Ein egalitaristisches Pamphlet

Leseprobe „Chancenbudget“ oder „Kinderchancenportal“: Die Logik der Chancengleichheit ist die Ideologie einer Gesellschaft, die sich nur noch als Wettbewerb aller gegen alle denken kann. Ihre Basis ist die Zunahme der Ungleichheit seit den achtziger Jahren
Nicht selbstverständlich: Mehr als 2,8 Millionen Kinder wachsen in Deutschland in Armut auf, fast 100.000 müssen täglich auf eine warme Mahlzeit verzichten
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Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images

Einleitung: Das Trauma der Ungleichheit

Verglichen mit anderen Gesellschaften, verbringen Eltern im Westen viel Zeit damit, mit ihren Babys zu sprechen. Sie fördern das Brabbeln der Kinder, indem sie ihre Laute wiederholen, sie reden Babysprache und imitieren dabei den Tonfall der Kleinen. Diese Praxis ist so verbreitet, dass sie Eingang in die Untersuchungen der Kinderärzte gefunden hat, die von den Eltern wissen wollen, ob diese auch genug mit ihrem Nachwuchs sprechen, und die Ergebnisse danach beurteilen, wie viele Wörter die Kinder kennen und wiederholen können. Diese kommunikative Anstrengung war insofern erfolgreich, als die Kinder im Westen früher sprechen lernen als anderswo in der Welt. Aber insofern auch absolut überflüssig, als die Angehörigen anderer Gesellschaften genauso gut sprechen lernen wie wir.

Ganz allgemein illustriert die Obsession mit der frühkindlichen Förderung das Verständnis von Sozialisationsprozessen, wie es sich in den letzten Jahrzehnten in westlichen Ländern durchgesetzt hat. Wir sind fast alle davon überzeugt, dass die Erfahrungen, die wir in der frühen Kindheit sammeln und für die fast ausschließlich die Eltern der Kernfamilie verantwortlich sind, unauslöschliche Spuren in unserer Persönlichkeit hinterlassen – auch wenn wir uns später nicht an diese Erfahrungen erinnern. Eine Flut an wissenschaftlich nicht besonders rigoroser Literatur flößt uns Angst vor Fehlentwicklungen ein, zu denen es kommen kann, wenn wir nicht genug Energie in die Förderung der geistigen und emotionalen Fähigkeiten von unseren Kindern investieren, die noch nicht stehen können und ohne jeden Einwand akzeptieren, dass ein magisches Nagetier nachts unter ihr Kissen kriecht, um Geschenke gegen ausgefallene Milchzähne zu tauschen. Hingegen waren viele Gesellschaften früher möglicherweise ganz zu Recht der Ansicht, dass die Kindheit eine eher unwichtige Phase in der Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Die Entscheidungen, die uns als Menschen prägen, finden in der Pubertät statt, im Übergang zum Erwachsenenalter. Es gibt ein ganzes und sehr interessantes Subgenre der Literatur, das sich mit diesem Thema beschäftigt: den Bildungsroman. In solchen Werken wird beschrieben, wie ein Jugendlicher Lernprozesse durchläuft und Erfahrungen sammelt, die seinen Charakter formen, sein Schicksal beeinflussen und durch die er die Kindheit wie bei einer Häutung abstreift. Eventuell ist es symptomatisch für unsere Epoche, dass dieser Prozess in der Literatur, im Kino und in Fernsehserien auf die Schilderung erwachender Sexualität reduziert wird.

Im selben Maße, wie wir davon überzeugt sind, dass Eltern durch ihr Verhalten die Zukunft ihres Nachwuchses formen, unterschätzen wir systematisch, welche Folgen die Sozialisation unter Gleichaltrigen für Kinder hat. Wahrscheinlich ist der Einfluss, den die Eltern auf die Persönlichkeit ihrer Sprösslinge nehmen, viel geringer, als wir meinen. Erstens aus dem Grund, dass genetische Vererbung – auch wenn uns das als fortschrittliche Menschen skandalös erscheinen mag – sehr wohl von Bedeutung ist. Möglicherweise sind aggressive Kinder nicht allein deshalb aggressiv, weil sie in einer konfliktreichen sozialen Umgebung aufgewachsen sind, sondern einfach auch deshalb, weil sie als Kinder aggressiver Menschen geboren wurden. Zweitens gibt es in Beziehungen wechselseitige Einflüsse: Die Kinder erziehen auch uns. Wir Erwachsenen sehen uns selbst gerne als vollendete Stücke einer Art individueller Goldschmiedekunst. Tatsächlich jedoch übt die soziale Interaktion das ganze Leben lang eine Wirkung auf uns aus, und der Kontakt mit den Kindern verändert uns genauso wie sie. Der Sozialtheoretiker Jon Elster erzählt dazu folgenden Witz: »›Mit Dani muss man Geduld haben, er kommt aus einer kaputten Familie‹, sagt ein Lehrer zu seinen Kollegen. ›Das glaube ich gerne‹, antwortet ein anderer, ›Dani kann alles kaputt machen.‹«

Drittens gibt es Peergroups, und Kinder beeinflussen sich auch untereinander. Eltern und Lehrer können das Verhalten der Kinder in ihrer Anwesenheit formen, aber mehr auch nicht. Eltern können vor allem einige Merkmale jener Kinder auswählen, mit denen ihr Nachwuchs zu tun hat: die Nachbarschaft, die Schule, das soziale Umfeld etc. Darüber hinaus sind Kinder aber sehr aktive Akteure ihrer eigenen Sozialisation. Sie nehmen nicht nur Inputs von außen auf, sondern bringen sie energisch, mit gelegentlich beunruhigenden Resultaten und trotz gegenteiliger Anstrengungen von Angehörigen und Lehrern selbst hervor. Deshalb reproduzieren sie in ihren Spielen bestimmte Normen und Konventionen, obwohl sie in ihrem unmittelbaren Umfeld über Gegenbeispiele verfügen. Die Psychologin Judith Rich Harris schildert den Fall eines Mädchens, das beim Puppenspielen zu ihrer Freundin sagt: »Mädchen können keine Ärzte werden, nur Krankenschwestern.« Dabei arbeitete ihre eigene Mutter als Ärztin in einem Krankenhaus.

Im Allgemeinen tendieren wir dazu, den Einfluss unserer Mitmenschen auf unser Verhalten zu unterschätzen. Doch die Beziehung zu Peergroups hat sehr starke Auswirkungen auf uns. Harris erwähnt eine Untersuchung der Soziologin Anne-Marie Ambert, die ihre Studierenden aufforderte, sich an ihr voruniversitäres Leben zu erinnern. Eine ihrer Fragen lautete: »Was macht dich ganz besonders unglücklich?« Im Gegensatz zur Hollywood-Mythologie, laut der beispielsweise die Abwesenheit von Vätern bei Baseballspielen ihrer Söhne schlimme Folgen haben soll, nannten nur 9 Prozent der Befragten Ablehnung oder Vernachlässigung durch ihre Eltern. 37 Prozent hingegen verwiesen auf negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen, die sie dauerhaft verunsichert hätten.

Möglicherweise sind Kränkungen unter Gleichen deshalb besonders verletzend, weil die Ungleichheit selbst erniedrigend ist. Nur ein gewaltiger Fetischismus erlaubt es uns, diese tief in unseren Körpern verankerte Realität zu ignorieren. Die Ungleichheit ist für eine erschütternde Zahl beschädigter Lebensläufe und kollektiver Dilemmata verantwortlich. Gleichheit ist nicht in erster Linie die Voraussetzung für irgendetwas anderes – für persönlichen Erfolg, Rechtsstaatlichkeit etc. –, sondern ein Ziel an sich, weil sie eine der Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens darstellt. Die Gleichheit gehört zu den biologischen und kulturellen Fundamenten der menschlichen Soziabilität, unseres Vermögens und Bedürfnisses, zusammen zu leben. Die Ablehnung der Ungleichheit und die kollektive Missbilligung mächtiger Individuen sind tief in unserer Evolutionsgeschichte verwurzelt: Wir sind sehr viel weniger hierarchische Tiere als andere Primaten. Zudem zeigt die historische Erfahrung, dass wachsende Ungleichheit mit gesellschaftlichem Zerfall, einem Verlust an Solidarität und der Zunahme kollektiven Misstrauens verknüpft ist. Die Ungleichheit zerstört die sozialen Bindungen, die für jedes Projekt eines guten Lebens unverzichtbar sind.

Dieses Buch will diese These – der zentralen sozialen, kulturellen und ethischen Bedeutung der Gleichheit – aus der Perspektive aktueller emanzipatorischer Bewegungen vertiefen. Gleichheit ist gleichermaßen eine Voraussetzung für die soziale Organisation der menschlichen Spezies als auch für unsere individuelle persönliche Entwicklung und Autonomie. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott definiert das Trauma – ein trotz seiner häufigen Verwendung recht schwammiger Begriff – als »Riss in der Kontinuität des Seins«. Die allgemeine Ungleichheit unserer Gesellschaften ist ein kollektives Trauma, ein gesellschaftlicher Riss, der sich auf unsere Fähigkeit auswirkt, Beziehungen zu anderen zu knüpfen, und der erschreckende politische und persönliche Folgen hat. Trotzdem nimmt die materielle Gleichheit in politischen Projekten der Gegenwart lediglich eine marginale oder zumindest nicht besonders zentrale Stellung ein. Nur zwei Aspekte des egalitären Projekts sind gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert: die Chancengleichheit sowie die moralische Empörung über extreme Ungleichheit und Armut. Bei der Chancengleichheit handelt es sich meiner Ansicht nach jedoch um eine meritokratische Perversion des Egalitarismus; die Empörung ist folgenlos oder führt zumindest nicht sonderlich weit. In den ersten drei Kapiteln werde ich versuchen, die Grundzüge eines konsequenten Egalitarismus zu skizzieren, um dann im weiteren Verlauf einige Elemente eines realistischen egalitären Projekts für die Bereiche Ökonomie, Arbeit, Geschlechterbeziehungen, Bildungswesen, Kultur, Ökologie und politische Partizipation zu präsentieren. Letztlich beschreibe ich Gleichheit als einen steinigen, von Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten geprägten Weg, den wir dennoch dringend einschlagen müssen.

Auch wenn manche Linke dies unterstellen, ist materielle Gleichheit keineswegs die Lösung aller Probleme. Tatsächlich ergeben sich aus der Gleichheit eine Reihe ganz eigener Probleme, was Gruppendruck, die Anerkennung von Leistung, persönliche Selbstbestimmung und die Natur sozialer Bindungen in komplexen Gesellschaften angeht. Richtig ist aber auch, dass die Überwindung der materiellen Ungleichheit – im Unterschied zu anderen existenziellen Problemen, die uns bisweilen in Ratlosigkeit und Verzweiflung stürzen – vergleichsweise einfach ist; wir wissen in etwa, wie sie zu bewerkstelligen wäre, und sind kognitiv, kulturell und ethisch darauf vorbereitet.

Dieses Buch ist das Ergebnis einer mehr als zehn Jahre andauernden Beschäftigung mit sozialer Gleichheit und Ungleichheit. Ich habe mich mit eher technischen Studien zu unterschiedlichen Aspekten der Ungleichheit und ihrer Messung befasst und mit der Geschichte egalitärer Politik in verschiedenen gesellschaftlichen und historischen Kontexten; mit der Entwicklung der Gleichheit zwischen Frauen und Männern, aber auch mit Gleichheit in der Arbeitswelt, in der Kultur, in Familien oder im Bildungswesen. Ich begann im Mai 2011 während der Demonstrationen der 15-M-Bewegung, als die Indignados auf zahlreichen spanischen Plätzen gegen ökonomische und politische Missstände protestierten, über diesen Essay nachzudenken und beendete die Niederschrift schließlich ein knappes Jahrzehnt später im April 2020 während des Corona-Lockdowns. Diese Daten markieren zwei Momente unserer jüngsten Geschichte, in denen die kollektiven Dilemmata der Ungleichheit – beispielsweise hinsichtlich des universellen Rechts auf Gesundheit und Wohnraum – in öffentlichen Debatten, aber auch in unserem Alltag und in unseren persönlichen Beziehungen besonders sichtbar wurden. Tatsächlich gibt es wenige Dinge, die mein Gewissen so belasten wie meine träge Teilhabe an Systemen der sozialen Stratifikation und mein fehlender Mut, diesen Systemen so entschieden die Stirn zu bieten, wie ich es eigentlich sollte. Ich bin ein europäischer, heterosexueller Mann mittleren Alters mit einem sicheren Arbeitsplatz in einem gesellschaftlich relativ anerkannten Beruf – die mit meiner Lebenssituation verbundenen Privilegien bieten also genug Anlass, über bestimmte moralische Fragen nachzudenken. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat diese Unruhe in ganz unterschiedlichen Publikationen – von wissenschaftlichen Artikeln bis hin zu politischen Texten – Ausdruck gefunden. Einige der dort entwickelten Ideen greife ich in diesem Essay auf, um sie versuchsweise in eine umfassendere, genauere und (zum Guten wie zum Schlechten) leidenschaftlichere Argumentation einzubauen. Letzteres hat (von meinem eigenen Charakter einmal abgesehen) damit zu tun, dass ich immer wieder der Agitation bezichtigt wurde, wenn ich öffentlich die zentrale Bedeutung egalitärer Politik in einer demokratischen Gesellschaft verteidigt habe, die sich dieses Attributs als würdig erweisen soll. Ich habe daher beschlossen, mich auf Augenhöhe der Anschuldigungen zu begeben und ein Pamphlet im eigentlichen Sinne des Wortes zu verfassen.

26.09.2022, 19:38

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