Russlands Krieg

Leseprobe Als am 24. Februar 2022 Russland in die Ukraine einmarschierte, war die Weltöffentlichkeit schockiert. Russlands Truppen richteten in dem Nachbarland vom ersten Tag an unermessliche Gräueltaten an und vernichteten alles, was ukrainisch ist
Die Teilnahmslosigkeit vieler Russen hat Wladimir Putin seit Beginn des neuen Jahrtausends stark gemacht
Die Teilnahmslosigkeit vieler Russen hat Wladimir Putin seit Beginn des neuen Jahrtausends stark gemacht

Foto: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images

Viele sprachen vom Kriegsbeginn und von „Putins Krieg“. Doch dieser Krieg hat nicht erst im Februar 2022 begonnen, sondern bereits im Februar 2014. Die russische Armee ist zudem seit Langem für ihre zerstörerische Kriegsführung bekannt – und die russische Gesellschaft für ihr Schweigen angesichts der Verbrechen, die in ihrem Namen begangen werden. Es ist deshalb falsch, von Putins Krieg zu sprechen.

„Die Straße nach Auschwitz wurde aus Hass gebaut, aber mit Teilnahmslosigkeit gepflastert“, schrieb der Historiker Ian Kershaw. Der Holocaust war einmalig, doch das Ansinnen, andere Menschen zu vernichten, ist mit dem Dritten Reich nicht verschwunden. Die Teilnahmslosigkeit vieler Russen hat Wladimir Putin seit Beginn des neuen Jahrtausends stark gemacht. Sie verbanden mit ihm die Aussicht auf Stabilität. Nun scheint es, als seien Selbsthass und Enttäuschung vieler Menschen in Missgunst und Hass gegenüber vermeintlich Außenstehenden umgeschlagen, geschürt von einer nahezu übermächtigen Propaganda.

Während wir dieses Buch schreiben, ist nicht sicher, wann und wie dieser Krieg endet. Doch irgendwann wird Wladimir Putin die Macht abgeben. Die russische Gesellschaft wird bleiben. Es ist wichtig zu wissen, was uns dann – jenseits von Putin – erwartet. Wer sind diese Menschen, was hat sie so werden lassen und was treibt sie um?

Wir nähern uns diesen Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wir zeigen, wie Rassismus und Chauvinismus in der russischen Gesellschaft zu offizieller Politik werden. Wir schildern, wie Menschen für Demokratie kämpfen und immer weiter marginalisiert und kriminalisiert werden. Wir erklären, wie sich das Recht des Stärkeren und die Aussicht auf Straffreiheit in der Gesellschaft verfestigen. Immer wieder begegnen wir dabei den Folgen von siebzig Jahren unbewältigter Sowjetherrschaft. Heute sind Bestrebungen, ein freiheitliches System aufzubauen, gescheitert. Stattdessen hat sich ein modernisiertes Sowjetsystem mit dem KGB-Mann Putin an der Spitze etabliert.

Als wir Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre begannen, in die Sowjetunion und nach Russland zu reisen, waren wir neugierig auf das bis dahin weitgehend unbekannte Land und die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang. Sie begegneten uns ihrerseits mit großer Offenheit, obwohl sie über Jahrzehnte antiwestlicher Propaganda, Geschichtsfälschung und Angst ausgesetzt waren. Einige der Menschen, die wir in diesem Buch zitieren, haben wir im Laufe der letzten dreißig Jahre immer wieder getroffen. Sie haben frei mit uns geredet in einer Zeit, in der das noch nicht gefährlich war. Um sie zu schützen und nicht auf ihre Ansichten verzichten zu müssen, haben wir einige Identitäten verändert.

Wir müssen reden

Sommer 2022. Europa diskutiert, ob man weiterhin russische Touristen einreisen lassen sollte. Auf dem Handy poppt eine Nachricht auf. Sie ist von Pawel aus Sankt Petersburg. „Können wir uns mal unterhalten?“, fragt er, „ich möchte gern die Sichtweise der Europäer verstehen.“ Pawel hat ein kleines Unternehmen. Als wir uns vor dreißig Jahren kennenlernten, wollte er Theaterregisseur werden. In den 90er Jahren, als es darum ging, irgendwie durchzukommen, gab er das auf. Es geht ihm wirtschaftlich gut. Drei Kinder, ein Haus am Stadtrand, zwei Autos. Er ist ein typischer Vertreter des russischen Mittelstands, der sich in den 2000er Jahren bildete.

„Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg lange Entschädigungen gezahlt, jeder deutsche Steuerzahler hat wirtschaftliche Verantwortung übernommen, selbst deutsche Antifaschisten und Widerstandskämpfer. Ich halte es für logisch, Russland Geld für den Wiederaufbau der Ukraine zu entziehen. Nicht nur die Devisenreserven, die außerhalb Russlands gelandet sind. Zurzeit verkauft Russland Öl an China und Indien mit einem Preisnachlass von bis zu dreißig Prozent, diese Staaten profitieren vom Krieg. Es wäre nicht schlecht, wenn die internationale Gemeinschaft diese Länder zwingen würde, die Hälfte dieses Rabatts der Ukraine zu geben. Auf diese Weise würde Russland durch den Verkauf von Öl (auf den es nicht verzichten kann) nicht nur Putins Krieg, sondern gleichzeitig auch den ukrainischen Widerstand finanzieren. Das ist meine verrückte Idee. Zu den Schengen-Visa: Ich verstehe, wie brechreizerregend es ist, Russen zu sehen, die während eines Krieges Urlaub machen. Aber logischer, als die Visa abzuschaffen, wäre es doch, von jedem russischen Touristen, der in die EU einreist, eine Zwangsgebühr für das Ukrainische Rote Kreuz oder Ähnliches zu erheben. Ich denke, das würde das Problem entschärfen.“

Pawel war nie ein großer Fan von Putin. Zu Protestdemonstrationen ist er aber auch nie gegangen. Zu Beginn des groß angelegten Angriffs auf die Ukraine haben in Russland Tausende Menschen gegen den Krieg protestiert. Viele von ihnen wurden festgenommen, zu protestieren ist immer gefährlicher geworden. Zugleich rufen Scharfmacher in den Staatsmedien zum Töten von Ukrainern auf. In den sozialen Medien verbreiten sich massenhaft Bilder von Russen, die ein Z zeigen, das Symbol des Krieges. Wie stark ist die Zustimmung zum Krieg wirklich? Pawel schreibt:
„Ich denke, auf dem Land stehen neunzig Prozent der Menschen hinter Putin, in kleinen und mittleren Städten fünfundsiebzig bis achtzig Prozent, in den großen Städten sechzig bis siebzig Prozent. Die Herde folgt einfach instinktiv dem Anführer, das logische Denken ist ausgeschaltet. In einem sozialen Netzwerk habe ich eine Gruppe mit meinen Klassenkameraden. Wir sind dort achtzehn Leute. Vier von uns, mich eingeschlossen, sind gegen den Krieg. Die anderen sind vielleicht nicht für den Krieg, aber sie unterstützen Putin. So in der Art: Er weiß es am besten ... Die USA sind schuld ... Für die Kinder, die in den letzten acht Jahren in Donezk getötet wurden ... Nazis haben die Macht in der Ukraine ergriffen und so weiter. Es fällt mir schwer, mit ihnen zu kommunizieren. Ich weiß jetzt viel besser, was ein Bürgerkrieg ist. Mein bester Freund und meine Mutter gehören zu den Putinisten. Ich bin einfach sprachlos. Ich habe jeden Donnerstag eine Sauna-Runde. Alles Männer. Da gibt es einen pensionierten Militär, einen Geheimdienstler, einen ehemaligen Wachmann, mehrere Polizisten und viele Geschäftsleute. Der ehemalige Wachmann und ich sind gegen den Krieg. Der Mann vom Militär und der Geheimdienstler schweigen, die kleineren Geschäftsleute sind für den Krieg. Ich weiß, das ist nicht repräsentativ, aber zwanzig Prozent in der Runde sind gegen den Krieg, achtzig Prozent schweigen oder stimmen zu. So sieht es aus.“

Und die Zigtausenden Toten in der Zwischenzeit?

Ein paar Tage später ist Pawel mit dem Auto unterwegs in die Slowakei. Die Überweisungen funktionieren nicht mehr, und er muss Mitarbeitern in Bratislava Geld bringen. Der Weg ist lang geworden, denn er kann nicht mehr durch die Ukraine fahren. Als er wieder in Sankt Petersburg ist, schreibt er: „Wenn ich unterwegs getankt oder geparkt habe, haben die Leute mich und mein Auto angeguckt. Das Auto hat russische Nummernschilder mit einer russischen Flagge darauf. Ich kann nicht jedem erklären, dass ich gegen den Krieg bin, dass ich versuche, meinen Freunden in Russland zu erklären, warum ich dagegen bin, und sie zur Vernunft und zu Mitgefühl zu bringen. Es wäre ideal, wenn die Leute wüssten: Wenn ich in Europa bin, bin ich in Ordnung.“

Ende August spricht Pawel zum ersten Mal von einem Regimewechsel: „Um ein Problem zu lösen, ist das Wichtigste, Prioritäten zu setzen. Meiner Meinung nach besteht das strategische Ziel Nummer eins darin, dass Putin nicht mehr an der Spitze steht. Ich glaube, man braucht etwas Geduld. Denn die Sanktionen wirken. Man sollte warten, bis unter der Last der Sanktionen und des sinkenden Lebensstandards ein Regimewechsel in Russland möglich ist. Gleichzeitig muss man einen psychologischen und ideologischen Krieg gegen Putin und um die Köpfe und Herzen der Russen führen.“

„Es ist ein Kolonialkrieg. Er ist weit weg von den Metropolen. Die Metropolen erreicht man nur über deren wirtschaftliche Interessen. Russland kann die Ukraine nicht besiegen, und die Ukraine kann Russland nicht mal mit Unterstützung der NATO besiegen, denn um eine Niederlage zu vermeiden, wird Putin die Generalmobilmachung und den totalen Krieg ausrufen. Deshalb, weil weder ein Sieg noch ein Frieden möglich ist, und um das sinnlose Töten von Menschen zu beenden, sollte der Konflikt eingefroren werden. Als Nächstes müssten UN-Truppen entlang der Demarkationslinie postiert werden. Dann wird Putin nicht angreifen.“

Je länger es dauert, desto schwieriger wird es, diese Diskussionen in einem Chat zu führen. Und offensichtlich stocken auch die Gespräche in Russland. Die Gesellschaft schweigt. Mitte September schreibt Pawel: „Seit etwa drei Wochen redet in der Sauna keiner mehr über den Krieg.“
Als Putin am 21. September 2022 die Mobilmachung ausruft, kommt der Krieg in den Familien an. Pawel schickt seine beiden Söhne umgehend ins Ausland. Er selbst bleibt.

22.02.2023, 22:48

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