"Abschalten!“, skandieren derzeit die Demonstranten. Ihre Forderung: „Atomausstieg sofort!“ Aber: Geht das überhaupt? Könnte die Bundesrepublik ihre 17 Atomkraftwerke über Nacht still legen? Und zu welchem Preis?
Aufschluss gibt die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen. 1971 von der deutschen Energiewirtschaft gegründet, ermittelt sie sämtliche Daten zum deutschen Stromverbrauch. Die des Jahres 2010 sind noch druckfrisch: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 621 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert. Die Atomkraftwerke trugen dazu 140,5 Milliarden Kilowattstunden bei – 22,6 Prozent. Damit sind die 17 Atomreaktoren hinter den Braunkohle-Kraftwerken die zweitwichtigsten Stromfabriken. Steinkohle trug als Rohstoff 18,7 Prozent bei, die
t bei, die regenerativen Kraftwerke lieferten 16,5 Prozent des Stroms. Fast ein Viertel des Stromes kommt also in Deutschland aus der Kernspaltung.Allerdings produzierten 2010 gar nicht 17 deutsche Atomkraftwerke Strom. Die Pannenreaktoren Krümmel und Brunsbüttel sind seit 2007 vom Netz. Damals war es in Krümmel zu einem Brand in den Notstromdieseln gekommen, was eine Schnellabschaltung nach sich zog. Mit verheerenden und bis heute ungeklärten Folgen: Auch Brunsbüttel wurde in Mitleidenschaft gezogen, im Netz kam es zum Kurzschluss, der etwa in Hamburg Ampeln und elektrische Türen zerstörte.Auch die Blöcke A und B im hessischen Akw Biblis standen 2010 zum größten Teil still. In Neckarwestheim drosselte EnBW das ganze Jahr über die Leistung des Reaktors, um nicht schon vor dem neuen schwarz-gelben Laufzeit-Gesetz vom Netz gehen zu müssen – die Reststrommenge war fast aufgebraucht. Rechnerisch gibt es also bereits heute vier Atomkraftwerke, die überhaupt nicht gebraucht werden.Stromexporteur DeutschlandZudem hat die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen einen so genannten „Stromüberschuss“ berechnet. Deutschland hat enorme Überkapazitäten und entwickelte sich schon vor Jahren zum Stromexporteur. 2010 verkauften deutsche Konzerne 17 Milliarden Kilowattstunden mehr ins Ausland, als sie einkauften. Das entspricht etwa der Jahresnettostromproduktion der beiden Reaktorblöcke in Philippsburg.Macht also sechs Atomkraftwerke, die in Deutschland überflüssig sind. Stephan Kohler, Chef der Deutschen Energie-Agentur dena, fordert, dass zumindest jene sechs Reaktoren sofort abgeschalten werden, die den in Japan für das Desaster verantwortlichen baugleich sind: „Die sechs Siedewasserreaktoren müssen sofort vom Netz.“ Im AKW Fukushima sind Siedewasserreaktoren installiert. Der vom technischen Prinzip her gleiche Reaktortyp ist hierzulande in Brunsbüttel, Isar 1, Krümmel, Philippsburg 1, Gundremmingen B und Gundremmingen C im Einsatz.Holger Krawinkel, Energieexperte des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen, hält darüber hinaus ein Abschalten zwei, drei älterer deutscher Atomkraftwerke für machbar, etwa die Druckwasserreaktoren Biblis B oder Neckarwestheim, die nach dem rot-grünen-Atomkonsens längst stillliegen müssten, oder Biblis A, der älteste und unsicherste Reaktor Deutschlands überhaupt, von dem selbst Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sich nun verabschiedet zu haben scheint. „Der vorhanden Kraftwerkspark könnte Teile der atomaren Produktionsleistung problemlos auffangen“, sagt Krawinkel. Gas- oder Steinkohlekraftwerke etwa stünden als so genannte Regelkraftwerke „in Bereitschaft“.Mehr Kohlendioxid„Prinzipiell machbar, aber nicht sofort“, sagt Uwe Maaßen, Sprecher des Deutschen Braunkohle-Industrie-Verbandes. Steinkohle komme überwiegend aus Australien, Südafrika oder Kolumbien, „allein der Anfahrtsweg nimmt ein, zwei Monate in Anspruch“. Neue Lieferverträge für Erdgas und Steinkohle bräuchten lange Vorbereitungszeiten. Zudem würden die deutschen Kohlendioxid-Emissionen steigen. Dazu sagt Krawinkel: „Alles kann man nun mal nicht haben“.Blieben acht Atomreaktoren übrig, die zur Stromversorgung aktuell notwendig wären. Der „Atomausstieg sofort“ kann also erst morgen kommen. Oder übermorgen: Zwar reden die Politiker seit Jahren von einer „Energiewende“, ihr praktisches Handeln aber wirkt ihr entgegen. Ein Beispiel: Anfang der neunziger Jahre untersuchte das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie das Stromspar-Potenzial von Niedersachsen. Ergebnis: Würden alle Effizienz-Potenziale genutzt, könnte ein großes Kraftwerk vom Netz gehen. Peter Hennicke, Visionär beim Wuppertal-Institut, erfand damals den Begriff des „Einsparkraftwerks“: Das niedersächsische Potenzial auf ganz Deutschland hochgerechnet, könnten durch solche „Einsparkraftwerke“ 25 Prozent des Kraftwerksparks „mit hohem volkswirtschaftlichen Gewinn in etwa zehn Jahren weggespart werden“. Würde man die erforderlichen Investitionen in sparsamere Technologien auf den Strompreis umlegen, stiege dieser um etwa einen Cent pro Kilowattstunde. Zugleich aber würde die effizientere Nutzung von Energie den Verbrauch und damit die kollektive Stromrechnung der Republik um etwa fünf Milliarden Euro senken.Verlässliche RahmenbedingungenDie „Einsparkraftwerke“, die im Rahmen einer Effizienzrevolution errichtet werden sollten, blieben Baupläne. Bei ihrer Veröffentlichung 1995 betrug die jährliche Nettostromerzeugung der deutschen Kraftwerke 437 Milliarden Kilowattstunden. Zehn Jahre später war sie auf 536 Milliarden Kilowattstunden gestiegen. 2010 lag sie schon bei 584 Milliarden. Der Stromhunger steigt, er sinkt nicht.Bleibt also der Umstieg auf erneuerbare Energien. In ihrem Aktionsplan „Erneuerbare Energie“ geht die Bundesregierung davon aus, dass im Jahr 2020 in Deutschland 38,6 Prozent des Stroms aus grünen Kraftwerken kommen. Die Branche selbst glaubt dann sogar deutlich über 40 Prozent ins Netz einspeisen zu können. Neben allen Atomkraftwerken könnten dann auch erste Kohlekraftwerke vom Netz. Allerdings nur, wenn die Politik verlässliche Rahmenbedingungen liefert. Und daran hatte es zuletzt arg gehapert.