Die Sommerpause naht. Vorher will die Kanzlerin Angela Merkel das unleidige Atomthema endlich aus den Schlagzeilen bekommen. Ganze Gesetzespakete zur Energiepolitik werden in einem solchen Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht, dass selbst Fachleute überfordert sind. Trotz Hetze und inhaltlicher Bedenken wird der große „Konsens“ in der Atompolitik gefeiert. Bei aller Freude darf aber nicht übersehen werden, wie undemokratisch wichtige Themen mittlerweile am Parlament vorbei entschieden werden.
Im Frühjahr 2000 einigte sich Kanzler Schröder mit den deutschen Energiekonzernen, der Atomausstieg schien besiegelt. Eine Zäsur, die aber nur mit Zugeständnissen erreicht wurde. Jedes AKW durfte, von seiner Inbetriebnahme an gerechnet, 32 Jah
et, 32 Jahre lang Strom unter Volllast produzieren. Bei vorübergehender Stilllegung sollte die Produktion nachgeholt werden können, was die Laufzeit verlängerte. Die Einigung befriedete den gesellschaftlichen Konflikt. Und sie ermöglichte es den erneuerbaren Energien, sich zu etablieren.Im Herbst 2010 beschloss die neue Bundestagsmehrheit von CDU/CSU und FDP eine Kehrtwende in der Atompolitik. Die sonst eher sachlich unterkühlte Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer „Energierevolution für die Energieversorgung, die bis 2050 trägt“. Häme und Spott gab es für die Atomgegner. Umweltminister Norbert Röttgen nannte seine Amtsvorgänger Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin „Verantwortungsverweigerer“ und „energiepolitische Blindgänger“. Der angeblich „große Wurf“ verlängerte aber vor allem die AKW-Laufzeiten. Champagnerstimmung bei den Atomkonzernen, ihre Lobbyarbeit war erfolgreich. Der oberste Atomlobbyist Gerald Hennenhöfer, der von Röttgen direkt nach der Wahl ins Umweltministerium geholt wurde, um ausgerechnet als Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit den Deal mit seinen bisherigen Kollegen auszuhandeln, konnte sein Siegerlächeln kaum vom Gesicht bekommen. Die neue Regierung feierte mit.Im Frühjahr 2011, kein halbes Jahr nach der Laufzeitverlängerung, verordnete die Kanzlerin ein Atom-Moratorium und ließ sieben AKW vorübergehend stilllegen. Die Regierung bereitete damit die Wende von der Wende in der Atompolitik vor. Die Katastrophe von Fukushima wurde zum GAU für ihre bisherige Energiepolitik. Ohne jegliches Eingeständnis von Fehlern wurde Anfang Juni die neue Atompolitik verkündet. Die sieben AKW bleiben stillgelegt, 2022 soll dann auch für die letzten Anlagen definitiv Schluss sein. Vielen Politikern von Union und FDP ging dies viel zu schnell. Einwände wurden von der Regierung allerdings nicht akzeptiert. Die Taktik gab den Takt vor. Nach den Pleiten bei den Landtagswahlen wusste jeder, dass ein weiterer Schwenk den letzten Kredit verspielen würde.Ein schlechter WitzAuch der Opposition fiel es schwer, ihre Position zu finden. Einerseits gab es die Chance, den Ausstieg doch noch zu besiegeln. Andererseits hätte es schneller gehen können, und es fehlte die Unumkehrbarkeit der Beschlüsse. Zudem befürchtete man, dass die Vorlage Klagen der Betreiber nicht standhält und damit milliardenschwere Schadensersatzforderungen drohen. Ein Dilemma. Am Ende entscheiden auch dort nicht die inhaltlichen Argumente, sondern die Angst, den Wählern ein Nein nicht erklären zu können. Ergebnis: Das politische Restrisiko wird in Kauf genommen. Eine große Mehrheit im Parlament wird mit unterschiedlich starken Bauchschmerzen der Regierungsvorlage zustimmen.Der dreifache Atomdeal zeigt, wie Politik funktioniert und wie wenig das Parlament bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielt. Meist geben einige wenige Führungspolitiker in Absprache mit mächtigen Lobbyisten die Richtung vor, die dann von der Regierungsmehrheit im Parlament abgenickt wird. Sollte es mal anders laufen, heißt dies noch lange nicht, dass dann die Stunde des Parlaments schlägt. Vor allem die schnelle Abfolge von umfangreichen Gesetzesvorlagen und Zeitdruck überfordern die Abgeordneten. Die politische Mitgestaltung wird immer schwieriger. Der eigentliche Anspruch, dass der Bundestag „die zentrale Rolle im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess“ einnehmen sollte, hört sich schon fast wie ein schlechter Witz an.Im Eilverfahren hat die Kanzlerin nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima zwei unlegitimierte Kommissionen eingesetzt. Völlig abgekoppelt vom Parlament legten sie innerhalb weniger Wochen ihre Berichte und Empfehlungen vor. Noch schneller sollte dann alles im Parlament über die Bühne gehen.Am Montag, dem 6. Juni beschließt das Kabinett die Vorlage zu 14 Einzelgesetzen, die zu einem Gesamtpaket geschnürt werden. Mit den Anträgen der Opposition kommt es ohne die Last-Minute-Änderungsanträge zu mindestens 29 Abstimmungen. Damit liegen über 1.000 Seiten Gesetzesentwürfe und Stellungnahmen der Sachverständigen vor. Dazu mindestens genauso viele Seiten Hintergrundpapiere, Empfehlungen und Beurteilungen von Verbänden, Instituten und Interessensvertretern. Schon am gleichen Tag treffen die Regierungsfraktionen ihre Vorentscheidung. Der FDP-Abgeordnete Sebastian Körber twittert: „Habe gerade über 350 Seiten Papiere auf dem Schreibtisch zur Energiewende und dafür 1,5 Stunden Zeit bis zur Fraktionssitzung.“Am Mittwoch bekommen die Fachpolitiker in den Bundestagsausschüssen vom Leiter der Ethikkommission, Klaus Töpfer, in knappen 30 Minuten die Ergebnisse der Arbeit präsentiert. Kaum Zeit für wenige Fragen. Ich frage Töpfer, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, das Parlament frühzeitig stärker einzubeziehen. Er weicht geschickt aus, indem er vorschlägt, dass in Zukunft das Parlament den Prozess durch einen Beauftragten für die Energiewende stärker begleiten sollte. Nach Töpfer findet eine kurze Ausschusssitzung statt, dicht gefolgt von zwei Anhörungen zum Atom- und zum Erneuerbare-Energien-Gesetz. Zwölf Stunden lang hämmern Argumente und Gegenargumente auf uns ein. Nach spätestens acht Stunden ist meine Konzentration am Ende. Die Anhörungen verkommen zu reinen Showveranstaltungen, weil die Zeit fehlt, daraus resultierende Erkenntnisse noch zu verwerten. Egal was an diesem Tag geraten oder gesagt wird, die Regierungsfraktionen werden die Vorlagen deshalb nicht mal in einem Halbsatz verändern.Am Donnerstag dann erreichen die Gesetze das Plenum. Sie gelten nun als eingebracht, und die „erste Lesung“ ist verbunden mit dem verbalen Schlagabtausch der Fraktionen zur Kernzeit um neun Uhr. Redeten und diskutierten zu diesem Thema bisher meist die Fachpolitiker, kommen jetzt, aufgrund des immensen medialen Interesses, fast nur die Alphatiere der Fraktionen zum Zuge. Nach dieser übervollen Woche gibt es eine kurze Atempause, bevor eine Sitzungswoche später – an diesem Donnerstag – die Entscheidung fällt. Intern wird in den Oppositionsparteien noch einmal debattiert, aber viel Einfluss haben sie sowieso nicht. Die Abgeordneten der Regierungsfraktionen würden auch gerne diskutieren, aber sie dürfen es nicht. Dass sie sich das gefallen lassen, ist keine Disziplin, sondern ist dem puren Fraktionszwang geschuldet.Abgeordnete im GrenzbereichDas alles ist kein Einzelfall. Immer häufiger werden wir Abgeordnete mit weitreichenden Entscheidungen konfrontiert, die wir selbst mit bestem Willen in so kurzen Zeiträumen nicht durchblicken können. Die Bankenrettung, diverse Rettungsschirme, bei denen es um Geldsummen ging, die keiner von uns erfassen kann, wurden ebenfalls im Schweinsgalopp beschlossen. Auch die Fachexperten der eigenen Fraktion, auf die man sich häufig verlässt, sind ab einem bestimmten Punkt überfordert. Natürlich gibt es Entscheidungen, die kaum längere Diskussionen dulden. Das Energiepaket gehört aber sicher nicht dazu.Schon der Alltag führt viele Abgeordnete und ihre Büros an ihre Grenzen. Im Zeitalter von E-Mail und sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter nehmen Kontaktaufnahmen und Anfragen stetig zu. Das ist begrüßenswert, führt aber zusammen mit der sonstigen Post zu etwa 200 Anfragen wöchentlich. Dazu kommen dann die wachsenden Papierstapel, die zwangsläufig immer häufiger auch von den Fachpolitikern ungelesen oder überflogen im Altpapier landen.Wann gestehen wir uns endlich ein, dass wir an Einfluss verlieren und dass wir zunehmend überfordert sind? Nur nach der Einsicht wird es eine Offenheit zum konkreten Handeln geben. Immerhin ist das Thema in den Medien angekommen. Das ZDF brachte im Juni in der Sendung Berlin direkt einen Beitrag mit dem Titel „Die große Hast.“ Fazit des Journalisten: „Es ist das Parlament selbst, das sich hier entmachtet.“ Wie recht er hat. Der Journalist Thomas Hanke verlangte im Handelsblatt deshalb ganz folgerichtig: „Steht auf, wenn ihr freie Abgeordnete seid.“ Damit sollten wir endlich beginnen. Allerdings dürfen wir uns dafür nicht wirklich viel Zeit lassen.