Nishk
Ein Meer inmitten der Bäume. Wasser, soweit das Auge reicht, grau oder blau, je nach Laune des Himmels, durchzogen von eisigen Strömungen. Dieser See ist zugleich schön und beängstigend. Maßlos. Und das Leben ist ebenso zerbrechlich wie leidenschaftlich.
Die Sonne geht im Morgennebel auf, doch der Sand ist immer noch von der nächtlichen Kühle durchdrungen. Wie lange sitze ich schon vor Pekuakami (1)?
Tausend dunkle Flecken tanzen zwischen den Wellen und tratschen ungeniert. Der Wald ist eine Welt des Sichverbergens und der Stille. Beuteund Raubtiere rivalisieren darin, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Dennoch trägt der Wind den Lärm der Zugvögel heran, lange bevor sie sich am Himmel zeigen, und nichts scheint ihrem Gekreisch Einhalt gebieten zu können. Diese Trappgänse tauchen am Beginn meiner Erinnerungen an Thomas auf. Wir waren seit drei Tagen unterwegs und ruderten in nordöstlicher Richtung, ohne uns von den sicheren Ufern zu entfernen. Rechts das Wasser. Links ein Sandstreifen und Felsen, die vor dem Wald emporragten. Ich bewegte mich zwischen zwei Welten, in einem Rausch, den ich nie zuvor empfunden hatte.
Als die Sonne sich neigte, gingen wir in einer windgeschützten Bucht an Land. Thomas schlug das Lager auf. Ich half ihm, so gut ich konnte, und bombardierte ihn mit Fragen, aber er begnügte sich mit einem Lächeln. Mit der Zeit begriff ich, dass man, um zu lernen, schauen und hören muss. Fragen war sinnlos.
An dem Abend setzte er sich auf seine Fersen und legte den Vogel, den er gerade geschossen hatte, auf seine Knie, ein recht fettes Tier, das er rupfte, wobei er zuerst die größten Federn ausriss. Das ist eine Arbeit, die große Sorgfalt verlangt, denn wenn man zu ungeduldig ist, bricht der Kiel ab und bleibt im Fleisch stecken. Sich Zeit nehmen. Das muss man häufig in den Wäldern. Nachdem das Tier von seinem Federkleid befreit war, hielt er es ins Feuer, um den Flaum abzusengen. Anschließend kratzte er mit dem Messer über die Haut, ohne sie zu beschädigen, sie und ihr wertvolles Fett. Dann hängte er die Trappe über die Flammen, um sie zu braten.
Ich bereitete Tee, und wir aßen auf dem Sand im Angesicht des Sees unter einem bestirnten Himmel. Ich hatte keine Ahnung, was uns erwartete. Aber in genau diesem Augenblick war ich überzeugt, dass alles gut gehen würde, dass ich recht gehabt hatte, meinem Instinkt zu vertrauen.
Er sprach kaum Französisch und ich noch nicht Innuaimun. Aber an jenem Abend am Ufer, gehüllt in den Duft von gegrilltem Fleisch, fühlte ich mich mit meinen fünfzehn Jahren zum ersten Mal in meinem Leben an meinem Platz.
Ich weiß nicht, wie die Geschichte unseres Volkes enden wird. Aber für mich beginnt sie mit dieser Mahlzeit zwischen dem Wald und dem See.
Waise
Ich wuchs in einer bewegungslosen Welt auf, in der die Jahreszeiten den Lauf der Dinge bestimmten. Einer Welt der Langsamkeit, in der das Wohl von einem Stück Land abhing, das man unermüdlich bearbeiten musste.
Meine ältesten Erinnerungen reichen bis zu der Hütte zurück, in der wir lebten, kaum mehr als ein einfaches Siedlerhaus aus Holz, viereckig, mit einem Satteldach und einem einzigen Fenster in der Fassade. Davor ein Sandweg. Dahinter ein Feld, das mit bloßer Muskelkraft dem Wald abgerungen war.
Es ist ein steiniger Boden, und doch behandeln die Menschen ihn wie einen Schatz, pflügen ihn um, düngen ihn, entfernen die Steine. Und er vergilt es ihnen mit fadem Gemüse, etwas Weizen und Heu, um die Kühe zu füttern, die Milch geben. Ob die Ernte gut oder schlecht wird, hängt vom Wetter ab. Darüber entscheidet der Himmel, sagte der Pfarrer. Als hätte Gott nichts anderes zu tun.
An meine Eltern habe ich keine Erinnerung. Ich habe oft versucht, mir ihre Gesichter vorzustellen ... Mein Vater war groß, stark und entschlossen. Er hatte kräftige Hände. Meine Mutter war blond mit blauen Augen, wie meine. Sie hatte feine Gesichtszüge und war herzlich und liebevoll. Natürlich existierten diese beiden Personen nur in meiner kindlichen Vorstellung. Wer weiß, wie meine Erzeuger wirklich waren. Im Grunde ist es egal. Aber ich möchte gern glauben, dass Stärke und Sanftmut sie auszeichneten.
Ich wuchs bei einer Frau und einem Mann auf, die ich „Tante“ und „Onkel“ nannte. Ich weiß nicht, ob sie mich geliebt haben, aber sie haben sich um mich gekümmert. Sie sind vor langer Zeit gestorben, und das Haus am Ende der Rivière à la Chasse (2) ist niedergebrannt. Das Land aber ist noch da. Die Felder beanspruchen nun den ganzen Platz. Die Bauern, die an ihrem kleinen Stück Land kleben, umschließen jetzt Pekuakami.
Wind kommt auf und streichelt mein verlebtes Gesicht. Der See ist unruhig. Ich bin nur eine alte Frau, die zu lange gelebt hat. Zumindest dir, mein See, können sie nichts antun. Du bist unwandelbar.
––––––––––––––––––––––––––––––––––––
(1) Pekuakami (Piékoagami) ist der ursprüngliche Name des Lac Saint-Jean und bedeutet in der Sprache der Innu ≈flacher See« oder ≈seichter Fluss«. Später wurde der See zu Ehren des Jesuitenpaters Jean de Quen (um 1603 ∑ 1652), der bei seinen Erkundungen Neufrankreichs am 20. Mai 1647 als erster an die Ufer des Sees kam und dort eine Mission errichtete, in Lac Saint-Jean umbenannt. Der Lac Saint-Jean ist ein vergleichsweise seichter 1003 km2 großer und 98 m hoch gelegener See in den laurentinischen Bergen in der Provinz Québec, etwa 160 Kilometer westlich des Sankt-Lorenz-Stroms, in den der Saguenay, der Abfluss des Lac Saint-Jean, nahe der alten Kolonialsiedlung Tadoussac mündet. Der See bildet das Zentrum der Verwaltungsregion Saguenay-Lac-Saint-Jean. Mit einer Ausdehnung von 43,8 auf 24 km und einer Uferlänge von 436 km ist er das drittgrößte Binnengewässer der Provinz.
(2) Die Rivière à la Chasse ist ein Nebenfluss des Lac Saint-Jean, der durch die Gemeinden Sainte-Hedwige und Saint-Prime in der Regionalgemeinde Le Domaine-du-Roy in der Verwaltungsregion Saguenay-Lac-Saint-Jean fließt.