Stellen Sie sich eine Szene an Bord der Präsidentenmaschine Air Force One vor. Sie steht auf der Rollbahn des Kopenhagener Flughafens. Der Präsident ist erschöpft. Er ist die ganze Nacht hindurch über den Atlantik geflogen, um Chicagos Bewerbung für die Olympischen Spiele 2016 zu unterstützen. Er ist enttäuscht, dass seine Bemühungen zugunsten seiner Wahlheimatstadt vergebens waren. Rio de Janeiro bekam den Zuschlag, Michelle ist nicht gerade begeistert.
Dem abgespannten Obama steht ein langer Rückflug bevor. Und er weiß, er wird in ein Weißes Haus zurückkehren, das sich im Belagerungszustand befindet. Gesundheitsreform, Wirtschaftskrise, steigende Arbeitslosigkeit und eine ganze Reihe weiterer verzwickter Themen verhageln ihm sein
n ihm seine erste Amtszeit, die doch so verheißungsvoll begann. Das Letzte, worüber Obama jetzt reden will, ist der Krieg, den Amerika gerade in Afghanistan verliert. Da klopft es an der Tür und draußen steht Stanley McChrystal, der Oberkommandierende der US- und NATO-Truppen am Hindukusch. Der General ist von London nach Kopenhagen geflogen und die Gangway zur Präsidentenmaschine hochgeklettert, um seinen Oberbefehlshaber noch einmal nachdrücklich daran zu erinnern, dass er 40.000 weitere Soldaten braucht. Sonst ließe sich ein strategisches Desaster kaum noch abwenden. Die Überlegungen der Berater im Weißen Haus sind da wesentlich politischer. Sie wissen, dass ihr Chef die prekäre Lage in Afghanistan schnell in den Griff kriegen muss, und die Zeit nicht gerade für ihn arbeitet. Der Präsident überlegt genau Obama und McChrystal kauen also 25 Minuten lang verschiedene Szenarien durch, wie sie dies schon zwei Tage zuvor in einer Telekonferenz getan haben und wie sie es bei weiteren Treffen mit führenden Sicherheitsexperten in den nächsten Wochen noch öfter tun werden. Diese Konferenzen werden über die Zukunft des NATO-Einsatzes und möglicherweise über das Schicksal der mit Betrugsvorwürfen überhäuften Regierung Karsai entscheiden.Während er zu Beginn des Jahres sehr überstürzt eine Truppenaufstockung in Afghanistan befahl, überlegt der Präsident nun sehr genau. Von allen Seiten prasseln gute Ratschläge auf ihn ein. Die entscheidende Frage lautet: Wird er die Reißleine ziehen und den Einsatz seiner Truppen zurückfahren? Wird er sich aus dem Staub machen, wie republikanische Hardliner es deuten würden? Oder wird er McChrystals Rat folgen, den Einsatz ausweiten und damit ein zweites Vietnam riskieren, wie panische Demokraten befürchten?Die Breitseite, die der entlassene UN-Diplomat Peter Galbraith vor wenigen Tagen gegen die UNo abfeuerte, indem er der Weltorganisation Komplizenschaft beim Wahlbetrug vorwarf, dürften Obamas Überlegungen nicht unbeeinflusst und ihn zu einer Variation der Variante Truppenreduzierung tendieren lassen. Karsais Manipulationen hätten den Taliban zu ihren „größten strategischen Sieg in acht Jahren“ verholfen – der US-Präsident brauche „einen legitimen afghanischen Partner“, damit eine neue Strategie funktionieren könne, so Galbraith.Am 3. Oktober fielen acht weitere amerikanische Soldaten im bisher blutigsten Jahr des Afghanistan-Krieges. Umfragen belegen ein schwindendes Verständnis der Bevölkerung (nur 26 Prozent sind der Ansicht, man sollte weitere Truppen in Marsch setzen). Auch deutet jedes Fazit zu den Kosten des Krieges auf den Zwang zum Rückzug. Zusammen mit der Weigerung der meisten NATO-Partner, mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken, und der ambivalenten Haltung selbst des ultraloyalen Großbritannien senden sie dem Präsidenten eine eindeutige Botschaft: Du kämpfst einen Krieg, der nicht zu gewinnen ist! Ob Obama springt? Immer mehr Kommentatoren von rechts wie von links raten Obama, auf eine Politik des Containments umzuschwenken und Spezialkräfte, Air Force und Finanzen allein für die Bekämpfung von al-Qaida einzusetzen. „Vergiss das Nation-Building“, sagen sie. „Versuch nicht, die Taliban zu vernichten, das kannst du nicht! Einem afghanischen Staat kannst du besser auf die Sprünge helfen, wenn du der afghanischen Polizei, dem Militär und dem politischen Personal hilfst, allein zu handeln. Zieh deine Lehre aus den Erfahrungen der Briten und Sowjets und wach auf, bevor es zu spät ist!“ Nicht nur Kommentatoren raten ihm das, auch Vizepräsident Joe Biden und die Demokraten im Kongress drängen den Präsidenten mit Nachdruck zu einer solchen Kurs-Korrektur.Ob Obama springen wird, ist nicht ausgemacht. Vielleicht entscheidet er sich auch für einen Mittelweg, der niemanden überzeugt. Fest steht nur, eine richtungsweisende Entscheidung ist unvermeidlich. Um daran keinen Zweifel zu lassen, zog Frank Rich in der New York Times eine Parallele zur Amtszeit eines Vorgängers. Alle seine Militärberater und das Pentagon hätten Anfang der sechziger Jahre John F. Kennedy geraten, in Vietnam zu expandieren. „Die Militärs machten Stimmung für ihre neuen Pläne, indem sie Informationen an die Presse durchsickern liefen. Kennedy wehrte sich, indem auch er Informationen lancierte, die seine Vorbehalte wiedergaben, ob es mit weiteren US-Truppen gelingen werde, in Südvietnam aus einer Strategie zur Aufstandsbekämpfung in einen Krieg überzugehen, der sich gewinnen lasse. Genau diese Skrupel hat Obama auch.Obwohl Kennedy im Weißen Haus mit seiner Meinung in der Minderheit war und obwohl er Vietnam einmal „den Vorposten der freien Welt in Südostasien“ genannt hatte, lehnte er es schließlich ab, mehr Soldaten nach Indochina zu schicken. Stattdessen reduzierte er Amerikas Engagement auf den Einsatz von Militärberatern. Diese schon 1961 beschlossene Politik wurde nach seinem Tod fataler Weise revidiert“, so Frank Rich.Vielleicht wiederholt sich die Geschichte. Für den übermüdeten und überforderten Obama jedenfalls sieht es so aus, als würde Afghanistan ihm sein Kennedy-Erlebnis bescheren.Übersetzung: Holger Hutt