Panorama der Geld- und Machteliten

Leseprobe Nur radikale Lösungen können Hass und Gewalt noch verhindern. Hans-Christian Lange sieht nur einen Ausweg: Gegenmacht von unten aufbauen und »Bündnisse der Betrogenen« bilden, um mit einem starken Gemeinsinn die Demokratie zurückzugewinnen ...
Der Finanzminister Olaf Scholz.
Der Finanzminister Olaf Scholz.

Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images

Einleitung

1. Die apokalyptischen Reiter der 1920er-Jahre kehren zurück

»Das Ende ist nah – aber für wen?«

– Michael Mann, amerikanischer Regisseur, 2014

Wir stehen wieder am Beginn von 20er-Jahren. Wenn wir zurückblicken, fragen wir uns: Werden sie wieder golden für wenige und grausam für viele – wie die letzten 20er-Jahre vor einem Jahrhundert? Das damalige Jahrzehnt war von Krisen geprägt. Überall tauchten apokalyptische Reiter auf und verbreiteten Angst und Schrecken, Elend und Tod. Die Völker sammelten sich wie heute um ihre Eliten und suchten Schutz.

Die jüdische Journalistin Gabriele Tergit notiert im Jahr 1920 über die Stimmung in Berlin, Paris und New York, dass man »(...) die apokalyptischen Reiter (zu gut kannte), als dass man sich noch über einen mehr gewundert hätte«.

Tergit hatte gerade den Ersten Weltkriegs erlebt, der weltweit über 15 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Zu seinem Ende brach die Spanische Grippe aus. Diese Seuche kostete bis zu 50 Millionen zusätzliche Menschenleben. Weitere Reiter des Unheils folgten. Sie überzogen die Welt mit immer neuen Krisen. Manche von ihnen waren gut erkennbar, manche aber zeigten sich erst, als sich eine noch größere Katastrophe anbahnte.

Heute, hundert Jahre später, zu Beginn der 2020er-Jahre, begegnen wir erneut apokalyptischen Gestalten. Es sind Wiedergänger der früheren. Manche erkennen wir sofort, andere weniger oder überhaupt nicht. Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber bestimmte Gefahren und Risiken durchaus. Der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 zeigt: Fast hätte dort eine kleine Machtclique eine der stabilsten Demokratien der Welt an den Kipppunkt gebracht.

Immer wieder können sich Krisen in Katastrophen verwandeln. So wie in den 1920er- und 1930er-Jahren: Die Krisen kulminierten zur Katastrophe von Diktatur und Weltkrieg. Doch es war nicht der apokalyptische Reiter der Pandemie von 1920, der die endgültige Katastrophe heraufbeschwor. Auch nicht die Hyperinflation von 1923, die die deutsche Bevölkerung enteignete, oder der Börsencrash von 1929 – so wenig wie die Weltwirtschaftskrise von 1930 oder die Massenarbeitslosigkeit. Nichts davon kippte die Demokratie Richtung Diktatur, nichts davon den Frieden Richtung Krieg.

Reiche und Einflussreiche

Es war damals eine kleine Gruppe von Reichen und Einflussreichen, die das verbrochen hat. Sie bildeten die Elite, auf deren Krisenmanagement die deutschen Bürger ihre Hoffnung setzten. Diese Elite sollte vermeiden, dass die Krisen sich zu einer Katastrophe auswuchsen. Aber ihre Worte und ihre Taten standen in einem Widerspruch. An ihren Taten hätte man sie erkennen können. Doch da war es schon zu spät. Darum müssen wir heute, angesichts neuer Krisen, besonders darauf achten, ob die Reden der Eliten sich mit ihren Taten decken oder ihnen widersprechen.

Damals predigten sie Gemeinsinn, Demokratie und Frieden, verstießen aber selbst dagegen. So wurden diese Kasten zum apokalyptischen Reiter. Sie täuschten die Bevölkerung und zerstörten die Demokratie.

Aus der Vergangenheit gelernt?

Heute gibt es eine neue Krise, die Covid-Pandemie, und es gibt neue Eliten. Die Deutschen haben die Unheilsgestalten der Zwischenkriegszeit nicht ganz vergessen. Sie hoffen, dass die Eliten der heutigen, der zweiten deutschen Demokratie aus den Katastrophen gelernt haben und es dieses Mal besser machen. Blicken wir kurz zurück, um das beurteilen zu können.

Die damaligen oberen Kasten hatten überdurchschnittlich von Krieg und Krisen profitiert. Sie bereicherten sich teilweise am Ersten Weltkrieg. Danach erlebten sie goldene 20er-Jahre, die Mehrheit der Deutschen jedoch grausame. Teile der Elite verwandelten sich in eine korrupte Clique. Sie vertraten nicht mehr die Interessen der Bevölkerung, sondern ihre eigenen gegen diejenigen der Allgemeinheit. Was war ihr Motiv? Ihre Hauptangst galt ihren Interessen und ihrem Besitz. Wer bildete diese Kaste? Sie setzte sich aus Großindustriellen, Bankiers, Großgrundbesitzern und hohen Politikern zusammen. Im Weltkrieg und in den darauffolgenden Staatskrisen hatten sie mehr Macht und Einfluss angesammelt, als es ihnen sonst möglich gewesen wäre.

Schicksal eines Elitenkritikers

Schon damals, zu Zeiten der Berliner Journalistin Tergit, warnte ein Mann frühzeitig vor ihnen. Es war der junge Hauptmann Kurt von Schleicher. Er veröffentlichte mitten im Ersten Weltkrieg, während der Schlacht von Verdun, eine Denkschrift, in der er die Bereicherung einiger weniger auf Kosten der Vielen anprangerte. Er empörte sich über die »Kriegsgewinnler«, die als Großindustrielle oder Spekulanten vom Krieg profitierten, während das Volk litt, oder die sogar direkt am Tod von Millionen Soldaten verdienten.

In den liberal-konservativen Führungsschichten echauffierte man sich heftig über Schleichers Pamphlet. Er aber machte trotzdem Karriere und sollte als der »rote General« 16 Jahre später der letzte demokratische Reichskanzler der Republik werden. Historiker bezeichnen ihn als die letzte Chance von Weimar. Verzweifelt versuchte er unter schwierigsten Umständen, Hitlers Machtergreifung zu verhindern. Aber genau die korrupten Eliten, die er als junger Offizier angeprangert hatte, fielen ihm in den Rücken.

Sie hatten das perfekt vorbereitet. Jahre zuvor sammelten Großindustrie und Großgrundbesitzer Gelder und schenkten dem Reichspräsidenten von Hindenburg ein Rittergut. Dieser Fall von Korruption sollte später den Sturz der Demokratie ermöglichen.

Als General von Schleicher Reichkanzler geworden war, beging er im Krisenjahr 1932 zwei fatale Fehler: Er versuchte die Partei Hitlers zu spalten, was dieser vereitelte. Und Schleicher ging daran, die Privilegien der Großgrundbesitzer zurechtzustutzen: Er plante eine Reform, die das Vermögen und Eigentum dieser Kreise bedrohte. Mit beiden Maßnahmen machte er sich erbitterte Feinde, die sich hinter seinem Rücken zusammenschlossen.

Eliten gegen Bevölkerung

Die Verschwörung der Eliten vollzog sich ohne Wissen des Parlaments und der Bevölkerung. Heute wissen wir: Diese hat insgesamt mehr Instinkt gegenüber den Machtambitionen Hitlers bewiesen als die Geldund Machteliten. Die Wähler ließen Hitlers NSDAP die gesamten 1920er-Jahre nicht über den Status einer mickrigen Nischenpartei hinauskommen – und selbst bei den Reichstagswahlen von 1928 erreichte die NSDAP nur 2,6 Prozent der Stimmen. Erst nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit im Jahr 1930 erreichte sie den Höhepunkt von 18 Prozent. Die Wähler verpassten ihr bei den Reichstagswahlen vom November 1932 aber wieder einen entscheidenden Dämpfer – mit einem Schwund von vier Millionen Stimmen. Damit hatte Hitler es versäumt, auf dem Höhepunkt seiner Wahlerfolge nach der Macht zu greifen.

Er trug sich deshalb mit Selbstmordgedanken. Joseph Goebbels notierte in seinem Tagebuch, die gesamte NSDAP-Führung sei der Verzweiflung nahe: »Die Zukunft ist dunkel trübe, alle Aussichten entschwunden.«7 Gemeint waren die Aussichten auf eine legale Machtergreifung. Hitler schrieb seinen Erfolg ab.

Jetzt aber kam es zu einer der tragischsten Wendungen der deutschen Geschichte: Teile der Eliten drehten die Uhr eigenmächtig zurück – und leisteten damit wesentlichen Vorschub für die Diktatur, wie das später auch der Nürnberger Gerichtshof bestätigte.

Lobbyismus, Korruption, Staatserpressung

Ein einflussreicher Vertreter der damaligen Finanzelite und der Großindustrie, der Bankier Kurt von Schröder, fädelte in seiner Kölner Villa ein geheimes Treffen mit Hitler und dem Ex-Kanzler Franz von Papen ein. Dieses Treffen gilt Historikern bis heute als »Geburtsstunde des Dritten Reichs«.

Denn jetzt drängte ein Teil der Großindustrie und der Großgrundbesitzer vehement beim Reichspräsidenten von Hindenburg auf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler.8 Hitler selbst besaß Erpressungsmaterial – in Zusammenhang mit der Schenkung der Eliten an Hindenburg – und übte damit Druck aus. Und tatsächlich erwies sich der Reichspräsident als erpressbar.9 Die kleine Machtclique zwang von Schleicher, den »Sozialisten in Generalsuniform«10, zum Rücktritt und schaltete gleichzeitig den Souverän, das Volk, aus. Sie installierte Hitler ohne Wahlsieg an der Macht. Fünf Wochen später jubelte Goebbels: »Es ist wie ein Traum. (...) Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei.«

Dieser entmachtete wenig später den Reichstag, der bald darauf in Flammen aufging. Er hatte allerdings nicht vergessen, dass von Schleicher einer seiner gefährlichsten Gegner war. In der »Nacht der langen Messer« im Juni 1934, in der der neu gekürte Diktator mit politischen Gegnern abrechnete, schickte er ein SS-Kommando zum Haus des roten Generals, der sein Land nicht verlassen wollte, und ließ ihn illegal erschießen. Der gefügige Reichstag verabschiedete ein Gesetz zur »Staatsnotwehr«, das diese Mordtaten legalisierte.

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02.08.2021, 18:08

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