Seine Bücher verkaufen sich zu Hunderttausenden, Studenten in Europa umringen ihn wie einen Popstar. Die US-Öffentlichkeit dagegen ist bemüht, Noam Chomsky auszublenden
Man könnte sagen, dass Noam Chomsky fast so etwas ist wie ein intellektueller Superstar – ein Sprachphilosoph und Politaktivist mit einem überragenden wissenschaftlichen Ruf. Er hat die moderne Linguistik mitbegründet, ist bei Präsidenten zu Gast, spricht vor der UN-Vollversammlung und seine Worte werden von unzähligen Menschen auf der ganzen Welt begierig aufgenommen. Als er Ende vergangenen Jahres in London war, schlugen sich tausende junger Leute um Karten für seine Vorlesungen. Auf der ganzen Welt verfolgten Menschen via Internet die Ausführungen des 80-jährigen.
Das Gros der westlichen Mainstream-Medien scheint davon allerdings nichts mitbekommen zu haben. Seine Bücher verkaufen sich zu Hunderttausenden, Studenten umringen ihn wie eine
n wie einen Popstar, aber in den USA findet sich beispielsweise außerhalb der dezidiert linken Medien und Websites kaum ein Interview oder ein Bericht über ihn. Die Erklärung dafür liegt allerdings auf der Hand. Chomsky ist der prominenteste Kritiker der USA, und das seit dem Vietnam-Krieg.Kaum Hoffnung für ObamaGenau wie der britische Philosoph Bertrand Russel, der sich bis zu seinem Tod gegen die vom Westen unterstützten Kriege ausgesprochen hatte, so hat auch Chomsky sein wissenschaftliches Renommee dazu genutzt, die Unmenschlichkeiten anzuprangern, derer sich sein Land im Ausland schuldig gemacht hat. Es überrascht nicht, dass er wegen seines Engagements oft angefeindet oder häufiger noch einfach ignoriert wurde. Es selbst ist wohl das beste Beispiel für den Prozess, den er in seinem Buch Manufacturing Consent (1990) beschrieben hat: Wie nämlich abweichende Ansichten in den westlichen Medien einfach gefiltert werden.Wir treffen uns in einer Pause zwischen seinen vielen Vorlesungen und Seminaren, einem Programm, das schon für jemanden, der nur halb so alt ist wie Chomsky, eine echte Herausforderung wäre. Auf dem Podium ist Chomsky nüchtern und zurückhaltend, wenn er, ohne Luft zu holen, von einer Region und einem historischen Konflikt zum nächsten wechselt und seine Ausführungen stets mit einer Unmenge von Quellen und Zitaten belegt. In Diskussionen hingegen ist er oft warmherzig und engagiert. Nur seine leichte Schwerhörigkeit behindert ihn manchmal. Erst seit einigen Monaten geht Chomsky wieder auf Reisen. Zuvor hatte er sich drei Jahre lang um seine Frau Carol gekümmert, die vergangenen Dezember an Krebs gestorben ist. Die beiden waren fast sechs Jahrzehnte verheiratet. Diese Zeit, in der er mit den Ungerechtigkeiten und horrenden Kosten des amerikanischen Gesundheitssystems direkt konfrontiert war, hat ihn wütend gemacht. Die Notaufnahmen öffentlicher Krankenhäuser nennt er „unzivilisiert“, eine Gesundheitsversorgung gebe es dort nicht. Die gleichen Unternehmensinteressen, die die amerikanische Außenpolitik bestimmten, würden auch den sozialen Reformen im Inneren enge Grenzen setzen.Von Barack Obamas geplanter Gesundheitsreform hält Chomsky dann auch nichts. Die Entwürfe „liegen rechts von dem, was die Öffentlichkeit will, die sich zu zwei Dritteln für eine gesetzliche Krankenversicherung ausspricht“, sagt er. „Die New York Times aber spricht davon, die public option habe keine politische Unterstützung und meint damit, keine Unterstützung seitens der privaten Versicherer und Pharmakonzerne.“Für Chomsky gehört dieser Widerspruch jedoch zur amerikanischen Geschichte. Schon als die Republik gegründet wurde, vertrat James Madison, Mitautor der Verfassung und später Präsident, die Ansicht, der neue Staat müsse „die Minderheit der Wohlhabenden gegen die Mehrheit verteidigen“. Daran habe sich seitdem wenig geändert, sagt Chomsky. Die Macht habe nur neue Formen angenommen.Trotzdem unterstützte er Obamas Wahlkampf in den wahlentscheidenden swing states. Von dessen Präsidentschaft verspricht er sich aber wenig mehr als eine „Verschiebung zurück zur Mitte“. In der Außenpolitik stellt er eine bemerkenswerte Kontinuität zu der zweiten Amtszeit seines Vorgängers George W. Bush fest. „Die erste Bush-Regierung war weit außerhalb des Spektrums. Amerikas Ansehen sank auf ein historisches Tief. Den Leuten, die im Land das Sagen haben, gefiel das nicht.“ Aber es überrascht ihn, dass im Ausland, vor allem in den Entwicklungsländern, so viele Menschen darüber enttäuscht sind wie wenig Obama verändert hat. „Seine Wahlkampfrhetorik – hope und change – war völlig inhaltsleer. Es gab keine grundsätzliche Kritik am Krieg gegen den Irak. Er bezeichnete ihn lediglich als strategischen Fehler. Auch Condoleeza Rice war eine Schwarze – machte sie das etwa besonders empfänglich für die Probleme der Entwicklungsländer?“Widerspruch von allen SeitenChomskys Kritik an der US-Außenpolitik richtet sich auch gegen den Konflikt, den Obama für zentral erachtet. Die amerikanische Invasion in Afghanistan sieht er als „einen der unmoralischsten Akte der modernen Geschichte“, der die dschihadistische Bewegung um al Qaida vereint und das Ausmaß des Terrorismus enorm vergrößert habe. Das Ganze sei „zutiefst irrational“ solange man davon ausgehe, es gehe dabei primär um die Sicherheit der Bevölkerung. Dies bezweifelt Chomsky freilich. „Staaten handeln nicht moralisch“, sagt er. Jetzt, wo Obama beschlossen habe, den Krieg auszuweiten, sei noch deutlicher geworden, dass es beim Thema Afghanistan um die Glaubwürdigkeit des Weltmachtanspruchs der USA gehe.Dieses Thema kehrt in Chomskys Überlegungen zur Weltmachtrolle der USA immer wieder. Seit in den frühen 1940ern zum ersten Mal der Plan für eine globale imperiale Gesamtstrategie formuliert wurde, sind die Regierungen nach Ansicht Chomskys eine nach der anderen dem „Prinzip des Paten“ gefolgt, das sie „direkt von der Mafia“ übernommen hätten. Dieses Prinzip folgt dem Grundsatz, dass keine Form offenen Ungehorsams hingenommen werden dürfe. „Dies ist ein herausragendes Merkmal staatlicher Politik.“ Damit das Beispiel nicht Schule mache, müsse „erfolgreicher Ungehorsam“ bestraft werden, selbst wenn dies Geschäftsinteressen beschädige, wie im Falle der Wirtschaftsblockade gegen Kuba.Für seine Positionen wird Chomsky machmal auch von der Linken kritisiert. Ihm wird dann regelmäßig vorgeworfen, er beförderte Passivität und Pessimismus, weil er die erdrückende Übermacht der USA so stark hervorhebe. Umut gibt es auch immer wieder darüber, dass Chomsky nicht mit Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen zusammenarbeiten will. Nun, sicher ist jedenfalls, dass er seinen eigenen Kopf hat und dass er auch einige recht sonderbare Ansichten vertritt. Für Chomsky ist beispielsweise der Vietnam-Krieg trotz des erniedrigenden Rückzuges 1975 ein strategischer Sieg der USA in Südostasien. Auch dass er die Redefreiheit selbst für Holocaust-Leugner verteidigt, hat ihn angreifbar gemacht. Chomsky selbst beschreibt sich als Anarchisten oder libertären Sozialisten. Oft hört er sich allerdings eher an wie ein Radikalliberaler. Und dieser Umstand erklärt vielleicht auch, warum er für gemäßigte Liberale oft als Reizfigur wahrgenommen wird: Sie schätzen es nicht, wenn jemand die von ihnen vertretenen Ansichten konsequent zuende denkt.Was aber ist mit dem Vorwurf, er sei ein „Anti-Amerikaner“, der nur die Verbrechen seiner eigenen Regierung sehen könne und die der anderen ignoriere? „Anti-Amerikanismus ist ein rein totalitäres Konzept“, kontert er. „Allein die Vorstellung ist schon idiotisch. Selbstverständlich leugnet man die Verbrechen anderer nicht, aber die vorrangige moralische Verantwortung trägt man für sein eigenes Handeln, denn darauf kann man Einfluss nehmen. Es ist im Grunde der gleiche Vorwurf, der in der Bibel dem gottlosen König Ahab gemacht wurde, als er von dem Propheten Elija wissen wollte: Warum hasst Du Israel? Ahab hat sich selbst für die Inkarnation der Gesellschaft gehalten und Kritik am Staat mit Kritik an der Gesellschaft verwechselt.“Das ist eine treffende Analogie. Und auch wenn Chomsky ein bescheidener Mensch ist, der sich über derartige Vergleiche fürchterlich aufregen würde: In der biblischen Tradition gibt es stets den Konflikt zwischen Königen und Propheten. Und es kann keinen Zweifel daran geben, für welche Seite Noam Chomsky steht.Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt