Auf der Suche nach Sinn?

Leseprobe Ein Buch, das fundierte und spannende Lektüre, aber auch Mahnung ist. Denn: Wenn Verschwörungstheorien, Mythen und Pseudohistorie im Denken einer Gesellschaft die Oberhand gewinnen, dann bleiben Fakten, Realität und Wahrheit auf der Strecke
Ob Corona oder Wahlausgang: Donald Trumps Präsidentschaft war geprägt von Verschwörungserzählungen – in die Welt getragen von ihm persönlich, gepusht seine Anhänger:innen.
Ob Corona oder Wahlausgang: Donald Trumps Präsidentschaft war geprägt von Verschwörungserzählungen – in die Welt getragen von ihm persönlich, gepusht seine Anhänger:innen.

Foto: Allison Joyce/Getty Images

Prolog

Das Schwierigste an der Vergangenheit sind ihre Irrtümer undWahnvorstellungen.

– J. M. Roberts [1]

Es kann viel Intelligenz in Unwissenheit investiert werden, wenndas Bedürfnis nach Illusion groß ist.

– Saul Bellow [2]

Die Menschen glauben die seltsamsten Dinge. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts scheint das besonders zuzutreffen. Mythen, Pseudohistorie, Pseudowissenschaften und Verschwörungstheorien nehmen mit verblüffender Geschwindigkeit zu. Vielleicht kommt es den Menschen, die diese Zeit miterleben, auch nur so vor. Fakt ist, Mythen, also Geschichten, die Menschen für wahr halten, auch wenn sie es nicht sind, gibt es bereits seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte. Technologien wie das Internet machen es lediglich leichter, seltsame Glaubensvorstellungen und moderne Mythen zu erschaffen und zu verbreiten.

Die britische Königin Elisabeth II. ist ein Opfer einer Reihe eigenartiger Überzeugungen und Verschwörungstheorien. Der rechtsgerichtete amerikanische Extremist und Verschwörungstheoretiker Lyndon LaRouche ist schon lange antibritisch eingestellt und wirft britischen Finanziers alle möglichen bösartigen Tricks und Machenschaften vor, um die Weltwirtschaft zu manipulieren. 1980 fügte er die Königin seinem Ensemble an Bösewichten hinzu und beschuldigte sie, eine hochrangige Drogenhändlerin zu sein. Diese Hasstirade wurde von LaRouche und seinen Anhängern immer wieder vorgebracht. Irgendwann verlor LaRouche das Interesse daran, doch die Königin musste noch immer gegen Verschwörungstheorien ankämpfen. [3] Der New-Age-Guru und Verschwörungstheoretiker David Icke verkündete, dass Elisabeth II. eine außerirdische, reptiloide Formwandlerin sei.

Icke war Fußballprofi, Sportreporter und Politiker der Green Party. 1994 wandte er seine Aufmerksamkeit von Umweltfragen ab und richtete sie auf Verschwörungstheorien. Anfangs folgten seine Ideen dem üblichen Verschwörungsszenario einer neuen Weltordnung mit einer geheimen und korrupten Elite, die versucht, sich die Welt zu unterwerfen. Nach wenigen Jahren hob Icke jedoch seine Verschwörungstheorie auf ein neues Niveau: In seinem Buch The Biggest Secret (1999) behauptete er, dass die Verschwörung der Neuen Weltordnung tatsächlich von einer Superelite aus außerirdischen Reptilien gesteuert werden würde, die er als Annunaki oder Archonten bezeichnete. Passenderweise seien sie aus dem Sternbild Drache auf die Erde gekommen, wo sie die führende Schicht der menschlichen Gesellschaft unterwandert hätten. Diese Reptilien seien Formwandler und könnten die Gestalt von Menschen annehmen. Viele Weltpolitiker, wie etwa George H. W. Bush, seien Reptilien. Zu den Archonten gehöre natürlich auch Elisabeth II. Man muss sich über die Verschwiegenheit der Palastangestellten wundern, die dafür gesorgt haben, dass diese erstaunlichen Informationen ein Geheimnis geblieben sind. Vielleicht sind ja auch sie Reptilien? [4]

Der Tod von Prinzessin Diana im Jahre 1997 beförderte neue Verschwörungstheorien, die teilweise die gesamte königliche Familie betrafen. Schnell traten LaRouche und seine Leute auf den Plan. Sie beschuldigten die Royals, Diana umgebracht zu haben, um ihre Hochzeit mit Dodi Fayed zu verhindern, weil dieser Moslem war. Wie vorherzusehen war, entwickelte Icke in The Biggest Secret eine eigene, sehr detaillierte Verschwörungstheorie über Dianas Tod. Seiner Ansicht nach benötigt die reptilische königliche Familie regelmäßige Gaben menschlicher DNA von zugelassenen Blutlinien, um ihre Fähigkeit, sich unter den Menschen zu verstecken, aufrechtzuerhalten. In Dianas Fall stammt ihre Familie, die Spencers, von der Merowingischen Dynastie ab, die in der Populärkultur durch die Bücher Der Heilige Gral und seine Erben und Sakrileg zu einiger Bekanntheit gelangt war. Durchdiesen königlichen Stammbaum war Diana die perfekte Partnerin für Prinz Charles. Sie entdeckte dann, dass sie in einen Clan humanoider Echsen eingeheiratet hatte und ihr einziger Zweck der einer königlichen Zuchtstute war. Ansonsten war ihre Ehe eine Farce. Nachdem die beiden kleinen Prinzen geboren worden waren, wurde Diana überflüssig. Als sie begann, Probleme zu machen, musste sie eliminiert werden. Diese Umstände führten zu ihrem Tod, der auch eine Art rituelles Opfer darstellte. [5]

Die meisten Menschen finden diese Verschwörungstheorien von drogenverkaufenden Monarchinnen und geheimen Reptilieneliten selbstverständlich absurd. Die Unwahrscheinlichkeit dieser grotesken Spekulationen verhindert aber nicht, dass manche Menschen an sie glauben. LaRouche hatte seine Anhängerschaft, Ickes ist noch größer und internationaler. Icke, der als New-Age-Apostel begann, verschmolz diese Vorstellungen mit der Verschwörungstheorie einer »Neuen Weltordnung« und würzte das Ganze mit einer Prise fieser elitärer Reptilienmenschen. Diese Kombination erlaubte es ihm, sowohl die allgemein eher links orientierten New-Age-Jünger als auch die meist eher rechten Verschwörungsanhänger ins Boot zu holen. Der rechtsgerichtete Verschwörungstheoretiker Alex Jones verunglimpfte Ickes Reptilienbehauptung anfangs, machte sie sich dann aber begierig zu eigen. Icke wurde ein häufig und gerngesehener Gast in Jones’ Radiosendung InfoWars. [6] Seine Konzeption der Reptilien veränderte sich nach einigen Jahren: Von körperlichen interstellaren Reisenden wurden sie zu spirituellen interdimensionalen Wesen. Die spirituellen Reptilien waren außerdem harmloser als die heimtückischen körperlichen Reptilien. [7]

Königin Elisabeth II. ist nicht das einzige Staatsoberhaupt, das persönlich von Verschwörungstheorien betroffen ist. Barack Obama, der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, musste ebenfalls einige Verschwörungstheorien ertragen, die infrage stellten, wer er eigentlich ist: ein Antichrist oder ein muslimischer Geheimagent. Eine weitere Theorie behauptete, Obama wäre nicht in den USA geboren worden und hätte daher nicht zum Präsidenten gewählt werden dürfen. Die zweite und dritte Verschwörungstheorie passen zueinander und verstärken sich gegenseitig. Anhänger der einen nennen Obama»den Moslem«, während Unterstützer der anderen ihn als »Kenianer« bezeichnen. [8]

Die »Birther«-Theorie, die behauptet, dass Obama nicht in den Vereinigten Staaten geboren worden sei, ist im Gegensatz zur Antichristoder zur Moslem-Theorie nie abgeklungen. Sie geht zurück auf das Jahr 2004, als der Verschwörungstheoretiker Andy Martin die Herkunft des rasant aufsteigenden jungen Politikers zu hinterfragen begann. Martins Augenmerk lag allerdings anfangs darauf, dass Obama insgeheim Moslem sei. Am 1. März 2008 veröffentlichte jemand mit dem Nutzernamen FARS einen Artikel im Webforum Free Republic, in dem erklärt wurde, Obama hätte seinen Eid als Senator auf den Koran abgelegt. Darüber hinaus behauptete er, Obama sei nicht in den USA geboren worden und seine Mutter wäre mit ihm nach Hawaii geflogen und hätte seine Geburt dort registrieren lassen. Für diese Anschuldigungen wurden keine Beweise vorgelegt, aber einmal im Internet im Umlauf bleiben Beweise optional und sind häufig gar nicht erwünscht. FARS’ Behauptungen gewannen schnell Aufmerksamkeit und immer mehr Anhänger. Die Führung der Republikaner war damals jedoch verantwortungsbewusster und befürchtete, dass solche lächerlichen Behauptungen ihrer Partei schaden könnten. In diesem Sinne veröffentlichte die konservative National Review Online am 9. Juni 2008 eine Kolumne von James Geraghty zur Thematik des »Birtherism«. Sie trug den Titel »Obama Could Debunk Some Rumors by Releasing His Birth Certificate« (Obama könnte durch die Veröffentlichung seiner Geburtsurkunde einige Gerüchte entkräften). Geraghty stand der »Birther«-Theorie skeptisch gegenüber und wies in seinem Artikel auf das haltlose und unplausible Wesen der Behauptung hin. Er drängte damit die Obama-Kampagne, dem Gerücht entgegenzutreten, indem sie dessen Geburtsurkunde veröffentlichte. In einem Artikel am nächsten Tag wurde darauf hingewiesen, dass eine Geburtsurkunde kaum Informationen enthielt, die Obamas Kampf um die Präsidentschaft schaden könnte. Als Reaktion veröffentlichte Obamas Wahlkampfteam die Kurzform seiner Geburtsurkunde, und Geraghty erklärte diese zu einem gültigen Beweis für Obamas Geburt auf Hawaii. [9]

Leider bescherte die Aufklärungskampagne der National Review dem Birtherism viel mehr Öffentlichkeit und sogar eine gewisse Legitimität in den Köpfen von Menschen, die nach Gründen suchten, um Obama abzulehnen und zu diskreditieren. Einige Unterstützer von Hillary Clinton verschärften die Situation, indem sie abtrünnig wurden und eine anonyme E-Mail versandten, in der es hieß, Obama sei in Kenia geboren und nach Hawaii geflogen worden, wo seine Mutter seine Geburt habe registrieren lassen. Gruppen von Obama-Hassern machten die ziemlich eindeutige Situation noch undurchsichtiger, indem sie falsche Klagen einreichten, um Beweise für Obamas ausländische Geburt zu erhalten, angebliche kenianische Geburtsurkunden fälschten oder die Echtheit seiner Hawaiianischen Geburtsurkunde anzweifelten. Das Ganze wurde so lächerlich, dass die Richter anfingen, Geldstrafen zu verhängen oder anzudrohen, wenn jemand diese albernen Anklagen vor Gericht zu bringen versuchte. 2009 begannen die durchschnittlich denkenden Republikaner, den Birtherism zurückzuweisen. Der erste konservative Kommentator, der ihn öffentlich ablehnte, war Michael Medved. Medved, der nicht vollkommen immun gegenüber den Verlockungen der Verschwörungstheorien ist, spekulierte, dass der Birtherism eine Konspiration sein könnte, um die Konservativen verrückt aussehen zu lassen. [10]

Die Verschwörungstheorie des Birtherism flaute eine Zeitlang ab, verschwand aber niemals ganz. 2011 wurde sie wieder zum Leben erweckt, als Obamas erste Amtszeit als Präsident zu Ende ging und die Präsidentschaftswahl von 2012 näher rückte. Im Februar 2011 sprach Donald Trump, bekannt aus dem Reality-Fernsehen und als großspuriger und kontroverser Geschäftsmann, auf einem Treffen des Conservative Political Action Committee (CPAC) und warf die Birther-Frage wieder auf. Es war eine gute Wahl für ein Gesprächsthema vor einem Publikum mit einem großen Anteil an Obama-Hassern. Als Trump seine Birther-Theorien bei Fox News in der Sendung des konservativen Kommentators Bill O’Reilly ausbreitete, spottete O’Reilly über die Idee. Die Zuschauer von Fox, ebenfalls eine Gruppe mit einem bedeutenden Anteil an Obama-Hassern, liebten Trumps Verbreitung des Birtherism. Andere Moderatoren von Fox News luden ihn ein, um die Theorie in ihren Sendungen weiterzuverbreiten. In einer Sendung war er sogar wöchentlich zu Gast. Zu dieser Zeit versuchte Trump, seine Aufstellung als republikanischer Präsidentschaftskandidat zu bewirken.Die Zeit war jedoch noch nicht reif für Trump. Er hatte keine Chance, die Nominierung zu gewinnen und schied aus dem Rennen aus, um weiterhin Geld mit seiner Reality-Show The Apprentice zu verdienen. Der Birtherism brachte ihm jedoch viele neue Anhänger ein. [11]

Trump belebte den Birtherism wieder. Oder in Chuck Todds Worten, »niemand hat mehr dafür getan, die Fälschungsproblematik in die Echokammern der Nachrichtensender zu befördern als Donald Trump.« Trump und seine Leute brachten immer mehr zweifelhafte Informationen über Obamas Herkunft hervor, doch auch andere beteiligten sich daran wie Sheriff Joe Arpaio aus Maricopa County, Arizona, und der Autor Jerome Corsi. [12] Immer und immer wieder wurden ihre Behauptungen umfassend entkräftet, doch vergebens. Die Birtherism-Theorie wurde zum Mainstream und ein Großteil scheinbar rationaler Republikaner begann, daran zu glauben. Chuck Todd machte sich über die sinnlose Leichtgläubigkeit von Menschen lustig, die glaubten, Obama sei ein Vorwand, um einen muslimischen Fremden in das Weiße Haus einzuschleusen. Er schrieb: »Wäre der Säugling auf ›George Lincoln Washington‹ getauft worden, dann hätte die ganze ›Einschleusungstheorie‹ vielleicht mehr Glauben gefunden.« Dennoch erwies sich Trump als Meister der rhetorischen Strategie des »Ich wollte ja nur fragen«. Diese Strategie wird besonders gern von Verschwörungstheoretikern, Pseudohistorikern und modernen Märchenerfindern eingesetzt, wenn sie ihre Zweifel in das etablierte Wissen streuen. Sie hinterfragen das Unstrittige und versuchen, durch stetige Wiederholung die Glaubwürdigkeit lange bewiesener Fakten und Theorien zu unterwandern. Seit seinem Debüt als Birther im Jahre 2011 ist Trump ständig zwischen der Verbreitung des Birtherism und der Behauptung, er würde nicht mehr daran glauben, hinund hergewechselt. Was also glaubt Trump wirklich? Das hängt davon ab, welcher Tag es ist. Wie sein Biograf Michael D’Antonio festgestellt hat, sieht Trump keinen Nachteil im Birtherism. Er verschafft ihm ein festes, loyales Publikum und überzeugte Unterstützer. Vor der Wahl von Senatorin Kamala Harris zur Kandidatin der Demokratischen Partei für den Posten der Vizepräsidentin im Jahre 2020 kam eine neue Version des Birtherism auf. Diese behauptete, dass Harris nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika geboren worden sei. Die Kamala-Harris-Theorie ist genau wie die Obama-Birther-Theorie eine reine Erfindung, die vollständig entkräftet wurde. Doch genau wie die Obama-Birther-Theorie verschwindet sie nicht. [13]

In die Annalen des Verschwörungsdenkens und der Pseudohistorie ist aber auch die Aktion »Storm Area 51« (Stürmt Area 51) aus dem Jahre 2019 eingegangen. In der Mythologie der UFO-Bewegung ist Area 51 die geheime Armeebasis, in der die abgestürzten fliegenden Untertassen aus Roswell und anderen Orten zusammen mit ihren außerirdischen Besatzungen, sowohl tot als auch lebendig, gelagert und untersucht werden. Hat nicht schließlich der Film Independence Day von 1996 gezeigt, was genau dort vor sich geht? Der Film war jedoch fiktional. Die populäre Überlieferung über Area 51 ist umfangreich, wenn auch hauptsächlich falsch oder erfunden und käut immer dieselben »Fakten« wieder. Nichtsdestotrotz fasziniert sie die Menschen.

Am 20. Juni 2019 schaute sich Matty Roberts einen Video-Podcast der Joe Rogan Experience an, der Bob Lazar präsentierte, einen altgedienten Area-51-Verschwörungstheoretiker. Was er sah, inspirierte Roberts zu einem kleinen Scherz. Er richtete am 27. Juni 2019 eine Facebook-Seite ein, auf der er eine Aktion ankündigte. Er lud die Menschen ein, sich am 20. September in Area 51 zu versammeln und die Basis zu stürmen, um die außerirdischen Gefangenen zu sehen und zu befreien. Roberts hatte nie geplant oder sich vorgestellt, dass so etwas tatsächlich stattfinden würde. Zu seiner Überraschung und sehr zum Verdruss der United States Air Force ging die Ankündigung jedoch drei Tage später viral. Schließlich kündigten mehr als 2 Millionen Menschen ihr Kommen an, weitere 1,5 Millionen äußerten ihr Interesse. Die Aktion weckte eine ungewöhnlich starke Aufmerksamkeit in den Medien, wie es schräge und alberne Nachrichten häufig tun. Es wurden zwei Musikfestivals geplant und die Händler vor Ort begannen, sich auf einen Ansturm an Besuchern vorzubereiten. Eine große Frage war, wie viele Menschen tatsächlich zu dem Ereignis kommen würden. Area 51 liegt in einer unwirtlichen Wüste mit nur ein paar winzigen Orten, von denen einige weniger als 100 Bewohner haben. Die Gegend wäre nicht in der Lage, ein paar tausend Besucher aufzunehmen, geschweige denn zehntausende. In dem ganzen Gebiet rund um Area 51 gab es nur 184 Motelzimmer und die vorhandenen Campingplätze waren karg und primitiv. Darüber hinaus war die Air Force nicht bereit, einem Haufenirrer Zivilisten nur so aus Spaß das Erstürmen eines supergeheimen Armeestützpunktes zu erlauben. Am Ende erwies sich die Aktion »Storm Area 51« als Sturm im Wasserglas. Das Musikfestival lockte nur etwa 1.500 Besucher an, während sich am Haupteingang des Stützpunktes von Area 51 nur etwa 150 Menschen einfanden. Das Tor wurde nicht gestürmt, Außerirdische wurden nicht befreit und der Mythos von Area 51 blieb erhalten. Währenddessen nutzte das Oklahoma City Animal Shelter (Tierheim von Oklahoma City) die Aktion zu dem Aufruf »Stürmt unser Tierheim!«, um Menschen zur Adoption eines Tieres zu bewegen. Im Tierheim fand man dann Hunde vor, die Aluhüte trugen, um Außerirdische abzuwehren. Die Katzen lehnten es offenbar ab, den Aluhut-Quatsch mitzumachen. »Storm Area 51« ist eine wunderbare Fallstudie über die Macht und die Grenzen des Mythos in der Populärkultur des Internet-Zeitalters. [14]

Ein alles andere als glückliches Ereignis war der Ausbruch der COVID-19-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020, der zu Krankheit, Tod und wirtschaftlichen Einbrüchen in globalem Ausmaß führte. Die Pandemie erwies sich darüber hinaus als erstaunlicher Generator von Verschwörungstheorien. Obwohl Epidemiologen seit Jahren davor gewarnt hatten, dass der Ausbruch einer globalen Pandemie unausweichlich sei, reagierten manche Menschen mit Verleugnung, als es wirklich dazu kam. Die Pandemie wurde als Schwindel bezeichnet, als Konspiration, um Präsident Donald Trump in Misskredit zu bringen. Wenn das wahr gewesen wäre, hätte sie eine globale Konspiration von ungeheuren internationalen Ausmaßen sein müssen. Es wurde behauptet, die Pandemie sei kein natürliches Ereignis, sondern werde von einem Virus verursacht, das versehentlich in einem Labor im chinesischen Wuhan freigesetzt wurde. Eine Variante dieses Szenarios behauptete, das Virus sei eine chinesische Biowaffe. Eine andere Version verkündete, das Virus sei definitiv eine Biowaffe, die China absichtlich auf die unglückliche Welt losgelassen habe. Für manche Menschen ist ein konspirierender menschlicher Feind eine beruhigendere Erklärung für das Unglück als ein stumpfsinniges Fragment aus genetischem Material – ein Virus. [15]

Vorhandene Verschwörungstheorien wurden mit den Geschehnissen rund um die Pandemie verflochten. Den Zuschauern der nationalenund internationalen Nachrichten wurden Videos gezeigt, die im Fernsehen oder im Internet veröffentlicht wurden und wirklich haarsträubende Verschwörungstheorien verbreiteten. Als sich die pandemische Lage in Florida verschlimmerte, hielten die West Palm Beach County Commissioners am 23. Juni 2020 ein Treffen ab, auf dem entschieden werden sollte, ob das Tragen von Masken in öffentlichen Bereichen verpflichtend werden sollte. Es dauerte mehr als sechs Stunden. Es wurde Zeit für öffentliche Kommentare eingeräumt. Eine Frau merkte an: »Ich trage aus dem gleichen Grund keine Maske, aus dem ich keine Unterwäsche trage; die Dinge müssen atmen.« Augenscheinlich war sie der Ansicht, dass die unteren Regionen einer Frau Teil des Atmungssystems seien. Es erübrigt sich zu sagen, dass ihr Kommentar ein grundlegendes Missverständnis über die menschliche Anatomie demonstriert. Falls Sie sich das jetzt fragen, sie trug eine Jeans, die anscheinend atmungsaktiver ist als Masken oder Unterwäsche. Eine andere Frau in einem roten T-Shirt ließ eine ansehnliche Schimpftirade gegen die Commissioner vom Stapel, in der sie diese verrückt nannte und ihnen mit Verhaftung und göttlicher Vergeltung drohte. Nach der Versammlung wurde diese Frau von einem Reporter einer lokalen Fernsehstation interviewt. Sie bestand weiterhin darauf, dass die Pandemie Teil eines Komplotts der Neuen Weltordnung sei, wobei es sich um eine Verschwörungstheorie handelt, die behauptet, dass die Welt in Wirklichkeit von einer geheimen Superelite regiert werde. Im Fall der Pandemie sei es das abscheuliche Ziel der Verschwörer, die menschliche Bevölkerung um 95 Prozent zu verringern. Falls sie Recht hat, müssen die Verschwörer sehr enttäuscht sein, da die Sterberate für COVID-19 nicht annähernd hoch genug ist. [16]

Einige Wochen später, am 27. Juli, veranstaltete eine Gruppe von Ärzten, die sich selbst als America’s Frontline Doctors bezeichnete, eine Pressekonferenz am Gebäude des Obersten Gerichtshofs in Washington, DC. Sie waren COVID-19-Leugner oder haben die Pandemie zumindest kleingeredet. Organisiert wurde sie von den Tea Party Patriots. Eine der Ärztinnen tat sich besonders hervor. Stella Immanuel, ausgebildet in Nigeria, erklärte, dass die wahre Gefahr von dämonischem Sperma ausginge (möglicherweise war dies eine Referenz auf die Inkubi und Sukkubi, von denen man im Mittelalter annahm, dasssie die Träume der Menschen heimsuchten). Sie erwähnte außerdem die Gefahr, die durch außerirdische DNA entstehe, und warnte davor, dass die Menschheit durch reptilische Verschwörer bedroht sei. Wegen der dort vorgebrachten grob falschen und potenziell gefährlichen Behauptungen und Anschuldigungen wurde das Video der Pressekonferenz von Facebook und Twitter schnell entfernt. Doch auch wenn die großen Social-Media-Unternehmen mehr tun müssen, um eindeutig falsche und möglicherweise schädliche Behauptungen zu überprüfen und fernzuhalten, enthielt die Pressekonferenz dieser Randgruppe von Ärzten genügend lächerliche Aussagen, um ihrer Sache vermutlich eher zu schaden als zu nützen. Sie erregte allerdings die wohlwollende Aufmerksamkeit von Präsident Donald Trump, der noch nie zu denen gehörte, die sich von der Wissenschaft den Blick auf die von ihnen gewünschte Realität verstellen ließen. Was zeigen uns diese Ausbrüche von offenkundig wahnhaften Ideen? Dass die Behauptungen der Maskengegner von West Palm Beach und der Dämonensperma-Ärztin ein Widerhall der Ideen von David Icke und anderen Verschwörungstheoretikern sind. Unter ansonsten anscheinend normalen Menschen kursieren einige erheblich irrationale Vorstellungen, die die öffentliche Gesundheit und Sicherheit gefährden.

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13.04.2022, 14:08

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