Der britische Premierminister erteilt dem staatlichen Multikulturalismus eine Absage und greift die muslimischen Gemeinschaften scharf an. Was er damit bezweckt?
In einigen Teilen Großbritanniens befinden sich die Muslime quasi im Belagerungszustand. Nicht selten werden sie auf der Straße bespuckt oder angegriffen. Es kam zuletzt zu Anschlägen auf Moscheen in den Städten Hemel Hempstead, Leicester, Scunthorpe, Stoke und Kingston, zur Schändung eines muslimischen Friedhofes – es kam zu einem Brandanschlag auf eine Halal-Metzgerei.
Die britischen Medien haben von diesen Ausschreitungen kaum Notiz genommen – ein symbolischer Besuch des britischen Premiers blieb erst recht aus. Wie andernorts in Europa haben extrem rechte Organisationen wie die British National Party (BNP) den Fokus ihres Hasses von Juden und Einwanderern im Allgemeinen auf die Muslime gerichtet. Angaben der Polizeiprüfbehörde Inspectorate
Übersetzung: Zilla Hofman
6;rde Inspectorate of Constabulary zufolge wurden über die Hälfte der „signifikanten Demonstrationen“ innerhalb der zurückliegenden 18 Monate von der English Defence League (EDL) ausgerufen. Deren Programm richtet sich ausschließlich gegen Muslime. Ihre Anhänger zertrümmern in von Muslimen bevölkerten Stadtvierteln Ladenfenster und beleidigen Passanten, wann immer es ihnen gelingt, die Reihen der Polizei zu durchbrechen. Wie Sayeeda Warsi, die Vorsitzende der britischen Konservativen, im Januar sagte, hat die Islamophobie „die Schwelle dessen überquert, was in der Mittelschicht als repektabel gilt“, eine Äußerung, wegen der man sogleich über sie herfiel.Grotesker VergleichNutzte der Premier also einen Marsch, den die EDL am vergangenen Wochenende in Luton veranstaltete, als Gelegenheit, die rassistisch aufgeladene Provokation einer Bande Islamhetzer zu verdammen und seine Solidarität mit einer Bedrohung ausgesetzten britischen Mitbürgern zu zeigen? Keineswegs. Cameron erwähnte die Ereignisse in Luton noch nicht einmal, als er am selben Tag ausgerechnet in München auf der Sicherheitskonferenz gegen „Islamisten“, „staatlichen Multikulturalismus“ und „nicht gewalttätige Extremisten“ innerhalb der muslimischen Gemeinschaft wetterte. Die Muslime müssten „britische“ Werte wie Freiheit, Demokratie und gleiche Rechte annehmen, erklärte Cameron, als ob die große Mehrheit dies nicht bereits getan hätte. Terrorangriffe von Dschihadisten würden nicht durch von Großbritannien und den USA in der muslimischen Welt geführte Kriege motiviert, erklärte er – Berichten des eigenen Geheimdienstes zum Trotz –, sondern durch eine „extremistische Ideologie“, die in Identitätsproblemen wurzele. Nach einem grotesken Vergleich nicht gewalttätiger Islamisten mit „rechten Faschisten“ kündigte Cameron eine strenge Kontrollliste muslimischer Vereinigungen (darunter auch die Dachvereinigung der britischen Muslime) an, welche die Regierung nicht durch Zusammenarbeit oder Geldmittel unterstützen werde. Zwar fand er auch kritische Worte gegen die Islamophobie, es handelte sich dabei freilich um nicht mehr als einen beiläufigen Kommentar, der in der lautstarken Ächtung von Muslimen und ihren Organisationen vollkommen unterging.Sieg der NeokonservativenEs überrascht nicht weiter, dass die Rede von Rechtsaußen begeistert aufgenommen wurde. BNP-Führer Nick Griffin nannte sie „einen riesigen Schritt unserer Ideen in den politischen Mainstream“. EDL-Aktivisten, bei denen der Diskurs des Politik- und Medienestablishments über den „Islam“ und „Extremismus“ stets Widerhall findet, jubelten, Cameron „denkt endlich wie wir“.Darüber hinaus stellt die Rede einen gefährlichen Sieg für den neokonservativen Teil der Toryführung dar, dem unter anderem Michael Gove, William Hague, George Osborne und Liam Fox angehören. Mit Unterstützung der staatlich geförderten Quilliam Foundation und ihren Vorjublern bei den Medien haben diese Neocons unermüdlich auf ein Ende der verbliebenen offiziellen Zusammenarbeit mit nicht gewaltbereiten Gruppierungen aus dem islamistischen Mainstream gedrängt. Diese Kooperation war einst mit dem Ziel aufgenommen worden, die wirklich extremen Gruppen zu isolieren, die sich darin üben, Bussen und Bahnen in die Luft zu jagen.Auf der anderen Seite haben die so genannten One-Nation-Tories und Liberaldemokraten wie Warsi, Dominic Grieve und Nick Clegg versucht, an einem inklusiveren Ansatz im Umgang mit muslimischem politischen Aktivismus festzuhalten. Cameron selbst hatte vor drei Jahren vor dem „faulen“ Umgang mit Begriffen wie „Islamist“ gewarnt, da dieser das Risiko berge, die muslimische Gemeinschaft zu dämonisieren. Nun hat er eine Kehrtwende vollzogen – gerade rechtzeitig, um Tory-Anhänger zurück zu locken, die unter dem Trommelfeuer der von der Regierungskoalition beschlossenen Kürzungen abgewandert waren.Das Schweigen der Liberaldemokraten, die während der Nachwehen des Irak-Krieges von den Stimmen muslimischer Briten profitiert hatten, war ohrenbetäubend. Labour-Politiker Sadiq Kahn warf Cameron vor, „Propaganda für die EDL zu verfassen“ – dabei wurden die Grundlagen für Camerons Wandlung zum Neocon weitgehend von Tony Blair, New Labour und Labourpolitikern wie Phil Woolas gelegt, der bei den Wahlen 2010 durch das Spielen der Islamophobiekarte selbst erfolglos versucht hatte, seine Haut zu retten.Indem er den Multikulturalismus für den Terrorismus verantwortlich machte, hat Cameron signalisiert, dass der politische Umgang mit ethnischen Minderheiten von nun an einem beunruhigend verzerrten Verständnis von staatlicher Sicherheit unterliegen wird. Und durch die jeder Grundlage entbehrende Behauptung „wir“ hätten uns mit der Verurteilung von Zwangsheiraten unter Muslimen zurückgehalten, weil diese nicht weiß seien, nährt er rassistische Vorurteile.Bedenkliche AuswirkungenDarüber hinaus setzt er mit der Brandmarkung des politischen Islam als extremistisch auf die Ignoranz derjenigen, für die Muslime und Islamisten so gut wie nicht zu unterscheiden sind. Was als Islamismus bezeichnet wird, umfasst ein weites Spektrum politischer Strömungen, friedlicher, wie gewaltbereiter, sozialkonservativer wie progressiver, von der türkischen Regierungspartei bis hin zu al-Qaida. Der islamistische Mainstream, dem zweifelsohne beinahe alle Gruppen angehören, die Cameron nun in die äußerste Finsternis verbannt, hat sich tatsächlich demokratischen Freiheiten verschrieben.Was Cameron und die Mehrheit der politischen Klasse Großbritanniens nicht anerkennen können, ist, dass ihre kontinuierliche Unterstützung für den Krieg gegen den Terror und die Besetzung Afghanistan nicht im entferntesten die Sicherheit auf den Straßen der Insel gewährleistet, sondern der wesentliche Faktor für die andauernde Bedrohung durch en Terrorismus im Vereinigten Königreich ist.Die revolutionären Aufstände in Tunesien und Ägypten sollten den Mächten des Westen doch eigentlich Gelegenheit zu einem Richtungswechsel bieten: Immerhin ist die Rückendeckung für Despoten wie Ben Ali und Hosni Mubarak schon seit langem ein Dorn im Auge der islamistischen (und anders gearteten nationalen) Politik in und jenseits der Region. Es wäre bizarr, würden die britische und andere westliche Regierungen gerade zu einer Zeit, da sie sich mit islamistischen Bewegungen im Nahen Osten arrangieren müssen, deren Gegenstücke daheim als Staatsfeinde behandeln. Die praktischen politischen Konsequenzen des von Cameron eingeschlagenen neokonservativen Kurses mögen geringfügig sein. Die größeren Auswirkungen hingegen werden wohl schauerlich und giftig sein.