Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben

Leseprobe Wer weniger braucht, muss weniger arbeiten und verdienen, schont zugleich die natürlichen Lebensgrundlagen, lebt zufriedener und gesünder. Ob Stadt- oder Landmensch, dieses Buch zeigt Perspektiven für ein freies, umwelt- und klimafreundliches Leben
Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben

Foto: JOSE JORDAN/AFP via Getty Images

Sehnsuchtsort und Wunderdroge


Wenn die Sonne an der Nord- und Ostseeküste untergeht, versammeln sich allabendlich an unzähligen Orten Menschen am Strand und auf den Seebrücken, die wie Zungen ins Meer hineinragen. Sie alle wollen Zeuge eines Naturschauspiels sein, Zeuge vom Abschied des Tages und vom Beginn der Nacht. Sie schauen gen Westen über das weite Meer, auf die untergehende Sonne, auf den Himmel mit seinen wechselnden Farben, belebt von den segelnden Botschaftern der Natur, den Vögeln. Schönheit und Freiheit sind in diesen Momenten vereint, in uns und um uns herum. Wir sind Teil des Geschehens und lassen uns mitnehmen. Wir haben uns danach gesehnt.

Im Herbst scheint sich diese Sehnsucht nochmals zu steigern. In kilometerlangen Schlangen aneinandergereiht schauen Menschen gespannt bis meditierend zum Horizont mit seinen bizarren Wolkenbildern: Frauen und Männer aller Generationen, Kinder, Mütter mit ihren Säuglingen auf dem Rücken, dazwischen ein aufgeregter kleiner Hund. Fast alle sind ausgerüstet mit Ferngläsern und Spektiven, mit Fotoapparaten mit und ohne Stativ, andere halten ihre Handys für Schnappschüsse bereit. Wie abgesprochen sind sie zum Tagesausklang auf die Deichkrone gekommen, um Zeugen eines der faszinierendsten Naturschauspiele zu werden, des alljährlichen Vogelzuges an einem der bedeutendsten Rastplätze.

Der Einflug der Kraniche steht bevor. Tagsüber suchen die majestätischen Vögel im Umland nach Futter, doch am Abend, kurz vor Sonnenuntergang, kehren sie an ihre Schlafplätze zurück. Es sind die bewährten und sichersten Orte für eine ungestörte Nachtruhe, die Inseln und die Lagunen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft zwischen der Halbinsel Darß – Zingst und der Insel Hiddensee. Aus vielen Richtungen steuern Tausende der eleganten Segler auf ihre Schlafplätze zu. Jeder Kranich hat seinen ganz eigenen Ruf, so unverwechselbar wie der Fingerabdruck eines Menschen. Die vielstimmigen, trompetenartigen Kontaktrufe, mit denen sich die einzelnen Mitglieder der Vogelfamilien untereinander verständigen, sind für Naturfreunde der Inbegriff von Zugehörigkeit, von ansteckender Sehnsucht und von Fernweh. Diese Gefühle scheinen sich auf die Beobachter zu übertragen.

Das Naturerleben ist ein Urbedürfnis des Menschen. Ein tiefes Verlangen danach steckt in uns. Unser Körper braucht den Naturkontakt, die Berührung und die Reibung. Wir wollen die Natur immer wieder spüren, um uns unserer Lebendigkeit bewusst zu werden. Doch nicht nur Haut und Sinne wollen Natur erfahren, auch unsere Seele verlangt nach ihr. Naturerfahrung ist Seelenpflege.

Der Weg zur Natur ist ein Weg zu uns selbst. Wer bin ich? Lebe ich so, wie ich leben will, oder lebe ich nach einem fremden Programm, ferngesteuert? Die Begegnung mit der Natur hilft uns, das Wichtige, das Wesentliche zu erkennen. Abgeschaltete Sinne werden wiederbelebt. Das Lebenstempo wird gedrosselt. Innehalten ist angesagt. Wir atmen tief durch, genießen die saubere Luft und bemerken vielleicht, was uns im Leben tatsächlich fehlt: Zeit und Zuwendung.

Die Natur kennt keine Zeitnot. Und wir Menschen? Wir können uns an der geschenkten Zeit bedienen, aber sie ist für uns limitiert. Zeit ist eine Kostbarkeit. Nur mit Zeit ist auch Zuwendung möglich. Nur mit Zeit können wir uns kümmern, um uns und um unsere Mitwelt. Wie konnte es dazu kommen, dass wir beides arg vernachlässigen?

Wir haben die innere wie die äußere Natur aus dem Blick verloren. Körper und Seele leiden unter Entzug, sie drohen zu schwächeln und zu verkümmern. Nicht nur wir Menschen, die komplette Natur steckt in einer verhängnisvollen Misere, einer Misere, die wir lange nicht sehen wollten. Jetzt ist das Wegschauen nicht mehr möglich. Wir Menschen selbst sind die Verursacher der Umweltkrisen, die uns von allen Seiten treffen, aus der Luft, dem Wasser, der Erde und aus der Welt der Mikroben. Diese heranrollenden Krisenlawinen sind letztlich Ausdruck unserer Sinnkrisen. Wenn die Natur unser Hausarzt wäre, würde sie uns Besinnungslosigkeit oder gar Bewusstlosigkeit attestieren.

Die erfreuliche Nachricht: Besinnung und Bewusstsein lassen sich zurückgewinnen, neu aufbauen. Dafür brauchen wir Wissen und Begeisterung. Wir sind die Lernenden. Für die Lernstunden müssen wir Termine einplanen, Zeit, die wir in der »Universität Natur« verbringen, um ihre Weisheiten zu verstehen und sie in unser Leben hineinzulassen. »Natur neu lernen« steht nun auf dem Plan.

Wo finden wir sie, unsere Lehrerin? Wir können sie vielleicht schon bei einem bewussten Blick durch das Fenster einfangen. Sie wartet auf alle Fälle im nächsten Park, aber ganz besonders draußen vor den Toren der Stadt. Das weite Land ist die Hauptadresse für Naturbegegnungen. Es lohnt sich, die gewohnten Gemäuer – auch die im Kopf – hinter sich zu lassen, Wälder und Wiesen, Flüsse und Seen aufzusuchen und dort Zeit zu verbringen. Hier sprudeln unerschöpfliche Quellen für unsere Genesung.

Der bewusste Aufenthalt in diesen Naturräumen lässt uns aufblühen, er euphorisiert. Wo wir uns in der Falle wähnten, werden kreative Lösungen sichtbar. Die Natur hält sie parat. Das Wahrnehmen der kleinen Wunder, der Blütenbesuch einer Hummel, der gaukelnde Flug eines Falters, die ersten Lieder der Meisen im Frühling lassen in uns auftauen, was erstarrt zu sein schien. Es sind unsere körpereigenen Drogen, die Endorphine, die ganz von selbst reichlich ausgeschüttet werden und in uns eine tiefe und nachhallende Lebensfreude auslösen. Diese Glückshormone sind auch der Schlüssel für starke Abwehrkräfte und das Fundament für eine stabile Gesundheit, für unser Wohlbefinden. Wir brauchen die Energie von innen wie von außen, um aus dem Krisenmodus auszusteigen. Die Natur hält alles bereit, was wir zum guten Leben brauchen.

Wollen wir gemeinsam aufbrechen und uns auf die Suche begeben? Lassen Sie sich einladen, einen tieferen Blick aufs Land und seine natürlichsten Geschenke zu werfen, Geschenke, die uns Lebensglück bescheren können.

Wo wir stehen

Das Leben auf dem Land ist öde, langweilig und Arbeit gibt es auch keine. Man hockt in seinem Kaff, es gibt nichts zu kaufen, kein Café, keinen Arzt weit und breit, keine Apotheke, keine Schule, das Internet läuft mit Einschlafgeschwindigkeit und nur selten verirrt sich ein Bus in diese Einsiedelei. Wozu auch für die paar Übriggebliebenen? Man fühlt sich vergessen, verlassen, abgehängt, ja abgeschnitten vom Puls der Zeit. Das Leben findet anderswo statt. Die Jugend hat die Flucht angtreten. Nur ein paar Alte harren noch aus, ihre Arme verschränkt, starren sie in eine Welt, die sie nicht mehr verstehen – Relikte aus einer vergangenen Epoche. An Schönwetterwochenenden fallen mancherorts die Landlust-Anhänger ein, sie suchen die Idylle, die Dorfromantik. Diese »Zugvögel« tanken Energie, genießen die freie Natur auf ihrem gepflegten Bilderbuchgrundstück, doch sie bleiben flüchtige Fremde.

Ist das alles, was das Dorf zu bieten hat? Daran will ich nicht glauben. Ist das Landleben wirklich unzumutbar geworden? Mitnichten! In keiner Stadt der Welt kann ich so viele Sonnenstunden genießen wie in meinem Dorf. Die Tage geizen nicht mit Licht und die Nächte sind noch wahrhaft dunkel, sternenklar und mäuschenstill. Ich kann auf der Milchstraße mit meinen Augen umherwandern, umgeben von Tausenden von Sternen. Das Universum ist für mich geöffnet und die Natur liegt mir zu Füßen. Den innigen Wunsch in Bertolt Brechts Geschichten des Herrn Keuner, »Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen«, teile ich und Tag für Tag will ich ihn mir erfüllen, ohne erst »ins Freie« fahren zu müssen.

Der Fluss gleich nebenan, zehn Minuten zu Fuß, lädt mich zur Privataudienz ein. Zu jeder Stunde hat er geöffnet, wir tauschen uns aus und teilen manche Geschichte, manches Geheimnis. Er lebt seinen ganz eigenen Rhythmus, in seinem Auf und Ab, nur selten zeigt er sich im Mittelmaß. Er schwankt zwischen seinen Extremen, zwischen dem Überfluss und dem Mangel. Die weiten Wiesen der Flussaue gewähren mir den freien Blick. Zugleich spüre ich in meinem Rücken die schützende Geborgenheit des Waldes. Um die unendliche Lebensvielfalt zwischen Himmel und Erde wahrzunehmen, wünsche ich mir manchmal Facettenaugen, wie sie die Libelle besitzt.

Nach Jahrzehnten gesammelter Erfahrungen habe ich die Gewissheit gewonnen: Die Rückkehr auf das Land hat mir meine Freiheit, meine Selbstbestimmung, meine Gesundheit und meine Lebensfreude zurückgegeben. Fernab des Lärms und Gedränges kann ich der sein, der ich bin, so sein, wie mir gerade ist, das tun, wonach mir verlangt. Auch wenn wir es vergessen haben: Die Natur ist unser Zuhause.

26.07.2021, 09:53

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