Pisa hat zur Normierung eines globalen Bildungsbegriffs und zur Vertestung des Unterrichts geführt. Das aber ist der falsche Weg, um Kinder besser zu fördern
In Österreich ruft die Lehrergewerkschaft dazu auf, die neue Pisa-Runde zu boykottieren. Nicht, weil sie die Testerei für falsch hielte. Sondern weil sie die Bildungsministerin blamieren will – die hat den österreichischen Lehrern nämlich gerade zwei Stunden Mehrarbeit aufgebrummt. Dabei gäbe es gute Gründe zu sagen: Pisa ist Humbug. Experten aus der Heimat von Sigmund und Anna Freud, Bruno Bettelheim und Wilhelm Reich warnen: Man dürfe Lebensentwürfe und das Glück von Kindern nicht an den Pisa-Kompetenzstufen messen.
In Deutschland dagegen rollt die neue Testwelle nahezu geräuschlos heran. Im Mai und Juni werden die neuen Pisa-Tests geschrieben. Es geht wieder, wie beim ersten Test im Jahr 2000, hauptsächlich um Lesekompetenz. Gl
2000, hauptsächlich um Lesekompetenz. Gleichzeitig wird im Auftrag der Kultusministerkonferenz das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen einen Bundesländervergleich durchführen und damit die bisherige Ligatabelle der Länder (Pisa-E) ersetzen.Es geht nicht mehr um WissenIm Herbst steht dann das inzwischen fest etablierte Pisa-Ritual an: Die allmählich ermüdeten Journalisten versuchen mit Mühe, vor der Verkündung der neuen Ergebnisse ein wenig Spannung aufrecht zu erhalten. Die Befunde ändern sich kaum und die Interpretationen überhaupt nicht. Die Kultusminister feiern den Erfolg ihres schon 2001 beschlossenen Sieben-Punkte-Plans; ihre Kritiker führen Veränderungen auf Fehlertoleranzen und die mittlerweile gewonnene Routine im Umgang mit derlei Tests zurück.Pisa, der Bundesländervergleich, Iglu, Timss, Vergleichsarbeiten in den Klassen drei und acht, zentrale Abschlussprüfungen in Klasse 10 und zum Abitur, womöglich noch bundesweit – es wird getestet und verglichen, evaluiert, gebenchmarkt und normiert, dass es nur so kracht. Pisa ist zum Synonym für einen Paradigmenwechsel geworden, der gerne als Reform bezeichnet wird.Pisa steht auch für ein neues Steuerungsmodell. Es ist nicht mehr wichtig, wie viel Geld in das Bildungssystem gesteckt wurde, wie viele Unterrichtsstunden und Lehrerarbeitszeit. Es kommt nur noch auf das an, was messbar ist: Wie viele Informationen kann der Proband aus dem Text entnehmen? Kann er ein Balkendiagramm richtig deuten? Und: Nicht mehr die aufgewandte Mühe zählt, die bei dem einen größer ist, weil ihm der Gegenstand fremder ist als einem anderen; nicht mehr der Prozess der Aneignung, der ja eigentlich Bildung ausmacht. Exkursionen, gemeinsame Kino- oder Theaterbesuche, Diskussionen über aktuelle Themen wie den G20-Finanzgipfel oder Genmais, die vielleicht nicht im Lehrplan stehen, aber dennoch die Schüler interessieren – all das können sich Lehrer und Schüler künftig schenken – da sparen sie Zeit.Und diese Zeit brauchen sie, um sich die Kompetenzen anzueignen, die in der wissensbasierten Ökonomie zählen. Es geht nicht mehr um Wissen. Das veraltet ja ganz schnell. Es geht erst recht nicht um einen so vagen Begriff wie Bildung, weil die letztlich immer subjektiv ist und sich der Messung oder gar Normierung entzieht. Der Kompetenzbegriff wurde mit Pisa zur Leitidee von Curricula und Lehrplänen. Nicht mehr der Lernstoff bestimmt den Unterricht, auch nicht mehr die auf einen bestimmten Inhalt bezogene methodische oder handwerkliche Fähigkeit, sondern universelle Kompetenzen, die nicht an bestimmte Inhalte gebunden sind. Kompetenzen werden definiert im Hinblick auf das „Humankapital“, also Eigenschaften, die für die Beschäftigungsfähigkeit zählen.Man kann freilich bezweifeln, ob ein hohes Kompetenzniveau wirklich diesen Effekt hat – beim Pisa-Primus Finnland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 Prozent. Der beschäftigungsrelevante Nutzen ist also nicht erwiesen – wie hat sich das Konzept dennoch durchsetzen können?Pisa ist weltweit akzeptiert und damit haben seine Macher die Deutungsmacht darüber, was in den Schulen zu geschehen hat, vorbei an allen Lehrplankommissionen und Schulausschüssen. Mit Pisa wird ein globaler Bildungsbegriff normiert. Ob Mexiko, Korea, Japan oder Deutschland – der Output von Schule wird weltweit vergleichbar – überall gelten dieselben Maßstäbe, und an ihnen gemessen sehen Humboldts deutsche Erben alt und grau aus.Bei uns hat kein Systemwechsel stattgefundenDoch halt! Wir wollen nicht in den Chor der Nostalgiker einstimmen, die das Schulsystem mit seiner Auslese, dem auf Anpassung ausgerichteten Lehrplan, den unterschiedlichen Bildungsbegriffen für das Volk und die Elite verklären. Es geht auch nicht darum, diejenigen zu unterstützen, die die Globalisierung als den Tod unserer nationalen Kultur verdammen. Schauen wir auch einmal auf die positiven Herausforderungen, die von Pisa ausgehen: Die globalisierte Wissensökonomie braucht mehr besser qualifizierte Menschen. Der Pisa-Test begründet ja auch den Anspruch, dass alle 15-Jährigen das dort geforderte Kompetenzniveau erreichen können. Dass dieses Niveau von einem Fünftel der Jugendlichen verfehlt wird, war zwar schon immer so. Doch nun wird es als Skandal wahrgenommen – und das ist gut so. Plötzlich werden Schulsysteme von Ländern wie Schweden und Finnland zum Maßstab, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg Einheitsschulen eingeführt hatten.Bei uns hat der Systemwechsel im Sinne der globalen Wissensökonomie bislang nicht stattgefunden. Und dennoch ist etwas in Bewegung geraten. Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Eltern haben das Gefühl, dass die Anforderungen gewachsen sind. Vielerorts wird bereits in der ersten Klasse eine Fremdsprache gelehrt. Niemand weiß bisher, ob das wirklich der Sprachentwicklung dient. Schulanfänger mit Migrationshintergrund müssten dann sogar drei Sprachen lernen: neben ihrer Muttersprache und Deutsch eine weitere Fremdsprache.Die Schulempfehlung der Grundschullehrerin wird als Weichenstellung fürs weitere Leben empfunden – sie bekommt dadurch eine ungeheuere Bedeutung. Wer nur irgendwie kann, meidet die Hauptschule wie der Teufel das Weihwasser. In den meisten Bundesländern wird sie stillschweigend beerdigt und mit der Realschule in eine Sekundarschule überführt. Das Gymnasium bleibt dabei außen vor. Es kann nur existieren, wenn es Schulformen darunter gibt, in die Kinder abgeschoben werden können, denn ein Schulsystem mit Gymnasium beruht immer auf Auslese – mit Hilfe der Drohung: Du gehörst nicht hierher!Aber auch das Gymnasium gerät immer mehr in die Kritik – vor allem durch die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit. Heute weiß eigentlich niemand mehr, wie man diese „Reform“ einführen konnte, ohne sich über die Folgen ausreichend Gedanken zu machen. Denn nun muss der Stoff, der in 13 Jahren gelernt wurde, in 12 bewältigt werden. Reichlich spät stellt man verwundert fest, dass der Unterricht deshalb regelmäßig bis in den Nachmittag geht und Schüler ein warmes Mittagessen benötigen. Plötzlich muss sich das Gymnasium mit seiner Friss-oder-Stirb-Didaktik rechtfertigen und die Gesamtschule bekommt Zulauf, die doch bisher ein schmuddeliges Unterschichten-Image hatte: Dort hat man noch die Muße, in 13 Jahren zum Abitur zu kommen, dazu noch in einer Ganztagsschule mit einem reichhaltigen Zusatzangebot – wenn die Schule gut ist. CDU-Regierungen ziehen noch einmal alle Register, um die Gesamtschule madig zu machen.Der Druck nimmt zuDie Referenzschule für Pisa ist „eine Schule für alle“. Systeme, die aussondern, die schlechte Schüler produzieren, fallen bei Pisa durch. Nötig wäre ein Systemwechsel. Doch die Schulen in Deutschland beruhen auch acht Jahre nach Pisa auf Auslese, Exklusion, auf homogenen Lerngruppen, die nach „Begabung“ und Leistung zusammengestellt werden, und das mehr schlecht als recht. Unter dem Druck von Pisa hat die Chancenungleichheit ebenso zugenommen wie die Suche nach Exklusivität am oberen Ende. Immer mehr Eltern melden ihre Kinder nicht mehr an staatlichen Schulen an, sondern schicken sie auf Privatschulen, wie zum Beispiel die Internationale Friedensschule in Köln, wo sie ein monatliches Schulgeld von 1.000 Euro bezahlen, eine Einheitsschule mit dem Versprechen, alle zum Abitur zu bringen.Es ist nicht allein Andreas Schleicher, Pisa-Chef der OECD, der in höflichen Sätzen kritisiert, dass das deutsche Schulsystem nicht nur ein Gerechtigkeitsdefizit hat, sondern schlicht nicht zukunftsfähig ist. Der UN-Menschenrechtsberichterstatter Vernor Muñoz gab dem deutschen Aussonderungssystem eine Klatsche, und die UN-Behindertenkonvention fordert eine „inklusive Schule“. Doch in Deutschland scheut man innovative Wege. Neue Steuerungselemente, neue Anforderungen kommen, aber sie werden mit den alten Strukturen verkoppelt, und man bekommt von beiden Systemen nur das Schlechte: Es wird über Autonomie gesprochen und gleichzeitig bleibt es bei kleinlichen Vorschriften. Lernen, Schule, alles wird den zentralen Prüfungen und einem auf Beschäftigungsfähigkeit zugeschnittenen Kompetenzverständnis untergeordnet.Pisa hat das Erregungspotenzial für Bildungspolitik drastisch erhöht. Aber worüber erregen wir uns? Das System Pisa, allen bestimmte Mindeststandards abzuverlangen, die zu erreichen jeder Schüler einen Anspruch hätte, könnte mehr Gleichheit bewirken. Doch es produziert unter unseren Bedingungen noch mehr Ungleichheit und eine Verschärfung des Drucks. Und das System der Auslese sorgt geradezu dafür, dass ein Rest von 20 Prozent bleibt, der diese Mindeststandards nicht erreicht.