Wohin wird der Bagger fahren?

Nachbeben Durch die Katastrophe droht der Kollaps der globalen Finanzarchitektur. Wenn Japan das zum Anlass für ein wirtschaftliches Umsteuern nimmt, kann es uns ein Vorbild sein

Japans Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen. Fangen wir mal bei der Bauwirtschaft an. Sie beanspruchte vor dem großen Erdbeben bloß etwa fünf Prozent der nationalen Produktionskapazitäten. 1995, im Jahr des Erdbebens von Kobe, waren es noch 9,4 Prozent gewesen. Nach dem Weltkrieg lag der Anteil der Bauindustrie bei mehr als 15 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts (BIP). Damals eilte es mit dem Wiederaufbau nicht sehr, die meisten Konkurrenten mit Ausnahme der USA lagen ja auch am Boden. Unter heutigen Bedingungen aber müsste Japan ab sofort mehrere Jahre in Folge zehn oder mehr BIP-Prozente in den Wiederaufbau investieren. Dazu müsste das Land seine Wirtschaft weitgehend umgebauen.

Doch Japan ist eine Marktwirtschaft. Auch das ist jetzt ein Problem. Nehmen wir ein japanisches Bauunternehmen, das übermorgen in der Großstadt Kobe – die bisher verschont geblieben ist – mit den Aushubarbeiten für eine Luxusvilla beginnen soll. Gleichzeitig braucht Japan aber jeden Bagger für die Rettungs- und Aufbauarbeiten. Wohin wird der Bagger fahren? In der Marktwirtschaft geht die Produktion dahin, wo die Kaufkraft thront, nicht da, wo die Not hockt. Deshalb muss der Staat eingreifen. Aber ist der dafür noch stark genug? In den USA war er schon bei der vergleichsweise kleinen Flutkatastrophe in New Orleans überfordert.

Die Gelddrucker glühen schon

Das bringt uns zum drängendsten Strukturproblem: Japan ist ein reiches Land mit hohen Exportüberschüssen. Aber das Geld ist nicht dort, wo es jetzt dringend gebraucht wird. Es fehlt dem Staat und ist dafür im Überfluss in der Hand von Privatunternehmen. Diese haben im vergangenen Fiskaljahr einen Finanzierungsüberschuss nach Investitionen, Steuern und Dividenden von enormen sieben Prozent des BIP erzielt. Um die Wirtschaft dennoch am laufen zu halten, musste die Zentralregierung in Tokio ein Defizit in Höhe von 7,1 BIP-Prozenten hinnehmen. Genau diese Regierung muss nun den Wiederaufbau der Infrastruktur und den Umbau der Energieversorgung finanzieren – und noch mehr Schulden aufnehmen. Sie hat bereits damit begonnen, Geld zu drucken. Das Programm für den Rückkauf von Regierungsanleihen soll verdoppelt werden.

Das Problem Japans geht auf die Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Damals haben die vorwiegend staatlichen Großunternehmen ihre Investitionen weitgehend mit ihren Gewinnmargen finanziert. Als dann der Anteil der Investitionen am BIP zurückging, sanken auch die Gewinnmargen, das aber deutlich langsamer. Die Folge waren hohe Finanzierungsüberschüsse, die nach der Liberalisierung der Finanzmärkte überwiegend in Immobilien und Aktien investiert wurden. Nach dem Crash 1989 waren die Unternehmen erst recht auf Überschüsse angewiesen, um ihre Bilanzen ins Gleichgewicht zu bringen.

Bis jetzt hat der Staat das Loch immer wieder gestopft und damit die Wirtschaft auf Trab gehalten. Doch jetzt trifft dieser Tsunami Japan bei einem Schuldenstand von 230 BIP-Prozent. Weil Japan immer noch die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist, dürfte dies mit hoher Wahrscheinlichkeit ein neues, gewaltiges Erdbeben auslösen, das die ganze globale Finanzarchitektur ins Wanken bringen wird.

Rückkehr zum Gleichgewicht

Doch genau darin liegt auch eine Chance. Japan steht mit seinem finanziellen Problemen nämlich nicht allein. Auch in den übrigen großen Volkswirtschaften erzielen die Unternehmen riesige Finanzierungsüberschüsse, die der Staat – im Falle der Exportnationen Deutschland und Japan auch das Ausland – mit entsprechenden Defiziten ausgleicht. Das Gleichgewicht der Kräfte ist empfindlich gestört.

Die Naturkatastrophe in Japan eröffnet nun der Regierung die Chance, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Zunächst müsste sie nicht investierte Gewinne und Finanzreserven mit hohen Steuern abschöpfen. In einem zweiten Schritt müsste sie die Kartelle zerschlagen, den Preiswettbewerb wieder herstellen und die Gewerkschaften stärken. Die Alternative wäre ein Zusammenbruch des Marktes für Staatsanleihen, gefolgt von einem Staatsbankrott, verbunden mit Unruhen, die sich Japan gerade jetzt nicht leisten kann.

Die ganze Welt schaut heute auf Naoto Kan, den kleinen Mann im blauen Overall. Wenn es Japans Premier gelingt, sein Land zu retten, könnte er damit der ganzen Welt den Weg aus dem Schlamassel weisen.

Werner Vontobel ist Volkswirt und lebt als Journalist und Autor in der Schweiz

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