Bedrohungspotentiale für unsere Gesellschaft

Leseprobe Annika Krahn und Recha Allgaier-Honal zeigen am Beispiel der »Identitären Bewegung«, wie neurechte Gruppierungen versuchen, den Staat zu delegitimieren und sich als Widerständler gegen vermeintliche Eliten in Politik und Medien zu inszenieren
Unschön: Merchandise der Partei „Junge Alternative für Deutschland“
Unschön: Merchandise der Partei „Junge Alternative für Deutschland“

Foto: RONNY HARTMANN/AFP via Getty Images

Auch wenn der Begriff der Neuen Rechten in diversen Features, Reportagen und Berichten in den »Offline-Medien« Verwendung findet, ist der Rechtsextremismus in den letzten Jahren zunehmend zu einem Internetphänomen geworden, wie u.a. auch die Publikation »Die rechte Mobilmachung« von Stegemann und Musyal aufzeigt. Das 2020 erschienene Buch skizziert, wie die (rechtsextremistische) Radikalisierung im Internet bzw. den sozialen Netzwerken ihren nahezu unkontrollierbaren Verlauf nimmt. Auch wenn es ein »Online-Phänomen« ist – direkte Auswirkungen hat dieses auf die greifbare Welt offline. Neben dem Tod von Walter Lübcke am 1. Juni 2019 forderte der rechtsextremistische Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 zwei Todesopfer. Neun Menschen verloren am 19. Februar 2020 in Hanau aufgrund eines rechtsterroristischen Attentats ihr Leben. Untersuchungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (www.verfassungsschutz.de) verraten, dass die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Gewaltund Straftaten 2021 im Vergleich zum Vorjahr um weitere 10 % anstieg. Die Zahlen werden von den Opferinitiativen rechtsextremer Gewalt jedoch häufig deutlich höher eingeschätzt als vom Verfassungsschutz (vgl. www.opferperspektive.de).

Während also sowohl das rechtsextreme Personenpotential als auch die rechtsextreme Gewaltbereitschaft in den letzten Jahren nach und nach zugenommen hat, ist ein Ereignis beispielhaft dafür und Grund genug, um ein Buch zu diesem Thema zu verfassen: Die Autorin Jasmina Kuhnke (@quattromilf) sagte im Rahmen der Frankfurter Buchmesse ihren Auftritt am 18. Oktober 2021 ab. Vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Bedrohungssituation – so wurde ihre private Adresse mit konkreten Morddrohungen im Internet veröffentlicht – war es für Kuhnke insofern unvorstellbar, als Gast der ARD Radiokulturnacht der Bücher ihren Debütroman »Schwarzes Herz« vorzustellen, als dass der Jungeuropa Verlag von Philip Stein in unmittelbarer Nähe zum ZDF-Stand ausstellte. Von Philip Stein wird in den folgenden Seiten noch die Rede sein. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt, dass er u.a. das neurechte Crowdfunding-Projekt »Ein Prozent« verwaltet, dessen Facebook-, Instagramund YouTube-Accounts mittlerweile gesperrt worden sind und das vom Verfassungsschutz immerhin mittlerweile als Beobachtungsfall eingestuft worden ist. Stein selbst hat Anfang 2021 auf Twitter u.a. die »Abschiebung« von Kuhnke gefordert (was völlig absurd ist, da Kuhnke deutsche Staatsbürgerin ist). Jasmina Kuhnkes Erfahrung ist mitnichten ein Einzelfall. Drei von vier gemeldeten Hassbeiträgen im Internet schreibt die Marktund Sozialforschungsgruppe g/d/p der politisch motivierten Kriminalität von rechts zu. Dies vorausgesetzt, kann Kuhnke ihre Absage folgendermaßen auf Twitter zusammenfassen: »Ich rede mit Nazis nicht, ich höre Nazis nicht zu, ich lese keine Bücher von Nazis.«

Ob Kuhnkes Rücktritt auf der Frankfurter Buchmesse angemessen war, haben diverse Feuilletons bundesweit erörtert. Wenn also der Messechef Jürgen Boos auf dem Meinungsaustausch beharrt und betont, der Meinungsfreiheit verpflichtet zu sein, dann könnte man Kuhnkes Haltung als Cancel Culture bezeichnen. Die Frage, die allerdings auch in den Mittelpunkt gerückt werden könnte, umreißt die möglichen Grenzen einer diskussionswürdigen Meinung. Jasmina Kuhnke selbst schreibt auf ihrem Twitteraccount, das Argument der Meinungsfreiheit sei obsolet, da der Jungeuropa Verlag rassistische und antisemitische Anschauungen transportiere, selbst also die Freiheit der anderen eingrenzt. Die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank (www.bs-anne-frank.de) solidarisiert sich in einer Pressemitteilung mit Kuhnke und ihrer Haltung. Gerade die Morde der letzten Jahre machten deutlich, dass eine akute Bedrohungslage bestehe. Die Möglichkeit für rechtsnationale Verlage, auf der Frankfurter Buchmesse auszustellen, trage zur weiteren Normalisierung und Verbreitung von Menschenhass bei, schreibt Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank.

Insgesamt gibt es keine eindeutige und anerkannte Handlungsmaxime in Bezug auf den Umgang mit extremen Meinungsmachern. Diese scheinbare Aporie existiert bereits seit der Gründung der AfD im Jahr 2013. Waren sich Politikwissenschaftler wie Eckhard Jesse in den 2000er Jahren auch vor dem Hintergrund des kruden Verbotsverfahrens gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands noch einig, dass die NPD bei allen tragenden gesellschaftlichen Gruppen isoliert und geächtet sei, so gelang es der AfD, anders als beispielsweise der NPD, in rasender Geschwindigkeit in allen Landesparlamenten und sogar in den Bundestag sowie das Europäische Parlament einzuziehen. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 kam auch auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig die Frage nach dem Umgang mit Verlagen auf, die neo-nationalistische bzw. neurechte Positionen vertreten. In den letzten Jahren ließ man auch nationalistisch-völkische Verlage an ihren Messeständen ausstellen (2018 auch aufgrund einer Verlags-Scharade von Götz Kubitschek) und nicht immer wurde die Option wahrgenommen, Verlage mit völkischen und antidemokratischen Inhalten in eine schlecht besuchte Sackgasse zu verlegen. 2021 hat dies ebenfalls nicht funktioniert und so durfte sich der Jungeuropa Verlag um Philip Stein neben der großen Bühne des ZDF präsentieren.

Insgesamt also, so scheint es, gibt es nur zwei brauchbare Handlungsoptionen im Umgang mit rechtsextremen und neurechten Institutionen: Entweder man lädt sie ein oder man grenzt sie aus – beides mit berechenbaren Konsequenzen. Einerseits ist Ausgrenzung keine demokratische Option und zudem verschwindet eine Idee nicht aufgrund eines Verbots. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass die Taktik, mit einer Einladung die neo-nationalistische Argumentation zu demaskieren und dadurch eine bürgerliche Ächtung dieser Institutionen hervorzurufen, in den 2020er Jahren nicht mehr greift. Zu stark scheint das Opfer-Narrativ und zu groß die Menge an Fehlinformationen und Verschwörungstheorien (von denen noch zu lesen sein wird) aus den sozialen Netzwerken, dem sogenannten »Dark Social«, zu sein. Das Netz spielt eine immense Rolle bei der Verbreitung von Fehlinformationen und der damit in Zusammenhang stehenden Radikalisierung. »Was im Netz beginnt, setzt sich auf der Straße fort«, so schrieb die Süddeutsche Zeitung am 10. Dezember 2021. Diese traurige Wahrheit wurde bereits mit der Ermordung eines 20-jährigen Studenten im September 2021 Gewissheit, der allein deswegen erschossen wurde, weil er einen Kunden auf die Maskenpflicht aufmerksam gemacht hatte.

Auch der ehemalige Bundesbeauftragte für Ostdeutschland, Marco Wanderwitz, könnte die genannte Schlussfolgerung bestätigen. Dieser behauptete im Rahmen eines Interviews mit dem TV-Format Panorama im Herbst 2021, dass es mit einem offenen Diskurs mit Corona-Leugnern und Impfgegnern, sofern sie dem neurechten Spektrum angehörten, nichts zu gewinnen gäbe. Im Zentrum der aktuellen Diskurse stehe nämlich stets die Ablehnung des Staates. Wenn es nicht seit der Corona-Pandemie die Ablehnung der Corona-Maßnahmen ist, so war es um 2015 die Ablehnung der Flüchtlingspolitik und wiederum davor, um 2010, die Ablehnung des Eurorettungsschirmes während der Finanzkrise. Eine nationalistisch-völkische Grundhaltung sorge dafür, dass man sich immer an einem neuen Thema abarbeiten könne, solange man grundsätzlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Staates ablehne. Wanderwitz machte vor der Bundestagswahl 2021 deutlich, welche Maßnahme für ihn allein gangbar im Umgang mit nationalistisch-völkischen Meinungen sei: Ausgrenzung! »Wer eine rechtsradikale Partei wählt, ist für mich kein Demokrat – das macht ein anständiger Demokrat nicht – gerade nicht in Deutschland«, führt der 45-Jährige im TV-Interview seine Position aus und erläutert weiter: »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht bei diesem ständigen Hinterherlaufen dieser lauten, lärmenden, rechtsradikal wählenden Minderheit vergessen, Politik für die zu machen, die die Mehrheit sind und die mit uns gemeinsam am guten Zukunftskonzept dieses Landes weiterbauen wollen.«

Wenn Wanderwitz sich für die »Ausgrenzung« bzw. die »Konfrontation« entschieden hat und »Rechtsradikale« auch als solche bezeichnet wissen will, setzt er damit nicht nur seine politische Karriere aufs Spiel (er verlor sein Direktmandat an einen AfD-Abgeordneten in Sachsen und wurde auch nicht mehr als Ostbeauftragter aufgestellt), sondern macht sich zeitgleich auch zur Zielscheibe weiterer Radikalisierung: In der Silvesternacht 2020/21 wurde auf Wanderwitz’ Wahlkreisbüro in Zwönitz ein Anschlag mit Pyrotechnik verübt.

Von Corona-Leugnung und Verschwörungstheorien über Telegram zu dem Jungeuropa Verlag von Philip Stein scheint es manchmal bloß ein (Corona-)Spaziergang zu sein. Allein dies macht die bis ins Unermessliche steigende Komplexität des Themas rund um Gruppen deutlich, die den Staat delegitimieren – und erfordert unbedingt eine Systematisierung. Wir wollen diese auf den folgenden Seiten anbieten, sodass abschließend auch eine Begegnungsstrategie sichtbar wird.

Am besten gelingt uns das, wenn wir die sogenannte Identitäre Bewegung als Beispiel für eine neurechte Gruppe herausstellen, da sie zugleich ein Phänomen des Internets ist und u.E. am Anfang der Entwicklung aller weiteren sich radikalisierenden nationalistisch-völkischen Gruppen steht. Aufgrund ihrer Anfänge, ihrer Reichweite und ihres möglichen Niedergangs bzw. eher Amorphisierung kann man quasi wie in einer Petrischale die Entwicklung einer Gruppe beobachten, die einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ablehnend gegenübersteht. An den Identitären führt kein Weg zurück und auch nicht mehr vorbei, sodass diese selbst ernannte Bewegung als Vorbild jeder weiteren online vernetzten Gruppierung angesehen werden kann, die verfassungsfeindlich denkt und agiert.

Zunächst werden wir der Frage nachgehen, wer oder was die Identitären überhaupt sind. Die Beantwortung dieser Frage führt direkt zu der nächsten, wie neu diese Neuen Rechten sind und welche historischen Hintergründe für die Einordnung ihres Gedankenguts wichtig sind. Nachdem wir uns im dritten und vierten Kapitel damit beschäftigt haben, welche Ideologie die sogenannte Identitäre Bewegung vertritt und welche Ziele sie verfolgt, beleuchten wir im fünften Kapitel, welche Struktur dieser Gruppe zugrunde liegt und stellen einen primär europäischen Vergleich an. Die Vorgehensweise der Identitären, an die Öffentlichkeit zu treten, ist Teil des sechsten Kapitels. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen ihrer politischen Gesinnung, die wir im siebten Kapitel beschreiben, bemühen wir uns im achten Kapitel, Strategien zu entwickeln, mit denen einer Gruppierung wie der sogenannten Identitären Bewegung begegnet werden kann. Am Ende eines jeden Kapitels finden sich die wichtigsten Punkte in einer stichwortartigen Zusammenfassung.

Das vorliegende Buch möchte eine Orientierungshilfe sein und diese selbsternannte Bewegung historisch und politisch einordnen, ihren spezifischen Aktivismus analysieren sowie Möglichkeiten der Enttarnung aufzeigen. Der Umgang mit nationalistisch-völkischem Gedankengut und der Ablehnung freiheitlich-demokratischer Prinzipien wird gerade in den kommenden Jahren vor dem Hintergrund unterschiedlicher Krisensituationen (Coronakrise, Inflation, Klimakrise, Ukraine-Krieg u.v.m.) eine immer größere Rolle spielen. Wir hoffen mit einer gründlichen Betrachtung der Identitären und einer Beantwortung der Fragen: Woher kommen sie? Was wollen sie? Wie agieren sie?, Teil des Krisenmanagements und des Lösungsprozesses zu sein.

21.01.2024, 15:40

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