungen, die — als Kassuben, Wenden, Pollacken, Juden und Germanengemisch — sich „völkisch“ aufspielen, belehrt werden könnten, daß fast Alles, was sie über Deutschland gelernt haben und produzieren, Schwindel ist — dann blinkte vielleicht mal wieder ein Sternlein.

Wir Alten (das heißt: ich) werden ihn nicht mehr blinken sehen.

Schöne Grüße der Ihrige

R. Witting


1 Otto Flake: „Deutsche Reden I“, in: Die Weltbühne, 6. April 1922. Wieder in: Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur Weltbühne. Hg. von Friedhelm Greis und Stefanie Oswalt, Berlin 2008, S. 136—139

Das Original erschien in: Die Weltbühne, 3. Januar 1924, S. 17f.

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