Ursprünge
Nikole Hannah-Jones
Übersetzt von Tanja Handels
Ich muss fünfzehn oder sechzehn gewesen sein, als mir die Jahreszahl 1619 zum ersten Mal begegnete. Wann immer ich an diesen Moment zurückdenke, steht sie mir als leuchtende Ziffern vor Augen, die sich dreidimensional von der Buchseite erheben. Natürlich waren sie in Wirklichkeit nur als schlichter schwarzer Text auf das billige Papier eines Taschenbuchs gedruckt. Aber auch wenn die Ziffern nicht buchstäblich leuchteten, weiß ich doch noch genau, wie ich mich auf meinem Stuhl zurücklehnte und auf diese Jahreszahl starrte, verwirrt und aus dem Gleichgewicht gebracht von dieser aufregenden Offenbarung, die sich mir da allmählich erschloss.
Die Vergangenheit fasziniert mich, seit ich denken kann. Schon als kleines Mädchen schaute ich mit Begeisterung Dokumentationen und Spielfilme über Ereignisse, die sich in vergangenen Epochen abgespielt hatten. In meiner Zeit auf der Middle School las ich alle Western von Louis L’Amour, die mein Vater besaß, und die komplette Unsere-kleine- Farm-Reihe, weil sie mich in die mythische Zeit der amerikanischen Frontier zurückversetzten. Ich hockte für mein Leben gern im Keller meiner Großeltern, blätterte in den alten Fotoalben mit den quadratischen Schwarz-Weiß-Fotos und wollte mehr über die längst verstorbenen Verwandten wissen, die auf den Bildern festgehalten waren. In der Schule waren meine Lieblingsfächer Englisch und Sozialgeschichte, und ich fragte meinen Lehrerinnen und Lehrern Löcher in den Bauch. Geschichte ließ mich die Bausteine der Welt erkennen, die ich bewohnte, sie bot mir Erklärungen dafür, wie Gemeinschaften, Institutionen und Beziehungen entstanden. Die Beschäftigung mit Geschichte half mir, die Welt zu ver- stehen. Sie schenkte mir die Mittel, all das zu entschlüsseln, was ich um mich herum beobachtete.
Schwarze Menschen allerdings fehlten großmehrheitlich in den Geschichtsbüchern, die ich las. Das Bild der Vergangenheit, das ich aus Schulbüchern, dem Fernsehen und unserem Museum für Lokalgeschichte mitnahm, präsentierte mir eine Welt, in der es – vielleicht ja ein Wunschtraum? – im Grunde keine Schwarzen gab. Die Geschichte machte Schwarze Menschen in den USA, Schwarze Menschen auf der gan- zen Welt bestenfalls zur Fußnote und schlimmstenfalls unsichtbar. Wir traten nur dort in Erscheinung, wo es sich gar nicht vermeiden ließ: Im Kapitel über den verheerendsten Krieg im Land fand die Epoche der Versklavung kurz Erwähnung, danach verschwanden Schwarze für ein komplettes Jahrhundert, um dann wie von Zauberhand wieder aufzutauchen, als Martin Luther King Jr. eine Rede über seinen Traum hielt. Dieser gewaltige Zeitsprung erfüllte den Zweck, die Erfahrung Schwarzen Lebens fein säuberlich auf wenigen Seiten abzuhandeln, bot aber keinerlei Erklärung dafür, warum King, hundert Jahre nach dem Ende der Versklavung, den Marsch auf Washington überhaupt noch anführen musste.
Wir handelten nicht selbst, wir wurden verhandelt. Wir konnten nicht beitragen, nur empfangen. Wir wurden von Weißen versklavt, und wir wurden von Weißen befreit. Schwarze Menschen standen vor der Wahl, von dieser Freiheit entweder Gebrauch zu machen oder sie leichtfertig zu vergeuden, wie es nach Darstellung der Medien scheinbar so viele von uns taten.
Die Welt, die meine Bildung mir eröffnete, war eine weiße Welt. Und doch war meine ganz persönliche Welt – mein Viertel, die Freundinnen und Freunde, mit denen ich tagtäglich zwei Stunden im Schulbus saß, der uns zu unseren Schulen im weißen Teil der Stadt brachte, die ausgelassene Schar aus Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins, die sich zum Grillen und Kartenspielen bei uns zu Hause einfand – größtenteils Schwarz. In der Schule suchte ich verzweifelt nach Möglichkeiten, mich selbst in der Geschichte der USA zu verorten, die man uns beibrachte, mich – uns – als Menschen anerkannt und gespiegelt zu sehen. In der Bibliothek meiner Grundschule zog ich als Erstes Donnergrollen, hör mein Schrei’n von Mildred D. Taylor aus dem Regal, weil es das einzige Buch mit einem Schwarzen Mädchen auf dem Cover war. Und als wir auf der Highschool als Abschlussprojekt im Vertiefungskurs Englisch über eine berühmte Gestalt aus der amerikanischen Literaturgeschichte schreiben sollten, entschied ich mich für den einzigen Schwarzen Dichter, mit dem ich in Kontakt gekommen war: Langston Hughes.
An meiner staatlichen Highschool in Waterloo, Iowa, wurde ein halbjähriges Wahlfach mit dem Titel The African American Experience angeboten, das ich im vorletzten Schuljahr belegte. Im Klassenraum saßen ausschließlich andere Schwarze Jugendliche, und den Unterricht leitete der einzige Schwarze Lehrer, den ich jemals haben sollte. Mr. Ray Dial, spindeldürr, mit einer Haut wie Mahagoniholz und einem schallenden Lachen, das die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen sehen ließ, führte uns mit großem Geschick an die alten Reiche Mali, Songhai, Nubien und Ghana heran (von ihm lernte ich, dass sich die gängige Redewendung from here to Timbuktu eigentlich auf eine Gelehrtenhochburg Afrikas bezieht) und gab uns einen Überblick über die Kulturen, das Wissen und die Zivilisationen, die es in Afrika lange Zeit gegeben hatte, bis Europa beschloss, viele Millionen Menschen gewaltsam in den Frachträumen von Schiffen über die Weltmeere zu schaffen und zu Besitztum umzudeuten. Er brachte uns bei, dass Richard Allen die erste unabhängige Schwarze Gemeinde auf dem amerikanischen Kontinent begründete, und wie erbittert versklavte Menschen für das Recht kämpfen mussten, Dinge zu tun, die für alle anderen Bevölkerungsgruppen selbstverständlich waren, Lesen lernen zum Beispiel oder Heiraten oder die eigenen Kinder nicht aufgeben müssen. Er führte uns an Schwarze Widerstandsbewegungen und Schwarze Literatur heran. Er machte uns nicht nur mit Martin Luther King Jr. bekannt, sondern auch mit Marcus Garvey und Malcolm X, mit Mamie Till-Mobley und Fannie Lou Hamer.
Sein täglicher Unterricht gab mir das Gefühl, als hätte ich mein ganzes bisheriges Leben lang nach Atem gerungen, und nun versorgte mich endlich jemand mit Sauerstoff. Heute ist es mir regelrecht peinlich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich staunte, dass es so viele Bücher über Schwarze Menschen und von Schwarzen Menschen gab, dass diese Schwarzen Menschen tatsächlich eine Geschichte hatten, die man studieren konnte. Ich spürte Zorn und Empowerment zugleich, und diese widerstreitenden Gefühle heizten einen bis heute unstillbaren Hunger nach Wissen über Schwarze amerikanische Geschichte an. Ich fing an, Mr. Dial nach Buchempfehlungen zu fragen, die über die verpflichtende Leseliste hinausgingen, verschlang sie alle und verlangte nach mehr.
»Doktor Hannah!«, rief er mir eines Tages zu und drückte mir mit seinem typischen breiten Lächeln ein Buch in die Hand: Before the Mayflower, ein Werk des Historikers und Journalisten Lerone Bennett Jr. Kaum war ich an dem Nachmittag zu Hause, setzte ich mich an den Esstisch und zog es aus meiner Schultasche. Nachdem ich ein paar Dutzend Seiten gelesen hatte, stieß ich auf diese Sätze:
Es durchquerte einen verheerenden Sturm und brachte eine Ge- schichte mit, die niemand glauben konnte. [...] Ein Jahr vor der An- kunft der gefeierten Mayflower, 113 Jahre vor der Geburt George Washingtons und 244 Jahre vor Unterzeichnung der Emanzipations-Proklamation lief dieses Schiff in den Hafen von Jamestown, Virginia, ein und warf in den trüben Wassern der Geschichte seinen Anker. Den Männern, die diese »niederländische Galeone« in Empfang nahmen, war sofort klar, dass es sich bei ihr nicht um ein normales Schiff handelte. Aus heutiger Sicht erscheint vor allem bemerkenswert, dass niemand erkannte, wie ungewöhnlich sie wirklich war. Denn kein Schiff vor oder nach ihr entlud jemals eine folgenschwerere Fracht.
Moment mal.
Ich war davon ausgegangen, der Titel Before the Mayflower beziehe sich auf die Geschichte Schwarzer Menschen in Afrika, bevor sie hier in unserem Land versklavt wurden. Aber als ich jetzt mit den Fingern die Sätze nachfuhr, wurde mir klar, dass der Titel keine ferne Geschichte Afrikas heraufbeschwor, sondern vielmehr eine amerikanische. Menschen vom afrikanischen Kontinent hatten hier gelebt, in diesem Land, das 1776 zu den Vereinigten Staaten werden sollte, seit die White Lion im Jahr 1619 an seiner Küste vor Anker gegangen war. Und sie waren ein Jahr vor dem legendären Schiff mit den Menschen aus England angekommen, denen die Anerkennung galt, das Land aufgebaut zu haben.
Warum hatte uns keine Lehrperson und kein Lehrbuch zur Geschichte von Jamestown die Geschichte des Jahres 1619 beigebracht?