Leseprobe : Kriege, Krise, Klimakatastrophe

Georg Diez ist sich sicher: Wir müssen wieder trainieren, in Alternativen zu denken und die Möglichkeiten erkennen, die in Krisenmomenten vorhanden sind. Wir müssen an die Handlungsfähigkeit glauben, als Einzelne, in der Gemeinschaft, als Demokratie

Anfang des Jahres demonstrierten Millionen Menschen deutschlandweit gegen die AfD und den Rechtsextremismus
Anfang des Jahres demonstrierten Millionen Menschen deutschlandweit gegen die AfD und den Rechtsextremismus

Foto: Craig Stennett/Getty Images

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Kipppunkte

Kipppunkte

Georg Diez

Hardcover mit Schutzumschlag

395 Seiten

26 €

In Kooperation mit Aufbau Verlag

Kipppunkte

Warum die neunziger Jahre?

Dieses Buch ist eine Gebrauchsanweisung für die Gegenwart, mehr eine Gedankenübung als ein Geschichtswerk. Und doch unternimmt es die erste Gesamtschau des Jahrzehnts, das entscheidend ist für das Verständnis der Krisen unserer Gegenwart: In den neunziger Jahren wurde die Welt geschaffen, in der wir immer noch leben und die gerade krachend kollabiert.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, nach dem Ende der Geschichte, wie es hieß, nach dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, nach der deutschen und der europäischen Einheit, nach dem Triumph, so klang es, des Westens als politische und kulturelle Matrix was konnte da noch schiefgehen?

Leider, das zeigt sich, ziemlich viel. Und so stehen wir vor dem Scherbenhaufen der Chancen, die dieses Jahrzehnt geboten hätte. Ziel dieses Buches ist es, diese verpassten Chancen für heute zu beschreiben. Ziel ist es, die Geschichte der neunziger Jahre zu nutzen, nicht zur Abrechnung, sondern zur Aufklärung. Und zu zeigen: Das waren die Ideen und Alternativen, das sind die nicht eingelösten Versprechen, das sind die »roads not taken«.

Dieses Buch soll etwas kämpferischen Optimismus verbreiten. Denn das Gefühl von Krise ist umfassend, und in der abermaligen Wahl von Donald Trump zum USPräsidenten verdichten sich Autoritarismus, Demokratieverneinung, Profitgier, Rassismus, Frauenverachtung und Neodarwinismus verbunden mit der entgrenzten Klimakatastrophe und einer toxischen Kombination von Technologie und Kapital. Der Horizont scheint zu verschwinden, der Blick auf die Zukunft scheint sich zu schließen.

Was aber haben die neunziger Jahre damit zu tun? Im Rückblick fällt die aufgekratzte Apathie jener Zeit auf, eine echte und eine falsche Euphorie, dass es –trotz der Kriege in Irak und auf dem Balkan und des Genozids in Ruanda, um nur ein paar Schrecken dieses Blutjahrzehnts zu nennen nun immer besser werden würde. Freiheit sollte endlich Gestalt annehmen.

Was auch auffällt, das ist die Dunkelheit, die am Anfang der Dekade herrschte, die Verstörung, die Verweigerung, die Gewalt, die aus dem Herzen des Kapitalismus selbst kam, die sich gegen diesen Kapitalismus wendete und in der Kultur spiegelte: GenerationX, Nirvana und der Selbstmord von Kurt Cobain; Bret Easton Ellis Roman American Psycho und Blutlust aus turbokapitalistischem Selbsthass; Fight Club, das Buch und der Film, wo die Gewalt, die in Gier und Geld geborgen ist, nach außen gewendet wurde, Mann gegen Mann und jeder gegen sich selbst.

Was weiter auffällt, das ist, wie wenig wir uns erinnern wollen, wie umfassend die Amnesie ist und wie absichtsvoll: Alles, was wir heute über die Klimakatastrophe wissen, war damals schon klar. Alles, was Elon Musk und seine Oligarchenfreunde an digital-libertären Dystopien erschaffen, wurde damals vorbereitet. Alles, was westliche Hybris, demokratischen Verfall und die Übermacht der Märkte ausmacht, wurde damals diskutiert.

Und heute? Was können wir aus dem lernen, was damals passierte? Und wie können wir es ändern? Denn darum geht es: Wir müssen wieder trainieren, in Alternativen zu denken. Wir müssen die Möglichkeiten erkennen, die in jedem Krisenmoment vorhanden sind. Wir müssen die Kraft wiederfinden und an unsere Handlungsfähigkeit glauben, als Einzelne, in der Gemeinschaft, als Demokratie.

Geschichte ist nie linear, Geschichte ist verschlungen, sie überlagert sich, sie überlappt sich. Vieles wird verständlicher, wenn wir der Enge und der scheinbaren Alternativlosigkeit unserer Gegenwart ausweichen, vieles wird dadurch auch veränderbarer. In diesem Sinne ist dies ein politisches Buch Politik verstanden als der organisierte Versuch, das Leben gemeinsam zu verändern. Politik als die Notwendigkeit, in Optionen zu denken und sich nicht mit dem abzugeben, was andere sagen. Politik auch als etwas, das in den neunziger Jahren verlernt wurde, als Handwerk, als Denkweise, als kollektive Anstrengung.

Es war in vielem ein verlorenes Jahrzehnt, es war auch ein sehr langes Jahrzehnt: Eine mögliche Zeitspanne wären die Jahre zwischen dem 9.November1989, als die Mauer fiel, und dem 11.September2001, als der Terroranschlag auf das World Trade Center die Auszeit von der Geschichte beendete. Ein weiteres denkbares Ende der neunziger Jahre wäre die Finanzkrise von 2008 und 2009, als die Spekulationsblase rund um den Immobilienmarkt barst und in der Folge Banken gerettet wurden und die Bürger nicht was auf der einen Seite zu den Protesten von Occupy Wall Street 2011 führte und auf der anderen Seite zur Wahl von Donald Trump 2016.

Ich wähle diesen weiten Winkel. Die neunziger Jahre beginnen für mich 1973, als das Bretton-Woods-Abkommen zerbrach, das die Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg geregelt hatte, und damit die neoliberale Ära Form annahm – und sie enden 2016, als dieselbe neoliberale Ära mit der Wahl von Donald Trump und dem Brexit crashte. So grenzt auch der Harvard-Ökonom Dani Rodrik die Epoche ein, mit dem ich, wie mit vielen anderen Menschen, während der Arbeit an diesem Buch gesprochen habe das aus konkreten Fragen entstand, die ich an die Gegenwart hatte.

Ein Auslöser war die Frustration mit einer bestimmten Art von Politik ohne Politik, oft eher ein technokratisches Achselzucken als demokratisches Anpacken die Methode Scholz zum Beispiel, dessen politisches Projekt eine Art von Projektverweigerung war und der sich als Erbe und Vollstrecker einer ganzen Generation von Sozialdemokraten erwies: Gerhard Schröder und Tony Blair hatten mit dem »dritten Weg« in den neunziger Jahren die Entpolitisierung der Gesellschaft vorangetrieben und dennoch wenigstens Reformen gewagt, deren Folgen bis heute nachwirken.

Ein weiterer Auslöser war die Frustration über die Art und Weise, wie über den Krieg Russlands in der Ukraine gesprochen wurde, medial wie politisch. Historische Analyse wirkte hier eher störend oder polarisierend, wenn es um die NATO-Osterweiterung geht oder die Frage, wie sich eine Verteidigungsallianz in eine Friedensordnung verwandeln kann.

Und schließlich war da noch die Frustration darüber, wie sich seit mehr als 30Jahren die Diskussionen um Klimawandel und Kapitalismus verhaken und dass wir so viel Zeit vergeudet haben, die uns heute fehlt. Das verbindet sich mit der Sorge, dass meine Kinder und Ihre Kinder eine Welt erben werden, die in vielem nicht mehr wiederzuerkennen sein wird.

Wir leben in einer unübersichtlichen Epoche, und die Zeit, die vor uns liegt, lässt sich nicht genau bemessen aus der Erfahrung der Zeit, die hinter uns liegt. Aber es hilft, wenn man versucht, in der Geschichte Muster zu erkennen, Verbindungen zu sehen, Perspektiven zu verknüpfen, die weiter gefasst sind als die atemlose Gegenwart. Die Muster, die sich abzeichnen, strukturieren die Lektüre des Buches.

Ich glaube sehr daran, dass es notwendig ist, diese Struktur in der Vergangenheit zu erkennen, um die Mutlosigkeit und Trägheit unserer Gesellschaften zu überwinden. Ich glaube daran, dass Ideen helfen, die Welt zu gestalten, und dass es darum geht, bestimmte Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität auf der Folie der neunziger Jahre neu zu definieren.

Ich suche deshalb nach den Kipppunkten, nach den Momenten und Konstellationen, an denen Geschichte hätte anders verlaufen können oder an denen Entscheidungen getroffen wurden, deren Konsequenzen wir noch heute erleben. Diese Kipppunkte sind, anders als die Kipppunkte der Klimaforschung, nicht unumkehrbar. Es gibt, das ist das Versprechen von Politik, immer die Möglichkeit, den Lauf der Geschichte zu verändern.

Was aber sind die Alternativen? Wo sind sie zu finden? Wie kann aus dem, was nicht geschehen ist, eine neue Wirklichkeit werden? Wie funktioniert historische Spekulation? Was ist, mit anderen Worten, die Macht des Kontrafaktischen?

Diese Gedanken strukturieren das Buch. Diesen Motiven gilt es zu folgen. In der Vergangenheit versteckt liegen die Schlüssel dafür, unsere Zukunft anders zu gestalten

Und so bleibt die Hoffnung, dass dieses Buch so wirkt, wie es gemeint ist: Als Einladung, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam weitermachen wollen. Es ist kein Werk der Melancholie oder des Pessimismus. Es geht nicht darum zu zeigen, was alles falsch gelaufen ist. Es geht darum zu verstehen, was wir tun müssen, um die Dinge wieder zu richten.

Dafür sind neue Ideen und neue Allianzen notwendig. Dafür ist auch eine andere Art von Politik notwendig, die sich aus der Selbstentmachtung der neunziger Jahre befreit, und eine neue Rolle für den Staat, der Treiber der Veränderungen sein muss. Das bedeutet eine tiefe Revision wesentlicher Grundlagen des Denkens dieser Zeit.

Die Alternativen zeichnen sich immer klarer ab. Elon Musk ist too rich to fail, er ist der Principe unter der neuen Gang der Tech-Fürsten, die einen digital getriebenen Neofeudalismus zum Ziel haben. Donald Trump macht das autoritäre Denken great again. Und Mark Zuckerberg führt den Opportunismus der Wirtschaftseliten vor, die allzu leicht der Logik von Macht und Stärke folgen.

Das Interregnum ist vorbei. Wir leben in einer neuen Epoche, die sich vor unseren Augen entfaltet. Wie baut sie auf dem auf, was vorangegangen ist? Wie unterscheidet sie sich davon? Gerade setzt sich die Wirklichkeit in rasender Geschwindigkeit neu zusammen. Was gestern Wahrheit war, gilt heute als Ideologie: Der Klimawandel wird mehr und mehr totgeschwiegen, Diversität wird als umgekehrter Rassismus definiert, Wachstum wird wieder fossil definiert.

Die Mechanik des Neuen nimmt Elemente des Alten auf – und spitzt sie radikal zu. Das ist erschreckend. Das ist auch verblüffend. Sind die Menschen nicht in der Lage zu lernen, frage ich mich dieser Tage immer öfter.

Die neue Ära, die auf jene folgt, die mit den neunziger Jahren begann, wird unübersichtlich sein und voller alter und neuer Gewalt. Wir müssen uns darauf vorbereiten. Wir werden eine Weile damit leben.

Der Blick zurück hilft. Verstehen ist das eine, handeln ist das andere.

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Georg Diez ist Journalist und Buchautor, der für deutsche und internationale Medien schrieb und unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und den Spiegel tätig war. Heute forscht er zu Fragen demokratischer Innovation

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