Was kann 20 Jahren deutscher Einheit in der Rückschau Besseres passieren als ein gnädiges Gedächtnis? Man wird damit in den Wochen bis zum 3. Oktober noch des öfteren zu tun haben. Erfahren lässt es sich jetzt schon. So bei Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der zu Wochenbeginn in einem Interview anmerkte, es sei vielleicht nicht die glücklichste Entscheidung gewesen, den Osten umgehend unter westdeutsche Gesetzeshoheit zu stellen. Und das flächendeckend. Es sei damit „eine Modernisierungschance für ganz Deutschland“ verschenkt worden.
Hätte es anders laufen können? Oder müssen? Immerhin fusionierten zwei Staaten und heraus kommen sollte doch eigentlich ein dritter, neuer, anderer. Und keine vergrößerte Kopie des einen. Nur, was war sonst zu erwarten bei einem Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetz, bei dem sich die DDR vor ihrem Abgang vom Status eines souveränen Staates verabschiedete? Schon vor der überfallartig einberufenen Volkskammer-Sitzung von 23. August, in der über den Beitritt entschieden wurde, fand sich der Verfassungsentwurf des Runden Tisches vom Herbst 89 als Entsorgungsfall behandelt. Beachtenswert schon, diskussionswürdig auch, aber irrelevant. Die Herbstrevolutionäre hatten sich damit viele Mühe gegeben und eine „Modernisierungschance“ für Gesamtdeutschland im Blick. Allerdings keine Kleinigkeit übersehen – es herrschte Wendezeit, aber ohne Zeitenwende. Es begegneten sich bei dieser Fusion weniger zwei Staaten als zwei Systeme – ein triumphierendes und ein gescheitertes. Seit dem 18. März 1990 war die DDR als sozialistischer Staat abgewählt und ihr Gebiet eher ein Biotop von Staatenlosen, die um Asyl einkamen. Um die Bewilligung zu beschleunigen, beschlossen 294 Volkskammer-Abgeordnete von CDU/Demokratischem Aufbruch, DSU, SPD und F.D.P. in der Nacht vom 23. zum 24. August 1990, dass dieses Land, unter deren Hoheitszeichen Hammer-Zirkel-Ährenkranz man in diesem Parlament schon nicht mehr tagen wollte, am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik Deutschland beizutreten habe. Sie taten es, bevor der Einigungsvertrag vollständig ausgehandelt war.
Als nach diesem Votum Gregor Gysi zu einer persönlichen Erklärung am Rednerpult stand und sagte: "Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen", ging dieser Satz in Gejohle und den Bravo-Rufen vieler Abgeordneter unter, während andere schweigend verharrten. Diese Stimmung schien nicht übermäßig zukunftweisend, mehr vorzeitlich, geschichtsentlehnt. Doch empfand es die Mehrheit der am 18. März gewählten Abgeordneten des letzten DDR-Parlaments offenbar als ihren Auftrag, die DDR so und nicht anders zu verabschieden. Die DDR war damit erledigt, ihr Nachlass freilich nicht. Der hatte im damaligen Premier Lothar de Maizière einen Anwalt, der noch in seiner Regierungserklärung am 20. April davon gesprochen hatte, die Einheit müsse „so schnell wie möglich“ kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssten „so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig“ ausgehandelt werden.
Spätestens seit dem Vertrag über die Währungsunion vom Mai 1909 musste sein Kabinett jedoch erleben, dass statt des geordneten Übergangs nur eine beschleunigte Übergabe blieb. Wie sollte es anders sein? Der DDR war nicht irgendein Sündenfall der Geschichte. Schon gar nicht der größte, aber eben der, bei dem Leute die Dreistigkeit besaßen, es einmal ganz anders zu machen und den Verheerungen eines Eigentums abzuschwören, das dazu führt, andere zu beherrschen, zu deklassieren, zu demütigen, zu vernichten.
Wie wir heute wissen, war es im Sommer 1990 damit vorbei. „Und sie führen die Gesetze von ganz früher wieder ein. Stahlen auch mit langen Fingern Land und Häuser, Vieh und Brei. Und ein Heer von Peitschenschwingern brachte uns Gehorsam bei“, reimte Peter Hacks. Nach heutigen ökonomischen Begriffen gab es so etwas wie eine feindliche Übernahme. Ein Vorgang auf der Höhe der Zeit oder der Zeit sogar voraus. Thomas de Maizière muss also nicht übertreiben mit seiner Selbstkritik.
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