Von Hürden und Stolpersteinen
Sucht man nach einem Paradebeispiel für ein verlegerisches Großprojekt, so wird man hier fündig: Mit zwei Bänden von 600 bzw. 670 Seiten und einem Konvolut an Quellen mit 190 bzw. 170 kleingedruckten Seiten legen die Carbon Ideologies von William T. Vollmann die publizistische Latte olympisch hoch. Als sich Florian Havemann dieser Herausforderung stellte, war der entsprechende Verlag noch nicht einmal gegründet – das Werk sollte Zugpferd, Prestigeobjekt und Wegmarke für die weitere Arbeit von Freunde & Friends werden.
Als er mich über den Agenten Alexander Simon als Herausgeberin, Lektorin und Projektmanagerin dafür engagierte, stellte ich fest, dass der Umfang von 1626 Seiten nicht die einzige Hürde war, die es zu nehmen galt. Erstens handelt es sich hier um einen Autor, dem gerecht zu werden allein schon das Berufsethos gebietet. William T. Vollmann schreibt Sachbücher, u. a. eine siebenbändige Abhandlung über Gewalt, an der er 20 Jahre gearbeitet hat, sowie Romane, u. a. Europe Central, der den National Book Award erhielt und dessen deutsche Übersetzung von Robin Detje mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Seine Reportagen über Reisen in Kriegs- und Krisengebiete erscheinen u. a. in The New Yorker. Richard Kämmerling nannte Vollmann in der Welt einmal »den größten amerikanischen Autor seiner Generation«, im Wall Street Journal wurde er jüngst als »der letzte ungezähmte Autor in Amerika« bezeichnet.
Zweitens geht es um ein Thema, das an Relevanz kaum zu überbieten ist: den Klimawandel, eine der großen sozialen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und ethischen Fragen unseres Jahrhunderts. Carbon Ideologies sei »das bisher ehrlichste Buch« zu diesem Gegenstand, schrieb Nathaniel Rich in The Atlantic.
Drittens stellt die Textform eine editorische Herausforderung dar: Es ist ein Genremix aus Sach- und Fachbuch, Reportage und Dokumentation, Porträts und Interviews, Landschafts- und Briefroman mit Anklängen von Science-Fiction. Denn Vollmann richtet sich mit schonungsloser Offenheit und Selbstanklage an zukünftige Generationen: »Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft womöglich, könnten die Bewohner eines heißeren, gefährlicheren, biologisch ruinierteren Planeten als jener, auf dem ich gelebt habe, sich fragen, was du und ich uns dabei gedacht haben oder ob wir uns überhaupt Gedanken gemacht haben. Dieses Buch ist für sie …«
Und jede dieser Gattungsformen füllt Vollmann mit seiner geradezu überbordenden Recherchier- und Erzähllust mit Zahlen, Daten und Fakten, mit Details und Hintergründen. Meara Sharma findet dafür in der Washington Post die passenden Worte: »Dieses Buch ist überwältigend. Es überschüttet uns mit Berechnungen, Fakten, Bildern und Geschichten. Es verkörpert die Verwirrung unseres gegenwärtigen Augenblicks, die Heimtücke des Unglaubens und die wahnwitzige Realität, dass unsere größte Bedrohung diejenige ist, auf die wir am schwersten reagieren können. Es ist ein fieberhaftes, ausuferndes Archiv dessen, was wir sind und was wir angerichtet haben.«
Dieses Archiv auch deutschsprachigen Leser:innen zugänglich zu machen, dieser Aufgabe haben sich dennoch und gerade deshalb Florian Havemann und Hanna Lakomy mit ihrem Verlag, Georg Bauer und Noël Reumkens als Übersetzer, ich als Herausgeberin und die anderen Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen gestellt.
Das Essay von Claudia Jürgens können Sie hier lesen.