Leseprobe : Gesamtdarstellung des Nahostkonflikts

In seinem gut recherchierten Werk, das kurz vor dem Anschlag am 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde, geht Nathan Thrall auf die Geschichte der Besetzung ein und macht sichtbar, was oft übersehen wird: das Leben der Menschen in einem zerrütteten Land

Felsendom und Klagemauer in Jerusalem
Felsendom und Klagemauer in Jerusalem

Foto: IMAGO/Bridgeman Images

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Ein Tag im Leben von Abed Salama

Ein Tag im Leben von Abed Salama

Nathan Thrall

Hardcover

296 Seiten

26 €

In Kooperation mit Pendragon Verlag

Ein Tag im Leben von Abed Salama

Prolog

Am Abend vor dem Unfall konnte Milad Salama die Vorfreude auf den Klassenausflug kaum noch im Zaum halten. „Baba“, sagte er und zerrte am Arm seines Vaters Abed, „ich möchte für morgen was zu essen kaufen, für das Picknick.“ Sie waren in der Wohnung von Abeds Schwiegereltern, die ganz in der Nähe einen kleinen Gemischtwarenladen besaßen. Abed ging mit seinem fünfjährigen Sohn durch eine der engen Gassen von Dahiyat a-Salaam, einem Viertel ihrer Heimat Anata.

Auf einer Straße ohne Bürgersteige bahnten sie sich ihren Weg durch geparkte Autos und stockenden Verkehr. Über ihnen hing ein Geflecht aus Kabeln, Drähten und Lichterketten, weit überragt von den sich auftürmenden Hochhäusern, vier-, fünf- oder sogar sechsmal höher als die Sperranlage, die acht Meter hohe Betonmauer rund um Anata. Abed erinnerte sich an eine Zeit, gar nicht lange her, da war Dahiyat a-Salaam noch ländlich und überschaubar gewesen und konnte sich noch ausdehnen, nicht nur in die Höhe. Im Laden kaufte Abed für Milad eine Flasche des israelischen Orangengetränks Tapuzina, eine Packung Pringles und ein Überraschungsei, seine Lieblingsschokolade.

Früh am nächsten Morgen half Abeds Frau Haifa, schlank und hellhäutig wie Milad, dem Jungen in seine Uniform: ein weißes Kragenhemd, ein grauer Pulli mit dem Emblem der privaten Grundschule Nour al-Houda und eine graue Hose, die er wegen seiner schmalen Taille immer wieder hochziehen musste. Milads neunjähriger Bruder Adam war bereits fort. An der Straße machte sich ein weißer Schultransporter durch Hupen bemerkbar. Milad beeilte sich mit seinem üblichen Frühstück aus Olivenöl, Zatar und Labneh, die er mit einem Stück Fladenbrot auftunkte. Breit lächelnd packte er sein Mittagessen und die Süßigkeiten ein, küsste seine Mutter zum Abschied und huschte durch die Tür. Abed schlief noch.

Als er aufstand, war der Himmel grau und es schüttete, dazu kamen so starke Windböen, dass manche Leute sicht- lich Mühe hatten, geradeaus zu gehen. Haifa blickte mit finsterer Miene aus dem Fenster. „Kein schönes Wetter.“

„Bedrückt dich irgendwas?“, fragte Abed, eine Hand auf ihrer Schulter.

„Ich weiß nicht. Bloß so ein Gefühl.“

Abed arbeitete bei der israelischen Telefongesellschaft Bezeq, hatte aber den Tag frei. Er und sein Cousin Hilmi fuhren gemeinsam nach Dahiyat a-Salaam, um bei seinem Freund Atef, der dort eine Metzgerei hatte, Fleisch zu kaufen. Atef war nicht anzutreffen, was selten vorkam. Abed bat einen der Angestellten, nachzufragen.

Atef lebte in einem anderen Teil Jerusalems, Kufr Aqab, einem dicht besiedelten Stadtviertel mit hoch aufragenden, uneinheitlichen und planlos hingesetzten Hochhäusern, das ebenso wie Dahiyat a-Salaam durch einen Checkpoint und die Mauer vom Rest der Stadt abgegrenzt war. Um sich den täglichen Verkehrsstau und die Wartezeit am Checkpoint zu ersparen, die Stunden dauern konnte, nahm er zur Arbeit einen Umweg in Kauf.

Atef erklärte, er stecke in einem fürchterlichen Stau. Vor ihm hatte es anscheinend eine Kollision gegeben, auf dem Weg zwischen zwei Checkpoints, der eine am Qalandia-Flüchtlingslager und der andere bei der Siedlung Jaba. Kurz darauf bekam Abed einen Anruf von einem seiner Neffen. „Ist Milad heute auf seinem Ausflug? Es gab einen Unfall mit einem Schulbus, nicht weit von Jaba.“

Abed drehte sich der Magen um. Er verließ mit seinem Cousin Hilmi die Metzgerei und stieg in dessen silbernen Jeep. Sie fuhren den Hügel hinunter durch den morgendlichen Verkehr, vorbei an den Autolackierereien mit hebräischer Beschriftung für jüdische Kunden, in denen gerade die Jugendlichen an die Arbeit gingen, vorbei an Milads Schule und dann an der Mauer entlang. Die Straße machte eine Biegung um die Wohnbebauung der Neve Yaakov-Siedlung und führte dann den steilen Hügel hinauf nach Geva Binyamin, eine jüdische Siedlung, auch Adam genannt – genau wie Milads älterer Bruder.

An der Kreuzung in Adam hielten Soldaten alle Wagen an, die sich dem Unfallort näherten, und brachten den Verkehr zum Erliegen. Abed sprang aus dem Jeep. In der Annahme, der Unfall sei nicht so schlimm, verabschiedete sich Hilmi und machte kehrt.

Noch am Tag zuvor hätte Abed Milads Teilnahme an dem Ausflug beinahe verhindert. Allerdings keineswegs aus Weit- sicht, sondern bloß aus Unachtsamkeit.

Er war mit Hilmi in Jericho gewesen und hatte auf dem flachen, staubigen Grund der tiefstgelegenen Stadt der Welt gestanden, 250 Meter unter dem Meeresspiegel, als Haifa ihn anrief und fragte, ob er die 100 Schekel für Milads Ausflug bezahlt habe. Das hatte er tatsächlich vergessen. Haifa war es eigentlich nicht recht gewesen, dass Milad mitfuhr, doch sie hatte eingelenkt, als sie sah, wie wichtig es ihm war, dabei zu sein. Tagelang hatte Milad fast nur von dem Ausflug gesprochen. Während Haifa nun telefonierte, schwirrte er durch das Haus ihrer Eltern und erwartete aufgeregt die Rückkehr seines Vaters, mit dem er Süßigkeiten kaufen gehen wollte. Es war schon spät. Erreichte Abed die Schule nicht mehr, bevor sie geschlossen wurde, würden sie Milad am nächsten Morgen nicht in den Bus lassen.

Es war mitten am Nachmittag, aber kühl und bedeckt, der Sturm des folgenden Tages zog bereits auf. In der Ferne rauschte es in den Dattelpalmen. Abed drängte Hilmi, sich auf dem Rückweg zu beeilen.

Hilmi hatte in Jericho zu tun. Er hatte vor Kurzem 70000 Dollar geerbt und wollte das Geld in Land investieren. In Anata, wo die Salamas lebten, gab es kaum noch etwas zu erwerben. Früher war sie eine der ausgedehntesten Städte im Westjordanland gewesen, die sich ostwärts der baumbestandenen Berge von Jerusalem bis hinunter zu den blassgelben Hügeln und Wüstentälern der Außenbezirke Jerichos hinzog. Doch Israel hatte fast alles Land in der Gegend konfisziert oder es für Abed und Hilmi und die Menschen von Anata unzugänglich gemacht. Eine Stadt von einunddreißig Quadratkilometern begrenzte sich nun auf ein Restgebiet von nur zweieinhalb Quadratkilometern. Darum Jericho.

Um noch rechtzeitig Milads Schule zu erreichen, nahmen Abed und Hilmi Israels größte Ost-West-Verkehrsader, den Highway 1. Es ging hinauf bis zum Kamm der Höhen, dann vorbei an drei geschlossenen jüdischen Siedlungen auf dem Stadtgebiet von Anata und der beduinischen Barackenstadt Khan al-Ahmar, welche sich über eine Parzelle aus dem Besitz von Abeds Großvater erstreckte. Als sie auf die Abu-George-Straße abbogen, sahen sie die Olivenhaine, die Abed und seinen Brüdern gehörten, nun aber von Siedlern in Beschlag genommen waren. Als Nächstes verlief der Weg unweit der berüchtigten Zone E1, wo Israel die Errichtung einiger Tausend neuer Wohnein- heiten und Hotelunterkünfte sowie eines Industriegebiets plante. Schließlich überwanden sie die letzte Anhöhe und passierten die Siedlung und angrenzende Militärbasis von Anatot, ebenfalls auf dem Land der Familie Salama.

Als sie Anata erreichten, steuerten Abed und Hilmi das Schulgebäude an, das sich am äußersten Ende der Stadt befand, direkt an der Mauer. Auf dem Gelände herrschte Stille, es war fast menschenleer. Abed rannte durch das Eisentor und über den Kunstrasen zur Eingangshalle und sagte der Sekretärin, er wolle für den Ausflug bezahlen.

„Zu spät. Wir haben geschlossen.“

Abed hastete die Treppe hinauf und fand eine ihm bekannte Lehrerin, Mufida. Sie rief beim Direktor an und dieser bei der Sekretärin, und Abed ging zurück nach unten, um zu bezahlen. Er atmete auf. Nun konnte Milad seinen Ausflug machen.

Es regnete, als Abed in Adam an der Kreuzung aus Hilmis SUV stieg. Er trug den langen schwarzen Mantel, denn es war stürmisches Wetter vorausgesagt worden. Je näher er dem Unfallort kam, desto beklommener wurde ihm zumute. Sein Gang beschleunigte sich, bis er einen grünen Armeejeep heranfahren sah. Er hielt die Soldaten an und erzählte ihnen auf Hebräisch von seiner Befürchtung, sein Sohn sei in dem Bus gewesen. Er fragte, ob er mitfahren dürfe. Sie lehnten ab. Also rannte Abed los. Er konnte den Bus zunächst nicht sehen, denn ein großer Sattelschlepper blockierte zwei Fahrspuren und versperrte ihm die Sicht. Dutzende von Leuten standen dicht gedrängt, darunter auch ihm bekannte Eltern, die herbeigeeilt waren.

„Wo ist der Bus?“, fragte Abed. „Wo sind die Kinder?“ Kurz darauf konnte er ihn sehen, auf die Seite gekippt, ein leeres, ausgebranntes Gerippe. Abed sah keine Kinder, keine Lehrerinnen, keinen Rettungswagen. Inmitten der Menge entdeckte er Ameen, einen Cousin, den er nicht besonders mochte. Vor Jahren waren die beiden übel aneinandergeraten und Abed war im Krankenhaus gelandet. Ameen arbeitete inzwischen für den Sicherheitsdienst der Palästinensischen Autonomiebehörde, die in den Ballungsgebieten des Westjordanlandes als Israels Vollstrecker auftrat. Er war als korrupter Beamter bekannt, der die Menschen ausnahm.

„Was ist passiert?“, fragte Abed.

„Furchtbares Unglück“, antwortete Ameen. „Man hat die verbrannten Körper aus dem Bus geholt und sie draußen hingelegt.“

Abed ließ Ameen stehen und rannte los, mit klopfendem Herzen. Wie konnte jemand so was einem Vater erzählen? Von Todesopfern hatte Abed noch gar nichts gehört. Unmöglich, dieses schreckliche Bild wieder loszuwerden. Abed begab sich weiter in die Menge, während Ameens Worte in seinem Kopf widerhallten.

Gerüchte machten die Runde, von einem Schaulustigen zum nächsten: Man habe die Vorschüler in eine Klinik in a-Ram gebracht, nur zwei Minuten die Straße runter; sie seien in Rama, der israelischen Militärbasis an der Einfahrt nach a-Ram; sie seien in der Klinik von Ramallah; sie seien von Ramallah ins Hadassah-Krankenhaus auf dem Skopusberg gebracht worden. Abed musste sich entscheiden. Mit seinem grünen Ausweis des Westjordanlandes war ihm der Zugang nach Jerusalem verwehrt, das Hadassah konnte er also nicht überprüfen. Die Gerüchte über a-Ram waren fragwürdig, weil es dort kein Krankenhaus gab. Die Klinik in Ramallah erschien ihm am plausibelsten. Er sprach zwei Fremde an, ob sie ihn mitnehmen könnten. Sie waren gerade zweieinhalb Stunden von Dschenin aus hergefahren und wollten in die entgegengesetzte Richtung. Trotzdem zeigten sie sich ohne Zögern einverstanden.

Es dauerte lange, aus dem Stop-and-go-Verkehr am Unfallort herauszukommen. Auf der Straße von Jerusalem nach Ramallah ging es vorbei am „Kids Land“, dem Indoorspielplatz, in dem die Vorschulklasse längst hätte sein sollen. Auf dem Dach stand ein riesiger SpongeBob, einer von Milads liebsten Cartoon-Helden.

Als Abed und die hilfsbereiten Fremden Ramallah erreichten und vor dem Krankenhaus hielten, erwartete sie das absolute Chaos: Martinshörner heulten, Sanitäter schoben Transportliegen mit verletzten Kindern vor sich her, panische Eltern schrien und weinten, Fernsehteams befragten das Krankenhauspersonal. Als er sich einen Weg durch diesen Wahnsinn bahnte, kurzatmig und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust, versuchte Abed die aufkeimende Angst zu unterdrücken. Doch sein Kopf machte nicht mit. Stattdessen versteifte er sich auf immer denselben Gedanken: Ist dies die Strafe für das, was ich Asmahan angetan habe?

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Nathan Thrall lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Jerusalem. Seine Texte wurden in zahlreichen Magazinen veröffentlicht. Für „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ wurde der Autor in diesem Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet

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