Immer nur PR-Texte paraphrasieren, das kann es nicht sein. Der Popkritik fehlt oft der Mut, die eigene Analyse zu erklären und so die eigene Bewertung zu begründen
Es gibt wohl keinen kulturellen Bereich, in dem die Kritik so auf den Hund gekommen ist wie in der Popmusik. Wer in diesen Tagen einen Streifzug unternimmt durch die Musikpresse, die sich selbst eine gewisse Szeneorientierung und ein Spezialwissen unterstellt, also durch Intro, Spex, Backspin, Riddim, Groove et cetera, der kann sehr bald eine ziemliche Stilblütenlese zusammenstellen. „Franz Ferdinand“, heißt es etwa in einem jüngst erschienen Artikel, „sind ein schönes Beispiel dafür, wie aus Planlosigkeit große Kunst entstehen kann, denn Planlosigkeit bedeutet geistige Offenheit und Mobilität“.
Nun dürfte jeder Person mit nur einem Rest Hirn klar sein, dass Planlosigkeit das genaue Gegenteil jeglicher Ästhetik bedeutet, d
as genaue Gegenteil jeglicher Ästhetik bedeutet, denn bei Letzterem geht es per se um Form. Bei diesem Zitat handelt es sich eher um eine Beschreibung des Zustandes der Popkritik. Die hat tatsächlich keinen Plan – und das in mehrfachem Sinne.Zunächst werden die Themen oftmals von der Musikindustrie diktiert. Seit den frühen neunziger Jahren gilt es als normal, dass die großen Firmen das Schalten einer Anzeige für eine Band an das Erscheinen eines Artikels über diese Band koppeln. Oder dass bestimmte Formen von redaktioneller Berichterstattung schlicht käuflich sind – das nennt man ein „Advertorial“. Es dürfte klar sein, dass ernsthafte Kritik hier nicht gefordert ist, höchstens in Form von Kaufempfehlungen.Der Waschzettel wird einfach übernommenAllerdings rührt die Abwesenheit von Kritik auch von einer enormen Unentschiedenheit auf der Seite der Rezensenten. Denen mangelt es trotz einer bislang ungekannten Verfügbarkeit von historischem Material, Musik und Daten oft an Wissen beziehungsweise an der Bereitschaft zu gründlicher Recherche. Zudem fehlt es an Kategorien zur Beschreibung von Musik – für manchen Rezensenten ist bereits „eine Perspektive sinnentleerter Frische“ ein Grund zum Feiern. In diesem Sinne hat der „Waschzettel“, die mitgelieferte Produktbeschreibung der Tonträgerindustrie, eine erhebliche Aufwertung erfahren – Formulierungen werden teilweise direkt übernommen und wandern durch verschiedene Zeitungen.Offenbar fehlt der Wunsch oder der Mut, die eigene Analyse zu erklären und so die eigene Bewertung zu begründen. Das wären die Voraussetzungen für Diskussionen über Musik – entsprechend gibt es auch die nicht. Nun könnte man sagen: Das ist doch kein Grund zur Klage. Auf der einen Seite ist das Teil einer generellen Entwicklung, zum anderen gibt es längst Ersatz für diese Art der Musikpresse. Zweifellos hat die Popmusik den Zeitpunkt ihrer größten historischen Bedeutung überlebt – sie ist lange schon nicht mehr der Sound der Befreiung des Teenagers. Zudem sind andere Formen der populären Kultur an ihr vorbeigezogen – angesichts von einer Nacht mit Grand Theft Auto oder der siebten Staffel von The Shield wirken neue Tonträger, ob sie nun von The Bug oder Madonna stammen, eher unterkomplex.Und was die Verständigung über Musik betrifft, so hat sie ihr Feld erweitert, in andere Medien hinein, in die Bastionen der Hochkultur, die Feuilletons, und in die vielfältigen Formen der Rezeption und Rezension, die man im Netz findet. Die Autoren des Feuilletons sind in diesen Tagen zweifellos deutlich besser über Popmusik informiert als früher. Doch die ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema ist weiterhin ein Randthema und so steht der Diskurs über Popmusik ständig unter dem Legitimationszwang, den Redakteuren ebenso wie den Lesern seine Relevanz zu erklären. Und das geschieht gewöhnlich mit Referenz auf etwas Allgemeines jenseits der Popmusik."Der Obama des amerikanischen Pop"So wurde zuletzt in den Feuilletons jedes Produkt eines schwarzen Künstlers mit Barack Obama in Verbindung gebracht: Der Rapper Q-Tip, dessen beste Zeit ohne Zweifel vorüber ist, hat da den definitiven Soundtrack zur Präsidentschaft Obamas konzipiert, Common gilt als „HipHop für Obama“ und schließlich wird Kayne West der „Obama des amerikanischen Pop“, wobei dem Autoren der letztgenannten Besprechung der Verweis selbst „entsetzlich abgegriffen“ erschien.Im Netz dagegen braucht die Relevanz von Popmusik nicht begründet zu werden – hier dominiert eine Praxis von Empfehlen, Downloaden, I-Pod beladen, Mixen und so weiter.Diese Praxis lässt die Musikpresse per se alt aussehen. Durch die Abhängigkeit der Zeitschriften von der darbenden und orientierungslosen Musikindustrie steht im Vordergrund des Schreibens über Musik immer noch die CD, also das geschlossene Werk in einer kleinen Box mit einer bestimmten Anzahl von Stücken und einem identifizierbaren Cover.Nun war Popmusik stets mehr als nur das Werk eines Künstlers; es handelte sich vielmehr um ein Feld von Ausdrucksformen zwischen Sounds, Körperlichkeit, Aussehen, Stil, Haltung und der jeweiligen Ereignishaftigkeit beim Gig oder im Club.Das popmusikalische Werk bildete in diesem Kontext bloß ein Versatzstück – wenn auch ein konstitutives. Unterdessen hat sich das Werk in diesem Bereich noch weitaus radikaler aufgelöst. Die aktuelle Praxis zielt auf die individuelle Zusammenstellung einzelner Stücke in winzigen, immer unsinnlicher werdenden Geräten auf der einen und auf das extrem körper- und erlebnisbetonte Teilnehmen am Live-Gig auf der anderen. Zudem wird Musik zum Bestandteil eines digitalen Text-Bild-Tonverbundes – das Spektrum reicht von You Tube über Werbung bis zu Blockbuster-Produktionen. Die CD als geschlossenes Werk ist tatsächlich von gestern.Der fröhliche Eklektizismus des WebNun war ausgerechnet in den Feuilletons in den letzten Jahren wiederholt zu hören, dass die Autonomie dieser neuen Praxis die Kritik schlicht überflüssig mache – eine Kritik, die mit einem Seitenhieb auf die „alte Spex“ auch gerne als „Geschmackspolizei“ denunziert wurde. Hier erscheint das Web als paradiesischer Ort, in dem versierte User Musik tauschen, Blogs Anstöße geben und das unendliche Archiv einen fröhlichen Eklektizismus blühen lässt - eine gleichzeitige, unhierarchische Präsenz von allem und jedem. Aber ist das so?Im Netz dominieren bestimmte Logiken, keineswegs nur im Bereich der Musik. Die erste ist die „Logik der Liste“. Es gibt im Web detaillierte Informationen über jeden noch so kleinen Teilbereich der Popmusik. Aber die Liste, die mir etwa sagt, welche schwarzen Musiker wie in Punkrock involviert waren, sagt mir nichts darüber, warum es eigentlich wichtig ist, dass ich diese Information besitze. Die Liste ist Aufzählung und Ausstellung, keine Kritik. Oftmals realisiert sich in der Veröffentlichung der Liste auch eine Performance des eigenen Geschmacks. Dieser Aspekt führt zur zweiten Logik, der „Logik der Befindlichkeit“.Zweifellos existiert im Netz ein reger Austausch über Musik, aber die meisten Blogs sind geprägt vom „Ich, Ich, Ich“-Sagen des jeweiligen Verfassers, wobei oft genug unklar ist, warum dieses Ich eigentlich der Rede wert ist und vor allem, warum eine Musikempfehlung dieses Ichs irgendeine Relevanz haben sollte – sie wird ja nicht begründet.Dieses Problem überbrückt wiederum die dritte Logik, die „Logik der Ähnlichkeit“. Die User suchen auf Plattformen wie dem „Music Genome Project“ nach verwandter Musik oder auf solchen wie „Last.FM“ nach entsprechenden Profilen – ebenso, wie sie bei Facebook nach „Freunden“ suchen.Das ist ein Vorgehen, welches man nur schwerlich als bewusstseinserweiternd bezeichnen kann, denn in diesem Kosmos hat es das Nicht-Identische der Kunst schwer. Diese Logiken sind im Netz zu finden, aber sie sind nicht vom Netz abhängig. Sie stehen in Zusammenhang mit einem Bedeutungswandel von Kultur allgemein. Aktuell dient Kultur nicht mehr, wie einst im Rahmen der Aufklärung definiert, als Mittel zur Emanzipation – im Neoliberalismus sind ja angeblich die Menschen bereits frei. Kultur besitzt heute andere Funktionen. Sie hilft dabei, sich als Individuum von anderen zu unterscheiden – durch die Ausstattung des Selbst mit bestimmten kulturellen Stilmerkmalen.Kultur ist PornoZudem ist Kultur schlicht Porno - in dem Sinne, dass sie „spannend“ sein muss, körperliches Wohlbefinden auslösen soll und entsprechend zur jeweiligen Stimmung eingesetzt wird. Letztlich ist Kultur, insbesondere Popkultur, derzeit die konstitutive Dekoration jener Subjekte, die Brian Massumi mal so treffend als „kleine kapitalistische Minikrisen“ bezeichnet hat. Es gibt also eine veränderte popkulturelle Öffentlichkeit, die geprägt ist von neuen Kommunikationsformen, einer Verstreuung des Werkes und einem Bedeutungswandel von Popmusik und Kultur im allgemeinen.Das beredte Schweigen der Kritik freilich wird weder den künstlerischen Praxen noch den problematischen politischen Aspekten dieser Situation gerecht. Es braucht den Mut zu einer neuen Kritik, einer Kritik, die das Wagnis eingeht, zu urteilen ohne den Wind der Geschichte im Rücken zu spüren.Tatsächlich bietet die Geschichte des Schreibens über Popmusik gute Ansatzpunkte. Autoren wie Lester Bangs oder Richard Meltzer haben zu einem gewissen Zeitpunkt neue Schreibweisen für einen unerforschten Gegenstand erfunden. Das war kein Journalismus, weil bewusst gegen die Idee der Objektivität verstoßen wurde – der Ausgangspunkt war die Ergriffenheit vom oder gar die Liebe zum Gegenstand. Bei einer solchen Kritik geht es nicht darum, das Publikum zu bedienen, sondern manches Mal auch darum, es zu beschimpfen; nicht darum, es auf andere Gedanken zu bringen, sondern auf neue Ideen.