Beim Gehen die nächsten Schritte lernen

15. Oktober Ein arabischer Frühling, ein Sommer der Demokratie, und nun: Occupy Everything. Die weltweite Protestbewegung weckt Hoffnungen auch hierzulande. Doch die Herausforderungen sind groß

Ist dies das Jahr einer neuen globalen Bewegung? Erst ein arabischer Frühling, dann der Sommer der Demokratie. Kairo, Tunis, London, Athen, Tel Aviv. Und nun ein globaler heißer Herbst?

Wer 2011 verfolgt hat, wie schnell sich Mobilisierung im Netz ausbreitet, welche Verstärkung sie hier erfährt, wie aus nur lose aufeinander bezogenen Ereignissen ein politisches Myzel wird, das immer neue Knoten hervorbringt; wer die gemeinsame Symbolik erkennt, die Zelte auf den Plätzen, wer das sieht, wird über die vielen Unterschiede immer noch diskutieren können, ohne das Gemeinsame zu übersehen: den Ruf nach demokratischer Selbstermächtigung, welche das eigene Leben nicht mehr länger „denen“ überlassen will, seien es vormoderne Potentaten, „die Finanzmärkte“ oder erschöpften Formen der parlamentarischen Repräsentation.

Wenn es bisher noch eines übergreifenden Slogans fehlte, dann könnte diese Lücke nun gefüllt sein. Occupy Wall Street! Was in New York begann und die Erfahrung der Demokratie-Bewegung des Sommers ins sich trägt, ist längst weit über Washington in die Welt hinausgewachsen. Am 15. Oktober soll global demonstriert werden. Auf Honolulu, in Seoul, am Äquator. Die Aktionen greifen vor allem im krisengeschüttelten Europa das derzeit sichtbarste Moment des kapitalistischen Irrsinns auf, wenden sich gegen den Imperativ der Märkte, die anonyme Herrschaft eines Zusammenhanges, der noch dann als zur Selbstregulierung fähig angepriesen wurde, als jeder schon sehen konnte, dass das nur eine weitere Lüge ist.

Attac hat auch in der Bundesrepublik zu Bürgerversammlungen aufgerufen, man verstehe sich „als Teil der internationalen Demokratiebewegung“. Die ­(Wieder-)Belebung von echter Mit-, also Selbstbestimmung, die hier gemeint ist, lässt sich nicht von irgendeiner Instanz einfordern, sie muss selbst praktiziert werden. Und die Straße ist nicht der schlechteste Ort, damit zu beginnen. Weil erst beim Gehen gelernt werden kann, welche Schritte der Veränderung jetzt sinnvoll sind und welche später.

Jeder Versuch ist es Wert, gemacht zu werden

Übertriebene Erwartungen darf man freilich nicht haben. Wer sich an die bisher vergeblichen Versuche erinnert, in Deutschland Krisenproteste anzufachen, wird kaum in Optimismus ausbrechen. So etwas wie einer „Occupy Frankfurt“-Bewegung (oder besser noch: "Occupy Taunusanlage 12" – dort sitzt die Deutsche Bank) fehlt es am Mut der Gewerkschaften, sich an die Spitze zu stellen und trotzdem das Zepter mit anderen zu teilen. Es fehlt an einem parteipolitischen Resonanzboden, weil das linke Lager keines sein will. Die unabhängige Linke ist zurzeit weniger als die Summe ihrer vereinzelten Teile, kein Appell der Intellektuellen ist zu hören, die Motive der Empörten sind disparat, wichtige Fragen der Veränderung unbeantwortet.

Und: Es wirkt sich der alte Widerspruch zwischen Krisenerfahrung und Krisenbewusstsein aus. Wenn es den Leuten schlechter geht oder dies droht, neigen sie mehrheitlich eben gerade nicht zur Veränderung, sondern zu einer – oft sogar aggressiven – Verteidigung des Status quo, so falsch dieser auch ist.

In Deutschland meinen 80 Prozent der Befragten, das Schlimmste der Krise stehe ihnen noch bevor. Dass als Reak­tion darauf der Wunsch nach einer großen Koalition lauter wird, nach „Führung“, dass Altpolitiker wie Helmut Schmidt zu Übervätern der Sicherheit stilisiert werden und dass die Möglichkeit eines Pendelausschlags nach rechts keineswegs gebannt ist, zeigt die Herausforderung an, vor der eine an wirklichen Veränderungen interessierte Bewegung hierzulande steht. Aber jeder Versuch ist es Wert, gemacht zu werden.

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Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

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