Der üblicherweise benutzte Schrägstrich im Titel von Friedrich Kittlers Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/1900 ist allein der Beschränkheit des ASCII-Zeichensatzes geschuldet; auf dem Original steht zwischen den zwei Jahreszahlen – auf halber Zeilenhöhe – ein Punkt: ein in Alexandria erfundenes Zeichen namens áno telía, dessen Funktion manchmal unserem Semikolon, manchmal auch unserem Doppelpunkt entspricht. Sehr viel später, in seinen Übersetzungen griechischer Texte für Musik und Mathematik I (2006, 2009), machte Kittler regen Gebrauch von diesem Zeichen und erläuterte es selbst als Sonderzeichen für eine „griechische und deutsche Sprachpause“.
Dass dieses Zeichen auch für die Notation deutschsp
auch für die Notation deutschsprachiger Texte eingebürgert sei, ist freilich eine Übertreibung; der einzige bekannte deutsche Schriftsteller, der vor Kittler dieses Zeichen benutzt hatte, ist Stefan George. Und diese Assoziation hat Kittler, vorsichtig formuliert, nicht gerade vermieden. Schon in den Aufschreibesystemen versuchte er, Georges Schreibpraktiken den Verehrern seiner Gedichte zu entwinden; im Spätwerk – als solches war das auf viele Bände angelegte Musik und Mathematik konzipiert – folgt er dem „besten deutschen Übersetzer“ bis hinein in die Kleinschreibung.Kittlers Gesamtwerk lotet aus, was sich wie und seit wann auf- oder anschreiben lässt. Das Spätwerk erkundet die Frühgeschichte dieser Anschreibbarkeit: das Vokalalphabet, dessen Zeichen auch Zahlen und Töne zu notieren erlauben, ja, noch Räusche, die nicht überliefert wären, wenn es sich bei ihnen bloß um Rauschen handelte. Sogar von Pink Floyds „Set the Controls for the Heart of the Sun“ hat Kittler die schlichte Partitur aufgezeichnet. Vor der Küste von Amalfi hingegen will er in einem großangelegten philologischen Experiment mit Schlauchboot und Sängerinnen bewiesen haben, dass Odysseus den Gesang der Sirenen nie hätte aufzeichnen können, wenn er nicht, anders als Homer berichtet, auf mindestens einer von drei kleinen, heute unbewohnten Inseln tatsächlich gelandet wäre. Denn in sicherer Entfernung von den Galli-Inseln, die schon Strabon als Aufenthaltsort der Sirenen ausgemacht hatte und die seither auch den Namen Sirenusen tragen, höre man nur Vokale, nicht aber die Konsonanten, ohne welche Singen nicht Sprache wäre.Die Apparate entscheiden mitDas mittlere Werk, also vor allem Grammophon, Film, Typewriter (1986) und die Aufsatzsammlung Draculas Vermächtnis. Technische Schriften (1993), untersuchte, wie sich An- und Aufschreibbarkeit ändern, wenn die Apparate komplizierter werden als Papyrus und Schilfrohr. Nicht umsonst hatte das 19. Jahrhundert viele dieser neuen Vorrichtungen noch unter neogräzisierende Namen mit -graf gebracht: Fotografie, Telegraf, Phonograf und so weiter. Und auch Computer, in denen all diese Apparate inzwischen zusammengeführt werden, müssen, wenngleich ihr Name vom vermeintlich schriftvergessenen Rechnen kommt, allemal programmiert werden. Kittler hat die Bedingungen dieser Anschreibbarkeit untersucht und bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgt, als Scholastiker eine neue Form von Anführungsstrichen entwickelten. Flankiert hat er diese Arbeit, indem er, zusammen mit verschiedenen Generationen seiner Schüler, für Brinkmann wunderschöne Bücher mit Quellentexten von Klassikern der Computertheorie herausgab: ausgewählte Schriften Turings (mit einer beigelegten Diskette im 5 ¼-Zoll-Format, also schon 1987) und Shannons (2000).Das Frühwerk – wenn man die Habilitationsschrift noch dazuzählen darf – liefert dichte Beschreibungen von den Bedingungen des Schreibens in zwei jüngeren historischen Stadien, eben 1800 und 1900. Wie Kittler dort Texte aus den Bereichen der Literatur, Pädagogik, Philosophie und den verschiedensten Psycho-Theorien zusammenliest, demonstriert auf jeder der mehr als 400 Seiten die Vorteile einer Diskursanalyse gegenüber einer sozialhistorischen Literaturwissenschaft. Dabei setzt Kittler Foucaults methodologische Interventionen rigoros um, korrigiert sie allerdings auch in einem wichtigen Punkt: indem er die Apparate ernst nimmt, welche die Bedingungen von Anschreibbarkeit entscheidend mitgestalten. Deshalb überlappen sich die Aufschreibesysteme, die am Ende doch noch als Habilitationsschrift in Deutscher Philologie durchgehen konnten, nicht zufällig mit Grammophon, Film, Typewriter, dem Gründungsbuch der deutschen Medientheorie. Denn schon das erste Buch ist Medientheorie, und noch das zweite müssen auch Literaturwissenschaftler lesen. Kann Kittler sich einen großen Anteil am institutionellen Erfolg der Medientheorie in den vergangenen 20 Jahren gutschreiben, so hat er doch nicht gutgeheißen, dass dieser Erfolg mit ihrer weitgehenden Abkopplung von einer philosophisch gegründeten Literaturtheorie erkauft wurde.All diese Bücher wären jedoch nicht derart überzeugend und wirkungsmächtig, wenn Kittler nicht so viel gelesen und sich gemerkt, vor allem aber, wenn er nicht so gut geschrieben hätte. Unverwechselbar ist seine virtuose Verwendung der schlichten Kopula „ist“ an der Stelle der von uns vorsichtigen, bedächtigen Geisteswissenschaftlern bevorzugten Konstruktionen „steht in Beziehung zu“ oder „besitzt eine strukturelle Analogie mit“. Abtönungspartikel wie „wohl“ oder „nicht zuletzt“ fehlen in seinem Werk („fast gänzlich“, fügt unsereiner gleich hinzu). Übrigens ist auch die Übertreibungspartikel „bloß“ in seinen Texten keineswegs so gut belegt, wie man denken könnte. So hatte ich etwa den Satz „Unterhaltungsindustrie ist bloß Missbrauch von Heeresgerät“ in Erinnerung – geschrieben aber lautet er: „Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Missbrauch von Heeresgerät.“ Das „bloß“ hat Kittler mündlich gern verwendet; gern geschrieben haben es bloß einige seiner Schüler"Hegel lügt"Und Kittler war ein Meister des syntaktischen Rhythmus. Die meisten Absätze beginnen mit kurzen Sätzen; mein Lieblingsbeispiel ist: „Hegel lügt.“ Erst darauf folgen längere Sätze, die aber auch selten mehr als einen Relativsatz, vielleicht noch eine beigeordnete Apposition enthalten. Ein Leser, der jetzt erwartet, dass etwas in immer feiner gegliederten Hypotaxen entfaltet werde, stockt gleich wieder am nächsten, kurzen Satz. An den Punkten wird meistens hart gefügt: Die allermeisten Sätze besitzen neue Subjekte; anaphorische Pronomina (wie „er“ oder „dieser“) sind selten. Dabei wechselt Kittler, von einem Satz zum andern, die Idiome, sodass die der theoretischen Gewährsleute ebenso wie die der jeweils analysierten Texte die Sprachgestalt des eigenen mitbestimmen – und sie alle nicht nur in ausgewiesenen Zitaten, sondern auch in anverwandelter Rede. Noch den Titel Aufschreibesysteme verdankt er ja einem Gegenstand des Buches: Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken.Darin steht Kittler Foucaults „fröhlichem Positivismus“ nahe, mit dem er auch die Reserve gegen Hermeneutik teilt: die Behauptung, der „Klartext“ stehe da schon, und man müsse ihn bloß lesen, gar nicht erst interpretieren. Wer sich daran gewöhnt hatte, wurde jedoch immer wieder überrascht. Nicht erst vom Spätwerk, in dem der anti-hermeneutische Gestus aufgegeben ist und der „kalte“ Duktus, der nicht ganz verschwunden ist, auf eigentümliche Weise die feierliche Beschwörung von Kollektiven, einem „wir“ und einem „ihr“, kontrastiert. Mich hatte schon Anfang der neunziger Jahre ein wiederum anderer Ton beeindruckt: der im ganz traditionellen Sinne aufklärerische Ton seiner Texte zum Computer. Den „Intellektuellen“, die sich damals damit brüsteten, ihre Computer „nur als bessere Schreibmaschine“ zu benutzen – inzwischen sind natürlich Rumgoogeln und Facebooken hinzugekommen –, beschied Kittler selbstverschuldete Unmündigkeit. Denn User bleiben doch, nach Norbert Bolz’ vielzitiertem, Kittler zusammenfassenden Reim, immer Loser, solange sie nur versuchen, möglichst versierte User zu sein, und sich ihre Abhängigkeit von pro-grammierten Apparaten noch nicht einmal bewusst machen. Denn erst dann könnten sie beginnen, „Widerstand zu leisten“.Kittlers eigener, vielleicht quijotesker Widerstand äußerte sich auch darin, dass er nächtens in den Assembler schrieb; in seinem Vor- oder jetzt Nachlass in Marbach liegen, neben einigen selbstgelöteten Apparaten, vermutlich auch von ihm verfasste Programme. Bis zu deren Veröffentlichung kann man seine zu Lebzeiten erschienenen Bücher weiterlesen, ja fast auch anschauen: in ihrer von ihm selbst sorgfältig (mit-)gestalteten Typografie, mit all den Sonderzeichen, Formeln und Schriftproben, welche den Bereich des Anschreibbaren in alle Richtungen ausreizen.Den Sirenen nicht entronnenAndere werden diese Arbeit fortsetzen. Denn nicht nur hat Kittler, wie wenige in den vergangenen Jahrzehnten, eine Schule begründet, die sich freilich selbst, zumindest anfangs, zu sehr nach dem Vorbild derjenigen Georges konzipierte, also auf eine scharfe Freund-/Feind-Unterscheidung achtete. In Wahrheit verdankt diese Schule ihre nachhaltige Wirkung gerade dem Sachverhalt, dass ihre Ränder so scharf gar nicht sind: dass Kittler auch für sehr viele wichtig war, die nicht zum engeren Schülerkreis gehörten, und die Mitglieder dieses Kreises, umgekehrt, sich Themen erschlossen und Schreibweisen ausbildeten, an denen man die Wirkung des Lehrers nur noch mit geschultem Auge erkennt.Kittlers These, Odysseus sei eben doch auf den Inseln der Sirenen gelandet und er (oder Homer?), „der größte Lügner Griechenlands“, habe das bloß verleugnet, hat den Haken, dass dann sogar die Erzzauberin Kirke gelogen haben müsste: Hatte diese den Helden doch gewarnt, er werde, wenn er auf der Insel lande, getötet werden und dann, wie so viele andere auf dem dortigen Leichenhaufen, verfaulen, und seine Haut werde einschrumpfen.Wie also sollte Odysseus, so er denn tatsächlich gelandet ist, diesem Schicksal entronnen sein, sei es auch nur, um die Lüge zu verbreiten, er sei dort eben nicht gelandet?Friedrich Kittler ist den Sirenen nicht entronnen, seine Haut schrumpfe in Frieden.