Rabenvögel gelten als schlau. Ihr Potenzial aber wird erst jetzt offenbar: Die Tiere erkennen Gesichter, ordnen sie ein – und geben ihr Wissen an Artgenossen weiter
Als ich noch zur Schule ging, lebte in der Gegend ein Mann, dessen Anwesenheit stets von einer Horde pöbelnder Krähen angekündigt wurde. Auf eine absurde Art und Weise schien der Mann diese Aufmerksamkeit zu genießen, immer wieder verwies er auf Alfred Hitchcocks Die Vögel, während der Krähenmob über ihm kreiste oder ihn von Stromleitungen aus anschrie. Zugleich tat er so, als habe er keine Ahnung, warum die Krähen ausgerechnet ihn zum Hassobjekt erkoren hatten. Dabei dürfte diese Reaktion einfühlsame Menschen kaum überraschen: Einige Jahre zuvor hatte der Mann in einem testosteronträchtigen Wutanfall eine kleine Krähe erschossen, die gerade erst dabei war, flügge zu werden.
Direktorin der Universität, an der ich nach dem Studium arbeitete: Sie war bei Krähen äußerst beliebt. Immer hatte sie eine Handvoll Futter dabei und ließ auf dem Weg zum Labor alle paar Meter ein Häppchen fallen. Auch ihr folgten Scharen von Krähen, deren Verhalten sich aber dramatisch von dem der oben erwähnten unterschied. Die Vögel waren ruhig, fast freundlich – was sicher einleuchtet, immerhin erwartete sie ein Imbiss.Aber es war nicht einfach bloß die Aussicht auf Nahrung: Wie der Biologe John Marzluff in einer Studie belegt hat, können Krähen, die besonders gute oder schlechte Erfahrungen mit einem bestimmten Menschen gemacht haben, sich dessen Gesicht merken. Ihr Gedächtnis gleicht dabei sprichwörtlich dem eines Elefanten: „Unsere Arbeit zeigt, dass diese Erinnerung mindestens fünf Jahre hält, wahrscheinlich sogar noch viel länger.“ Marzluff ist Professor an der School of Forest Resources an der University of Washington, Seattle, und untersucht, wie klug und anpassungsfähig Rabenvögel wirklich sind. Schon vorher hatten Studien Hinweise darauf geliefert, dass einzelne Krähen – die ja alle gleich erscheinen – sich gegenseitig erkennen, selbst wenn sie Monate voneinander getrennt waren. Eine von Marzluffs Arbeiten legte aber schließlich nahe, dass die Krähen auch menschliche Gesichter unterscheiden und sich an sie erinnern können.Krähen sterben zwar oft schon als Jungtiere, sobald sie aber ausgewachsen sind, leben sie sehr lange. „Einzelne Krähen können in der Wildnis 15 bis 40 Jahre alt werden, und sie erinnern sich an wichtige Assoziationen so ziemlich ihr ganzes Leben lang“, sagt Marzluff. Da ausgewachsene Krähen sehr eng an ihr Territorium gebunden sind, müsste sich ihre Erinnerung aber eigentlich auf das beschränken, was sie in diesem Territorium erlebt haben. Es sei denn, Krähen können auch aus der Beobachtung anderer Krähen über ihre Feinde lernen und ihr Wissen mit den Artgenossen teilen. Eigentlich nimmt man an, dass diese Art des „sozialen Lernens“ auf Menschen und wenige soziale Tierarten beschränkt ist. Aber es gibt keinen Grund, dieses Verhalten nicht auch Krähen zuzutrauen.Gefährliche GesichterWenn wilde Krähen von Forschern eingefangen und beringt werden oder wenn sie diesen Vorgang direkt beobachten, merken sie sich jedenfalls, wer der Täter war. „Ich hatte das Gefühl, dass sie uns wiedererkennen“, berichtet Marzluff. Über die Jahre fiel ihm dann auf, dass die Forscher von weit mehr Krähen erkannt wurden, als nur von denen, die markiert worden waren oder bei der Beringung zugeguckt hatten. Schließlich hatte Marzluff den Eindruck, dass die Krähen auch jenseits des Einfanggebiets argwöhnisch wurden – Vögel, die unmöglich selbst mit angesehen haben konnten, wie ihre Artgenossen gefangen worden waren.Nur: Wie sollten Krähen, die gar keine direkte Erfahrung mit bestimmten Menschen gemacht hatten, dazu kommen, in diesen Menschen einen Feind zu erkennen? Teilten andere Krähen ihr Wissen mit ihnen? Marzluff und zwei Forscherinnen aus seinem Team starteten ein Experiment: Das Ziel war, eine bestimmte Zahl von Krähen eine negative Erfahrung machen zu lassen, die sie dann mit einem bestimmten Gesicht in Verbindung bringen würden, um im Anschluss daran zu dokumentieren, wie sich Krähen aus der Umgebung verhalten.Fünf Jahre lang lockten die Forscher einzelne Krähen an verschiedenen Orten auf einer bestimmten Strecke mit Katzenfutter und Käseflips in die Nähe eines Netzwurfgeräts. Es gelang ihnen, jeweils sieben bis 15 Krähen einzufangen, die bis zu 30 Minuten von Menschen mit aufgesetzten Faschingsmasken festgehalten und beringt wurden, während ihre freien Artgenossen Gruppen bildeten und über dem Ort des Verbrechens kreisten oder sich in der Nähe niederließen. Das Ergebnis war, dass die Vögel in den Fanggebieten die Einfängermasken als „gefährlich“ identifizierten – sie begegneten jedem mit Feindseligkeit, der sie trug.Feindselige ReaktionenFür die genaue Analyse identifizierten die Wissenschaftler zunächst die Orte entlang der Strecke, an denen sich die freien Krähen zusammengerottet hatten. Um die Vögel zu testen, setzten sich männliche und weibliche Freiwillige verschiedenen Alters und Körperbaus und unterschiedlicher Größe dann entweder die als gefährlich eingestufte „Fangmaske“, eine neue neutrale Maske oder überhaupt keine Maske auf und liefen ein bis zwei Stunden lang eine zwei bis 3,8 Kilometer lange Strecke innerhalb des Fanggebietes ab.In jedem der Tests beobachteten die Wissenschaftler wie auch neutrale Beobachter, die über die Bedeutung der Masken nicht Bescheid wussten, die Reaktionen einzelner Krähen, die nicht gefangen worden waren (also keinen Ring trugen). Eine zentrale Frage war: Wie viele Krähen rotteten sich um die Person mit der gefährlichen Fangmaske zusammen, und wie veränderte sich mit der Zeit ihre Zahl?Innerhalb der ersten zwei Wochen nach einer Fangaktion schimpften durchschnittlich 26 Prozent der Krähen die Person mit der gefährlichen Fangmaske aus. In den folgenden fünf Jahren erntete die böse Maske zunehmend feindselige Reaktionen von den Vögeln des Gebiets, was vermuten lässt, dass die gefangenen Krähen noch weitere Tiere gewarnt hatten. Während die Zahl der Krähen, die auf die gefährliche Maske reagierten, stetig zunahm und damit auch unerfahrene Krähen mit einschließen musste, blieb die Zahl der Krähen, die die neutrale Maske ankrähten, im selben Zeitraum unverändert. Marzluff und sein Team stellten schließlich fest, dass sich das Gebiet, in dem die Krähen die Masken erkannten, mit der Zeit tatsächlich über das ursprüngliche Fanggebiet hinaus ausdehnte.Gute Aussicht auf MobbingZusammengenommen liefert das Experiment ziemlich klare Hinweise darauf, dass Krähen ihr Wissen über Feinde (in diesem Fall die „gefährliche“ Maske) an ihre Artgenossen weitergeben, die es dann wiederum mit anderen Artgenossen teilen. Menschen, die Krähen etwas zuleide tun, haben daher gute Aussichten darauf, für den Rest ihres Lebens von immer mehr Krähen auf einem immer größeren Gebiet im wahrsten Sinne des Wortes gemobbt zu werden – wie im Fall des Mannes, der die junge Krähe getötet hatte. Er zog irgendwann fort.„In weiten Teilen der Welt gedeihen diese intelligenten Vögel auf dem Abfall der Menschheit und haben an Anzahl und Ausbreitungsgebiet enorm zugenommen“, sagt Marzluff. Wenn Krähen in den Lebensraum von bereits gefährdeten Wildtieren eindringen, können ihre Cleverness und Flexibilität auch Krisen heraufbeschwören. Rabenvögel sind aber ihrerseits nicht vor jeder Gefahr geschützt. Viele Krähenvögel auf den pazifischen Inseln und anderen tropischen Orten gelten als bedroht: Von der Hawaiikrähe „Alalā“, Corvus hawaiiensis, existieren weltweit nur noch 30 Exemplare, was das Tier zu einem der seltensten Vögel weltweit macht. „Wenn man lernen kann, wem man aus dem Weg gehen sollte und wem man sich nähern darf, ist das wesentlich besser, als ständig verletzt zu werden“, sagt Marzluff – besonders wenn man es mit bewaffneten Zweibeinern zu tun hat.„Untersuchungen haben gezeigt, dass Krähen Zukunft antizipieren, dass sie begreifen, was andere Tiere wissen und dass sie – wie in unserem Fall – aus Erfahrungen und Beobachtung lernen können“, sagt Marzluff. „Bei all diesen Dingen handelt es sich um fortgeschrittene kognitive Fähigkeiten, die nur bei wenigen Tieren zu beobachten sind.“Grrl Scientist bloggt auf guardian.co.uk