Vom Streben nach Würde

Kommentar Die Ethnologin und Präsidentin des Roma-Zentrums, Delia Grigore, zeichnet ein eindrückliches Bild von jahrhundertelanger Stigmatisierung, institutionellem Rassismus und den Feindlichkeiten mit denen Rroma tagtäglich konfrontiert werden
Ansicht der umgestalteten Hausfassade in der Schleswiger Straße in der Dortmunder Nordstadt. Im Rahmen der Ausstellung „Faţadă/Fassade“, HMKV im Dortmunder U
Ansicht der umgestalteten Hausfassade in der Schleswiger Straße in der Dortmunder Nordstadt. Im Rahmen der Ausstellung „Faţadă/Fassade“, HMKV im Dortmunder U

Foto: Christian Huhn

Wohnformen als Spiegelbild der Selbstdarstellung der Rroma– Vom verinnerlichten Stigma zum Streben nach Würde

von Delia Grigore

Die Entwicklung der Wohnformen der rumänischen Rroma steht in unmittelbarem und engem Bezug zur allgemeinen Geschichte der Rroma-Gemeinschaft in Rumänien; eine Geschichte, geprägt von institutionellem Rassismus und Rroma-Feindlichkeit, die mit einem halben Jahrtausend der Versklavung ihren Anfang nahm und mit ihrer systematischen Vernichtung während des Holocaust fortgeführt wurde – die beide den Rassismus der Ausgrenzung verkörpern –, gefolgt von der erzwungenen Assimilation durch das sozialistische Regime – die für die explosionsartige Zunahme des direkten und indirekten Rassismus nach 1990 stellvertretend ist –, und die inmitten der Demokratie, auch infolge des aufstrebenden Nationalismus, zum Rassismus der Ausgrenzung zurückführte.

Die Geschichte der negativen sozialen Repräsentation der Rroma beginnt mit dem falschen Wort, mit dem Gaje die Rroma bezeichnen: ţigan. Im Rromanes existiert das Wort ţigan nicht. Zum ersten Mal im Byzantinischen Reich bezeugt, bezog es sich ursprünglich auf eine Gruppe, die von der offiziellen orthodoxen Religion als ketzerisch angesehen wurde. Es ist abgeleitet aus dem mittelgriechischen athinganos oder athinganoy und bedeutet so viel wie „heidnisch“, „unantastbar“ oder „unrein“. Die erste Erwähnung der Präsenz von Rroma in Konstantinopel findet sich in einem hagiografischen Text, Das Leben des Heiligen Georg des Anachoreten, der um 1068 im Kloster Iviron auf dem Berg Athos verfasst wurde. Darin wird berichtet, dass sich der an der Pest erkrankte Kaiser Konstantin Monomachos im Jahr 1050 an „ein Samariter-Volk, Nachkommen von Simon dem Magier, die Adsincani genannt wurden und für Wahrsagerei und Zauberei berüchtigt waren“, mit der Bitte wendete, die wilden Tiere im Philopation-Park, die er als Ursprung seiner Krankheit vermutete, mithilfe ihrer magischen Fähigkeiten auszurotten.

In den rumänischen Gebieten, in denen er erstmals in Klosterdokumenten aus dem 14. Jahrhundert erwähnt wird, verwies der Begriff aţigan, aus dem später ţigan (Zigeuner) wurde, nicht so sehr weniger auf die ethnische Zugehörigkeit als auf den sozialen Status, und zwar den des Sklaven: In einer Urkunde aus dem Jahr 1385 ist nachzulesen, wie Dan I., Herrscher der Walachei, die Besitztümer des Klosters Vodiţa an das Kloster Tismana übertrug, darunter „40 Zigeuner-Behausungen“.

So entstanden zwei Bedeutungen des Wortes ţigan: Die erste bezeichnet den Zustand der Häresie, die zweite einen Status außerhalb des hierarchischen Gesellschaftssystems. Der Begriff sollte eine zutiefst abwertende Bedeutung in der kollektiven Mentalität Rumäniens und in der rumänischen Sprache behalten. Zahlreiche Sprichwörter und Sprüche aus der rumänischen Folklore sowie gebräuchliche Ausdrücke („wie ein Zigeuner betteln“, „wie Zigeuner am Eingang zum Zelt streiten“) bezeugen, dass der Begriff fast ausschließlich negativ belegt ist – eine semantische Realität, die auch der entsprechende Eintrag im Erklärungswörterbuch der rumänischen Sprache bekräftigt.

Da die Rroma jahrhundertelang nicht als ethnische Identität, geschweige denn als nationale Minderheit anerkannt wurden und Rromanes nicht als Sprache, sondern allenfalls als ,Kauderwelsch‘ galt, konnte der Begriff ţigan sich so tief verwurzeln und weit verbreiten, dass er von den Rroma selbst kollektiv verinnerlicht wurde – so sehr, dass er insbesondere von jenen Rroma angenommen wurde, die nicht Rromanes sprechen. Diese Aneignung eines grundsätzlich abfälligen Begriffs ist sicherlich ein Hinweis auf das geringe ethnische Selbstwertgefühl und das schwach ausgeprägte ethnische Bewusstsein dieser Bevölkerungsgruppe.

Die negative Darstellung der rumänischen Rroma in der Gesellschaft war besonders virulent in Zeiten der Sklaverei, einer Form der absoluten individuellen Abhängigkeit vom Sklavenhalter, die das ethnische Selbstwertgefühl und Selbstbild der Rroma langfristig prägte. Diese währte mehr als fünfhundert Jahre und verortete nicht nur die Rroma außerhalb der Gesellschaft, sondern schloss sie aus dem Kreis der Menschen aus, um sie als Tauschgegenstände oder mobile Güter zu begreifen, die Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt, einschließlich Vergewaltigung und Folter, ausgesetzt waren.

Die geläufigen Rroma-Unterkünfte in den Jahrhunderten der Sklaverei nahmen die Form von halb eingegrabenen Hütten, die ihren niedrigen Status in der Gesellschaft aufs Äußerste verbildlichten. Die Alternative dazu waren die Zelte und Karren der nomadischen Rom*nja, auf die wir später zurückkommen werden, wenn wir uns mit den Zusammenhängen zwischen dem Nomadismus der Rroma und dem durch diese beiden Elemente repräsentierten Lebensstil befassen.

Die Abschaffung der Sklaverei erfolgte im Kontext der westeuropäischen reformistischen Strömungen, die auf die Errichtung eines modernen Europa abzielten, als Teil der Bestrebungen der rumänischen Gebiete, sich schrittweise von der osmanischen Herrschaft zu emanzipieren und die Sympathie des Westens zu gewinnen, um sich so einen Platz in Europa zu sichern – ein Unternehmen, das durch die Aufrechterhaltung einer solch barbarischen Institution wie der Sklaverei bis dahin aussichtslos erschien. Zahlreiche Intellektuelle, darunter viele aufgeklärte junge Bojaren, kehrten nach ihren Studien in Paris oder Wien ins Land zurück und verbreiteten abolitionistisches Gedankengut in der rumänischen Gesellschaft. Dementsprechend forderten die Reformprogramme der Revolution von 1848 die Befreiung der Rroma von der Sklaverei unter Berufung auf das Naturrecht, aber auch wirtschaftliche, philosophische und religiöse Argumente.

Die unter europäischem Druck eingeleitete Emanzipation der Rroma erwies sich jedoch als schwieriger und langwieriger Prozess, der durch die anhaltende Opposition der orthodoxen Kirche und einer Mehrzahl der konservativen Bojaren verzögert wurde. In den meisten Fällen wurde sie von Entschädigungen begleitet: Der Staat kaufte die Sklaven von ihren Besitzern frei. Gelegentlich befreiten Bojaren ihre Sklaven jedoch ohne Entgelt, manche sogar noch vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Abschaffung der Sklaverei – dies waren die Familien der revolutionären Bojaren, Befürworter der Emanzipation.

Doch die Gesetzgebung zur Emanzipation vermochte es nicht, den Status der Rroma in der Gesellschaft grundlegend zu verändern. Das reformistische Programm der Revolution von 1848 und die Politik der nachfolgenden Regierungen vernachlässigten die wirtschaftlichen Probleme – insbesondere die Frage des Eigentums – und die moralischen Aspekte, die sich aus mehr als fünfhundert Jahren Sklaverei ergeben hatten, und beschränkten sich stattdessen auf legale Emanzipation und oft erzwungene Sesshaftmachung. Außerdem bedeutete legale Emanzipation keinesfalls spirituelle Emanzipation. Es fehlte der politische Wille, die Rroma als Bürger der modernen rumänischen Staaten zu akzeptieren. Dies führte dazu, dass viele von ihnen, insbesondere die ehemaligen Sklaven von Bojaren und Klöstern, zu ihren einstigen Herren zurückkehrten und ihnen als Halbsklaven ihre Arbeitskraft gegen Nahrung und Unterkunft anboten. Die fehlende Beachtung der Rroma-Frage in der öffentlichen Politik führte zum Rückfall der Rroma in ihren früheren sozialen Status und zur Stigmatisierung ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Im Laufe der Zeit eröffnete die Marginalisierung und soziale Ausgrenzung der Rroma eine unüberbrückbare soziokulturelle Kluft zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der Rroma-Gemeinschaft.

Etwas besser gestellt waren die nomadischen Rroma – Kupferschmiede, Blech-, Eisen- oder Silberschmiede und Holzschnitzer – die zwar weiterhin ihren früheren Herren dienten, jedoch weniger von ihnen abhängig waren, da sie dank ihrer traditionellen Gewerke in der agrar- pastoralen Wirtschaft der rumänischen ländlichen Gebiete überleben konnten. Ebenfalls ,glücklich‘ schätzen durften sich jene Rom*nja, die sich als assimilierte Rumänen in den Randgebieten rumänischer Dörfer und Städte ansiedelten, im Gegenzug aber ihre ethnische Identität aufgaben, die sie als Quelle der Selbstverachtung und lästiges Integrationshindernis empfanden, die es zu überwinden galt.

Auch nach ihrer Emanzipation wurden die Rroma aus kultureller und sozialer Sicht weiterhin als parasitäre ,Subkultur‘ betrachtet – eine ausgeschlossene soziale Gruppe statt einer strukturierten ethnischen Identität mit den kulturellen Rechten einer anerkannten nationalen Minderheit. Selbst der Minderheitenvertrag von 1919 erkannte die Rroma trotz ihrer ersten Bemühungen, sich zu organisieren und ein ethnisches Bewusstsein herauszukristallisieren, und ungeachtet ihres Bekenntnisses zum Zusammenschluss der rumänischen Siedlungsgebiete im Jahr 1918 nicht als nationale Minderheit an.

Wie wir bereits gesehen haben, zeugt ein bedeutender Teil der rumänischen Folklore (Sprichwörter, Anekdoten, Geschichten, Märchen) von Stereotypen und Vorurteilen, geprägt von Ironie und Verachtung für die Rom*nja, die überwiegend als hinterhältige Diebe und Kriminelle und schmutzige Bettler gezeichnet werden – kurzum als ,Antihelden‘ und Verkörperung des Bösen.

Dieses negative Bild im rumänischen kollektiven Gedächtnis führte zu ethnischem Hass und Rassismus gegen die Rom*nja, die im Kontext der aufkommenden eugenischen Anthropologie, welche die Jüd*innen und Rroma der Verunreinigung der überlegenen ,rumänischen Rasse‘ bezichtigte, in der politisch organisierten Ausrottung der Rroma während des Holocaust gipfelten. Rumänien hält in Europa den traurigen Rekord der Zahl der getöteten Rom*nja: Das Rumänische Komitee für Kriegsverbrechen hat sie offiziell auf 38.000 beziffert, darunter 6.714 Kinder.

Das sozialistische Regime brachte keine wirklichen Veränderungen in Punkto Destigmatisierung, da es die Rroma nicht als nationale Minderheit anerkannte. In einer Gesellschaft, in der Gleichheit mit Rumänentum gleichgesetzt wurde und die einzige Chance sozialer Mobilität darin bestand, sich gesellschaftlich anzupassen, indem man seine ethnische Identität verbarg oder ablehnte, wurde ihre ethnische Identität durch die assimilatorische und nationalistische Staatspolitik systematisch geleugnet. Infolgedessen waren die kulturell kolonisierten Rom*nja, geleitet von der irrtümlichen Annahme, sie könnten ihre historische Demütigung mit einem stabilen Arbeitsplatz, einer Mietwohnung und Zugang zum Schulwesen wettmachen, nicht nur bereit, diese Domination und Akkulturation zu akzeptieren, sondern fühlten sich geradezu geehrt, dies tun zu dürfen. In Wahrheit erlangten sie jedoch keine ethnische Würde, sondern lediglich einen sozioökonomischen Status.

Nach der rumänischen Revolution von 1989 wurden die Rroma nach Jahrhunderten der Ausbeutung vom rumänischen Staat endgültig als nationale Minderheit anerkannt. Doch aufgrund der ethnischen Stigmatisierung und der in der Gesellschaft fortbestehenden Rroma-Feindlichkeit, die sich in interethnischen Konflikten, Gewalt, Hassreden, Polizeibrutalität, Zwangsräumungen, Segregation und weit verbreiteter Diskriminierung äußern, genießen sie die kulturellen Rechte, die sich aus diesem Status ergeben, nicht in vollem Umfang. Obwohl die Rroma eine anerkannte nationale Minderheit sind, werden sie weiterhin als solche ignoriert und stattdessen als schutzbedürftige oder benachteiligte soziale Gruppe behandelt.

Das voreingenommene rumänische kollektive Gedächtnis hat das negative Rroma-Stereotyp konstruiert; das kollektive Denken der Rroma wiederum, welches unter dem Druck dieses negativen Stereotyps ein geringes Selbstwertgefühl entwickelte, verinnerlichte das ethnische Stigma und verstärkte seine eigene negative Selbstwahrnehmung, die sich ferner aus fünf Jahrhunderten der Sklaverei ableitete. In dem Maße, in dem Identität ein soziales Konstrukt ist – das kollektive Selbstverständnis ist das Produkt der Wahrnehmung Anderer und des Glaubens an sich selbst –, leitet sich das geringe Selbstwertgefühl der Rroma von dem verinnerlichten Stigma ab und hat zu einer Ablehnung des ethnischen Selbst als einzige Möglichkeit geführt, die individuelle Lebensgrundlage zu sichern und sich in die gesellschaftliche Hierarchie einzugliedern.

Die Konsequenzen dieser Geschichte unterschiedlicher Formen von Rassismus, Versklavung, Ausrottung und kultureller Kolonisierung lassen sich heute an dem von den Rroma geerbten kollektiven mentalen Modell ablesen, das zu Selbstverachtung und Selbsthass führt. Die Vorstellung, Sklaven und Opfer zu sein, bleibt fest im kollektiven Gedächtnis der Rroma verankert – mit all ihren psychologischen Konsequenzen. Aussagen wie „Ich bin Analphabet, weil ich ein ţigan bin“ oder „Wir sind bloß ţigani, was sollen wir dagegen tun?“ deuten auf die tiefen Spuren hin, die Ausgrenzung und das Paradigma der Selbststigmatisierung in der kollektiven Psyche der Rroma hinterlassen haben.

In Bezug auf das Wohnen als Spiegelbild des Selbstverständnisses der Rroma haben wir bereits gesehen, dass die halb eingegrabenen Hütten in Zeiten der Sklaverei die Stigmatisierung und völlige gesellschaftliche Ausgrenzung der Rroma unmissverständlich visualisierten. Davor, währenddessen und danach waren Zelt und Wagen die bevorzugten Unterkünfte der Rom*nja, die jedoch entgegen des rromantischen Klischees der körperlichen und geistigen Freiheit vor allem eine Überlebensstrategie im Kontext der Wanderarbeit waren.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Phänomen des Nomadismus in der Rroma-Kultur zu analysieren. „Höre nicht auf den, der lange gelebt hat, sondern auf den, der lange gereist ist“ („Ći śun kasθe зivdăs but, tha kasθe phirdăs but Ći śun kasθe зivdăs but, tha kasθe phirdăs but“), besagt ein Rroma-Sprichwort. Insofern es sich um ein frei gewähltes und organisch entwickeltes Kulturmodell handelt, beruhend auf einer traditionellen Interpretation der Welt, Interaktion mit dem Rest der Gesellschaft und Beziehung zur eigenen spirituellen Existenz, kann der Nomadismus mit der kollektiven Psychologie der Rroma in Verbindung gebracht werden: „Wenn das gute Wetter kommt, sind wir wie Vögel“, besagt eine Rroma-Legende. Dies trifft natürlich nur in begrenztem Umfang zu, da der Nomadismus der Rroma nicht hauptsächlich einer archaischen (in Ermangelung eines besseren Worts) Vorstellung der eigenen Existenz entspricht, sondern gleichermaßen ein Ergebnis historischer Ablehnung und Ausgrenzung ist.

Der Nomadismus der Rroma liegt irgendwo zwischen ethnischer Identität (innere Impulse) und wirtschaftlicher Kategorie (kommerzieller Nomadismus beruhend auf sozialer Marginalisierung) oder itineranter Überlebensstrategie. Letztere verleiht der Gemeinschaft einen sozialen Status und bewerkstelligt das, was man einen Kausalkreis nennen könnte: Die Gemeinschaft ist nomadisch, weil sie bestimmten Geschäften nachgeht, für die sie sich räumlich bewegen muss, und sie hat einen marginalen Status, weil sie nomadisch ist, doch dieser Nomadismus wiederum hat (neben seiner ethno-psychologischen Determiniertheit) soziale Ausgrenzung und systemische Zwangsausweisungen als tiefere Ursachen, insofern es den Rroma verboten war, sich dauerhaft niederzulassen. Ohne Rücksicht auf solche Überlegungen wurde der Nomadismus der Rroma lange Zeit als Ursache für ihre ‚mangelnde Anpassung‘ an die moderne Gesellschaft gedeutet, in der Sesshaftigkeit als überlegenes Lebensmodell angesehen und als normal definiert wird.

Es gibt daher einerseits einen strukturellen Nomadismus, der aus dem Rroma-Kulturmodell oder dem Rroma-Ethnotyp hervorgeht und das Ergebnis einer bestimmten Form sozialer und wirtschaftlicher Organisation, ja sogar der Reiselust ist, und andererseits einen konjekturalen Nomadismus, der auf äußere Ursachen zurückzuführen ist, nämlich Ausgrenzung (Vertreibung) und Einschränkung (Versklavung, Inhaftierung, verschiedene Verbote), die beide im Zusammenhang mit der Migration der Rroma stehen.

Die Vorstellung, dass die nomadischen Rroma die eigentlichen Rroma sind, ist lediglich ein Stereotyp, da sich zahlreiche Rroma ohne Zwang niedergelassen haben. Betrachtet man das nomadische Modell als Identitätswert, dann eröffnen sich mindestens zwei Perspektiven: Selbstidentifikation als Annahme und Heteroidentifikation als Wahrnehmung von Unterschieden. Identität ist ein Beziehungswert, der durch Interaktion aufgebaut wird: Der Andere lehnt das, was ich fühle oder für mich beanspruche, ab oder bestätigt es.

Im Fall der Rroma erreichte der Nomadismus diesen Status, weil er auf den stereotypen Erwartungshorizont der Nicht-Rroma reagierte, der wiederum das kollektive Gedächtnis der Rroma beeinflusste und diese identitäre Zuschreibung bestärkte. Das negative Stereotyp entwickelte sich parallel zum positiven Klischee der Freiheit und bestärkte den Nomadismus qua Ausgrenzung. Die Rroma selbst haben (zumindest als Möglichkeit) das nomadische Modell als Zufluchtsort für ihre durch die Assimilation gefährdete ethnische Zugehörigkeit beibehalten. All dies bezeugt, dass der Nomadismus der Rroma eher ein geistiger als ein tatsächlicher Zustand ist.

Schauen wir nun, inwieweit der Nomadismus die Selbstdarstellung der Rroma in ihren Wohngepflogenheiten beeinflusst hat. Dabei berücksichtigen wir zunächst die Art des Lebensraums: Das Leben in einem Zelt impliziert eine besondere Beziehung zur natürlichen Umwelt und eine bestimmte Vorstellung von Eigentum und Wohnen. Während sesshafte Menschen Grundbesitz als positive Erfahrung wahrnehmen und eine existenzielle Philosophie um ihre Häuser und Haushalte herum aufbauen, kennen Nomaden dieses Gefühl der Bindung an den Ort nicht. Sie sind von diesem Bedürfnis nicht eingeschränkt und fühlen sich von der Vorstellung des Territoriums losgelöst – ein Umstand, der spezifische Eigenschaften in ihrem Denken zur Folge hat. Nomaden haben als Naturmenschen schlechthin eine ganz besondere Beziehung zum Universum: Sie wollen nicht einmal durch ein Haus von der Umwelt getrennt sein. Für sie ist das Zelt kein Haus, sondern ein Kleidungsstück, das sie vor Kälte schützen, nicht aber von der Natur trennen soll. Die Idee des Zelts als Kleidungsstück, als Erweiterung des eigenen Wesens, das alle Merkmale eines anthropomorphen Wesens (Mund, Fußsohlen, Kopf) aufweist, hat sich aus einer Philosophie der Freiheit und der Einheit mit der natürlichen Welt heraus entwickelt, aus der harmonischen Vorstellung eines auf das Wesentliche reduzierten, maximal vereinfachten Lebensraums, der es dem Einzelnen ermöglicht, in einer direkten und dynamischen Beziehung zu seiner Umgebung zu leben.

Diese Konzeption des Wohnens hat sich auch nach der freiwilligen oder erzwungenen Sedentarisierung erhalten. Für die Rroma ist der Raum des Hauses ein Kontinuum: Das Zelt, der Karren, das Wohnmobil und später der Wohnwagen sind Räume, die der gesamten Gemeinschaft offenstehen. Genau so wenig wie die Rroma eine Vorstellung von privatem Landbesitz haben, kann man bei ihnen von Privatsphäre im Sinne des Gajikano-Kulturmodells sprechen. Für Rom*nja, die dem Einzelzimmer einen gemeinsam genutzten Raum vorziehen und Ihresgleichen als phrala (Brüder) und phenia (Schwestern) bezeichnen, ist Einsamkeit eine der schrecklichsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Freiheit in Bezug auf andere und ein brüderlich-kollektiver Geist sowie gemeinsame Verantwortung in Bezug auf die eigene Person sind daher Prinzipien, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Selbstrepräsentation der Rroma stehen und die sich sowohl in ihren Wohnverhältnissen als auch in den Beziehungen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft widerspiegeln.

Der Weg, der vom Zelt als einem Symbol des Nomadismus zum Palast als dem Gipfel der Sesshaftigkeit führt, mag kurz scheinen. Der Palast ist genau genommen das Wohnmodell der Kalderasche (Kupferschmiede). Wir sollten nicht vergessen, dass sie die letzten Nomaden Rumäniens waren; ihre erzwungene Sedentarisierung im totalitären sozialistische Regime der 1960er Jahre ging mit einem weiteren Phänomen der Entwurzelung einher, der zwangsweisen Kooperativisierung, die beide im Rahmen der Politik der erzwungenen Assimilation oder (De-)Ethnisierung der Rroma unternommen wurden.

Wir sollten uns auch daran erinnern, dass die Nazi-Diktatur von Ion Antonescu den Nomadismus als Vorwand für ihre Politik der Ausrottung der Rroma nahm. Im Laufe des Holocaust wurden die nomadischen Rroma als erste nach Transnistrien deportiert; schließlich wurden alle nomadischen Rroma deportiert und Zehntausende von ihnen ermordet. Dieser mit dem Nomadismus begründeten Massenvernichtung folgte ein Verbot des Nomadismus während der sozialistischen Diktatur. Dies ist der historische Kontext, in dem der Nomadismus zu einer Art Stigma avancierte, das von den Rroma selbst verinnerlicht wurde.

Auf ihrer ewigen Suche nach einem Status in der Gesellschaft des Anderen mussten die Rroma, damals wie heute, immer etwas beweisen: dass sie menschliche Wesen sind, dass sie sich an andere anpassen können, dass sie Regeln folgen können, dass sie verantwortungsbewusste Bürger sind, dass sie ‚normal‘ sind. Deshalb wollten auch die Kalderasche, die letzten Nomaden Rumäniens, beweisen, dass sie als sesshaftes Volk leben können. Sie taten dies, indem sie nicht nur die Lebensweise der vorherrschenden Kultur kopierten, sich das sesshafte Wohnen angewöhnten und den einheimischen Wohnstil annahmen, sondern letzteren in der Größe übertrafen. Hinter ihrem augenscheinlichen Überlegenheitskomplex verbirgt sich ein tiefliegender Minderwertigkeitskomplex, der sich aus dem verinnerlichten ethnischen Stigma ableitet. Ihr Daheim ist kein Haus, sondern ein Palast, der für die Ewigkeit gebaut ist und an die Nachkommen vererbt wird, um dem Vorwurf oder Stigma des Nomadismus entgegenzuwirken und zu beweisen, dass man ,normal‘ ist, ja sogar besser integriert als viele andere, als jene Andere, von denen man ausgeschlossen wird.

In ihrem Streben nach Würde haben die Rroma eine Image-Kultur entwickelt, in der das, was andere über sie denken, wichtiger ist als das, was sie wirklich sind. In diesem Sinne ist der Rroma-Palast viel mehr als eine Wohnung: Es ist die sichtbare Genugtuung, von der Außenwelt als gut (dikhlo) angesehen zu werden, ein starkes Element der sozialen Repräsentation, der Destigmatisierung und (Re-)Konstruktion des ethnischen Selbstwertgefühls und der Anerkennung in der Gesellschaft.

Doch selbst der Palast weist noch Spuren des angestammten kulturellen Paradigmas des alten Rromanipen (Gesetz der traditionellen Rroma-Kultur) auf: Er ist eine kollektive Wohngemeinschaft für die Großfamilie, bietet drei oder vier Generationen ein Zuhause und fördert so Zusammenhalt und Solidarität. Er muss sauber, unverschmutzt oder rein gehalten werden (ujo), weshalb die Toilette, ein Raum, der als schmutzig, kontaminiert oder unrein (mahrime) angesehen wird, immer ausgelagert wird; dies bezeugt einen starken Glauben an die Notwendigkeit von Reinheit, um Respekt, Ehre und Würde (pakiv) zu erhalten.

Zusammenfassend bezeugt die Geschichte der Wohnarten der rumänischen Rroma den schwierigen Weg der Gemeinschaft vom verinnerlichten Stigma zum Streben nach Würde und positiver Selbstdarstellung in der Gesellschaft. Sie führt von Zelt und Wagen als Symbole des Nomadenlebens über die halb eingegrabenen Hütten als sichtbare Zeichen von Rassismus, sozialer Ausgrenzung, Armut und Ausrottung während der Sklaverei und des Holocaust zu den winzigen Wohnungen im Sozialismus als Symbole erzwungener oder freiwilliger Sedentarisierung und kultureller Assimilation – der Preis für die vermeintliche sozioökonomische Integration – und zu den Palästen, die wir heute sehen.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass es in der Verantwortung des rumänischen Staates liegt, entscheidend zur Destigmatisierung der ethnischen Identität der Rroma beizutragen – gerade weil er seit Jahrhunderten eine gezielte Politik der Stigmatisierung praktiziert. Um das positive kulturelle Gedächtnis der Rroma in einem modernen Kontext und mit modernen Institutionen zu fördern, muss man daher den Fokus von Palästen auf Museen, Theater und Kulturzentren verlagern.

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Delia Grigore, Mitglied der Roma Community, wurde 1972 in Galaţi, Rumänien geboren. Sie promovierte in bildender Kunst und ist auf Ethnografie und Ethnologie spezialisiert (Rumänische Akademie, Institut für Ethnographie und Folklore »Constantin Brăiloiu«, 2004). Sie unterrichtet an der Universität Bukarest, an der Fakultät für Fremdsprachen und Literaturen, Abteilung für Romanes und Roma-Literatur und ist Präsidentin des Roma-Zentrums Amare Rromentza.

25.03.2021, 10:07

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