„Die Verjährung“: Geschichte eines Helden

Leseprobe Gulag, Weltkriegsschlachten, Todesurteile, Emigration: Petr Stančík hat die Geschichte von Pravomil Raichls Leben aufgeschrieben. Ein Leben, das in vollen Zügen genossen wurde, aber auch die dunklen Seiten des 20. Jahrhunderts durchwandern musste
1939: Als der Zweite Weltkrieg begann, war Tschechien bereits ein halbes Jahr von Deutschland besetzt gewesen
1939: Als der Zweite Weltkrieg begann, war Tschechien bereits ein halbes Jahr von Deutschland besetzt gewesen

Foto: Keystone/Getty Images

Praha, Montag, 25. Februar 2002

Die Dunkelheit ist nicht vollkommen.

Es stört sie die Mondsichel, deren Licht durch die Wolken streut. Auch die flackernde Straßenlaterne an einem Mast mit rundem Rücken. Die unscharfe Aura des Fernsehers hinter dem Fenster des Nachbarhauses. Die grünlichen Zeiger der Armbanduhr, bedeckt mit einer dünnen Schicht Uran aus Jáchymov.

Nur ganz nebenbei, das ist eine unzerstörbare und manchmal sogar ärgerlich genaue B-Uhr der Luftwaffenpiloten,

hergestellt im Jahr 1943 von der deutschen Firma A. Lange & Söhne. Dass es eine Fliegeruhr ist, erkennt man an dem auffällig großen Zifferblatt und einer so rundlich dicken Krone, dass man sie auch in Handschuhen aufziehen kann. Und an dem von zwei Punkten umgebenen Dreieck oben anstelle der Zwölf. Er hatte sie einem Agenten der Abwehr vom Handgelenk genommen, den er im Krieg eigenhändig vor Branisko mit dem Seitengewehr durchbohrt hatte. Gott weiß, wem der Tote sie vorher abgenommen hatte.

Keine der Lichtquellen ist aber stark genug, dass er darin irgendetwas anderes als die eigene Existenz hätte sehen können. Deshalb knipst er eine kleine Batterietaschenlampe an, nimmt sie zwischen die Zähne und knackt mit seinem Dietrich geschickt das Schloss. Erst am Zauntor, dann an der Haustür. Man merkt, dass er das nicht zum ersten Mal tut.

Endlich ist er drin. Vorsichtig schließt er die Tür hinter sich. Er steht im Flur. Es riecht nach Schweißfüßen und Schuhcreme. Er zieht einen Nagant aus der Tasche und kontrolliert ihn noch ein letztes Mal. Er klappt ihn auf und dreht die Trommel herum, mit der Fingerkuppe spürt er, dass in allen sieben Kammern des Zylinders eine Patrone steckt.

In Ordnung.

Irgendwo in der Ferne brummt der Kessel der Zentralheizung und gleich darauf läuft tickend das Rädchen des Gaszählers los.

Auf einmal dreht es sich in seinem Kopf, er schnappt nach Luft und das Herz schlägt ihm im Brustkorb wie ein Pferdehuf im Trog. Seine Beine brennen vom Knie abwärts als seien sie in Säure getaucht. Er beginnt zu taumeln, stützt sich mit dem Rücken an der Wand ab, rutscht dann an ihr herab und landet schwer auf der Oberfläche des Schuhschranks, der mit wasserdichtem Stoff bezogen ist.

»Keine Angst. Der Herrgott will dich noch nicht und der Teufel fürchtet dich«, murmelt er vor sich hin. »Nur ein bisschen ausruhen und gleich ist es wieder gut.«

Nach einigen Minuten hält der Gaszähler an und in diesem Augenblick hört das Herz auf, verrückt zu spielen.

Als würde das Schlagen durch Gas angetrieben, denkt er und lächelt in der Dunkelheit über diese Vorstellung.

Schon fühlt er sich wieder wie in jungen Jahren.

Er steht vom Schuhschrank auf und staubt sich den Rücken ab. Obwohl er es nicht sehen kann, spürt er ganz physisch, dass seine blaugraue Paradeuniform weiß ist vom Putz.

Blind tappt er den Gang entlang, und als er sich nicht sicher ist, zündet er für einen Augenblick zwischen den

Fingern die Lampe an. Er biegt um die Ecke. Nach ein paar Schritten verspürt er einen Luftzug im Gesicht und hört ein leises Schnurren. Auf dem gusseisernen Heizkörper steht ein komplizierter Mechanismus, der abgesehen von den dünnen Stahlachsen bis zum letzten kleinen Teil von Hand mit einer Laubsäge aus dünnem Sperrholz ausgesägt und mit bunten Farben angemalt wurde.

Wenn das Wasser den Heizkörper erwärmt, bringt die aufsteigende warme Luft einen Propeller zur Drehung und der treibt mit Hilfe von Hebeln, Nocken und Zahnrädern kleine Märchenfiguren an. Der Prinz kniet nieder, küsst Schneewittchen und steht wieder auf. Schneewittchen steht aus dem Glassarg auf und legt sich wieder hinein, die sieben Zwerge schürfen inzwischen tief unter ihnen die Edelsteine des Uranerzes aus dem Felsen. Alle Bewegungen wiederholen sich abgehackt immer wieder aufs Neue in einer Zeitschleife, solange der Heizkörper nicht aufhört zu heizen.

Hinter der Märchenmaschine beginnt die zweifach gewendelte Treppe in den ersten Stock. Genau dort muss er hin, dort ist sein Ziel. Er tritt vorsichtig und leicht auf, aber die Stufen knarren dennoch unter seinen Füßen.

Beim letzten Mal als er hier war, vor 35 Jahren, knarrten sie noch nicht. Vanz hatte sich so nach dieser Villa gesehnt und jetzt kümmert er sich nicht ordentlich um sie.

Oben öffnet er eine weitere Tür und befindet sich im Arbeitszimmer. Es wirkt streng und unpersönlich, die Bücher in den Regalen sind sorgfältig nach der Größe geordnet. Nirgendwo ist etwas zu sehen, was den Geschmack, die Vorlieben oder den Charakter ihres Besitzers verraten würde. Nur auf dem prunkvollen Mahagonischreibtisch steht ein gut einen halben Meter langes Metallmodell des schweren sowjetischen Panzers IS-2,

IS wie die Initialen Iossif Stalins, wie auch sonst. Der Panzer ist schön und man sieht ihm überhaupt nicht das ganze Leid und die Demütigungen, den Schmerz und den Schweiß an. Solche Luxusartikel wurden in den 50er Jahren in den Gefängniswerkstätten von den Verurteilten für die Bonzen hergestellt, die sie sich dann gegenseitig zum Geburtstag oder zur Beförderung schenkten. Die Häftlinge bekamen für ihre Arbeit ein bisschen zusätzliches Essen oder eine Schachtel Zigaretten. Und manchmal auch nur, dass sie an diesem Tag weder gequält noch geschlagen wurden.

Er dreht den Turm nach links und aus dem Kanonenrohr Kaliber 122 Millimeter kommt eine filterlose Zigarette der Marke Partyzánka. Automatisch steckt er sie sich in den Mund. Der Arzt hat ihm zwar schon vor langer Zeit verboten zu rauchen, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Die Zigarette ist antiquarisch alt und vertrocknet, schmeckt nach Seife, das Papier reißt schmerzhaft von den Lippen und klebt sich wieder fest.

Der Rauch zwingt ihn zu husten, weshalb er die Zigarette lieber fallen lässt und den glühenden Stummel mit dem Absatz zermalmt.

Durch die letzte Tür gelangt er ins Schlafzimmer. Vorsichtig leuchtet er auf das Bett. Heute ist er da. Der alte Mann wälzt sich unter der Bettdecke unruhig von einer Seite auf die andere, findet aber in keiner Stellung Ruhe. Im Schlaf schmatzt, seufzt und ächzt er ganz unterschiedlich.

Sein Gesicht verzieht sich zu seltsamen Grimassen, die nicht an Lachen, Weinen, Erstaunen, Wonne oder Schmerz erinnern, sie haben einfach nichts mit menschlichen Emotionen zu tun. Das Kissen ist um den Kopf herum schweißgetränkt, das erinnert an einen geschändeten Heiligenschein. Er murmelt etwas Unverständliches, manchmal schreit er auf, dann wieder atmet er eine lange Zeit nicht, sodass es aussieht, als sei er endlich gestorben, aber am Ende springt er jedes Mal wieder an – wie eine beschädigte, aber noch nicht ganz kaputte Maschine.

Der Mond vor dem Fenster kommt hinter den Wolken hervor. Im Glas auf dem Nachttisch glitzert etwas auf. Das Glasauge eines Zyklopen, schwerelos schwebend in Salzlösung.

Der sichtbare Beweis, dass er es ist.

Er fährt sich mit der Hand über die Medaillen auf der Brust, alle sind an ihrem Platz. Um den Hals knöpft er sich noch das Band mit dem Orden. Aus Gewohnheit glättet er die Bügelfalten an der Hose. Jetzt ist er bereit. Jetzt kann er Gerechtigkeit walten lassen.

Mit dem Daumen spannt er den Revolverhahn, die Trommel dreht sich dadurch um eine Öffnung. Es macht Klick. Überhaupt nicht für den Effekt, wie man das in amerikanischen Filmen sehen kann. Die russischen Nagants wurden nur für die Offiziere mit Double-Action-Abzug angefertigt. Bei der Version für die Unteroffiziere und die Mannschaften musste vor jedem Schuss der Hahn gespannt werden, damit die Soldaten nicht die Munition vergeudeten. Er zielt und lässt in seiner rechten Pupille Kimme und Korn und den unruhigen Körper im Bett zu einer Linie verschmelzen.

»Im Namen der Republik! Karol Vanz, wegen vorsätzlichen Mordes an Divisionsgeneral Heliodor Píka und anderer für immer unverjährbarer Verbrechen verurteile ich dich zum Tod durch Erschießen. Das Urteil vollstrecke ich unverzüglich«, sagt er laut und feierlich in die Dunkelheit, aber noch bevor er abdrücken kann, fährt ein lähmender Schmerz aus der Hand, die den Revolver hält, in seine Brust. Er hat im Leben viel Schmerz erlitten, aber dieser hier ist ganz anders. Fast körperlos, von Emotionen bereinigt, perfekt symmetrisch wie ein Kristall. Ein absoluter Schmerz springt in die absolute Glückseligkeit und wieder zurück, in einer immer schnelleren Amplitude, bis beide Gefühle zusammenfließen.

Das Herz hört auf zu schlagen und er stürzt zu Boden wie eine von ihren Fäden befreite Marionette.

Ein letzter Gedanke kommt ihm in den Sinn: Gott, Gott, warum hast du mich ihn nicht töten lassen? Dann

stirbt sein Körper.

Der Mann auf dem Bett schläft unruhig weiter und ahnt überhaupt nicht, dass gerade unbemerkt die Geschichte

an ihm vorübergegangen ist.

Sibirien, Sonntag, 11. Mai 1941

Über eine Woche schleppe ich mich durch die menschenleere Taiga. Zu essen gibt es hier erstaunlicherweise mehr als im Lager. Es wachsen hier eine Menge Himbeeren, Moosbeeren und Pilze. Manchmal fange ich mit der Hand einen Taimen oder eine Forelle.

Endlich stieß ich auf ein Lager der Ureinwohner. Sie haben platte runde Gesichter mit hervorstehenden Backenknochen, die Männer tragen lange, herunterhängende Schnurrbärte, die Frauen Messingringe in den unnatürlich langgezogenen Ohrläppchen. Der Anführer versteht ein paar Worte Russisch. Ich bat ihn, mich ihnen anschließen zu dürfen. Er beriet sich eine Weile mit dem Schamanen und sagte dann, dass der Stamm mich aufnimmt, wenn ich drei Aufgaben erfülle: Erstens ein Gewehr repariere, zweitens ein Rentier fange und auf ihm um das Lager reite, drittens die Prüfung »Jir« bestehe.

Was dieses Jir bedeutet, wollte oder konnte er mir nicht erklären.

Das Gewehr reparierte ich leicht. Es war ein alter Armeewiederlader Mosin und irgendein Künstler hatte versucht, in die Patronenkammer ein größeres Kaliber zu stecken, wahrscheinlich von einer deutschen Mauser 7,92 mm. Ich nahm es auseinander, stieß die verklemmten Patronen heraus, schmierte den Verschluss mit Wolfsfett, das sie hier hatten und welches Öl noch am nächsten kam, und setzte das Gewehr wieder zusammen.

Morgen mache ich mich daran, ein Ren zu fangen.

29.03.2023, 19:30

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Biografie Petr Stančík, Jahrgang 1968, gehört zu Tschechiens wichtigsten Autoren der Gegenwart. In seinen Werken bietet er eine erfrischende Mischung aus Fakten, Mystik, Humor und zügelloser Phantasie. Neben Romanen schreibt er auch Literatur für Kinder
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