Links ist nicht gleich liberal

Leseprobe Susan Neiman hält nichts davon, von „linksliberalen Werten" zu sprechen um das „bedenkliche Wort „links" zu entkräften". Denn die politische Linke setze sich dafür ein, Grundrechte auch real umzusetzen.
Faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Wohnen sind Fragen der Gerechtigkeit, nicht der Wohltätigkeit
Faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Wohnen sind Fragen der Gerechtigkeit, nicht der Wohltätigkeit

Foto: AFP / Getty Images

Einleitung

Was dieses Buch nicht enthält: Tiraden gegen Cancel Culture oder Aufrufe zu Überparteilichkeit. Genauso wenig werde ich von der liberalen Tugend sprechen, sich um Verständnis für diejenigen zu bemühen, die unsere Ansichten nicht teilen, obwohl ich das eindeutig für eine Tugend halte. Doch verstehe ich mich nicht als Liberale. In Europa redet man gern von linksliberalen Werten, um das bedenkliche Wort »links« zu entkräften, zu dem ich weiterhin stehe. Meine Loyalität war von jeher parteiisch: Aufgewachsen bin ich in Georgia, während der Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung, und habe mich danach immer weiter nach links bewegt. Heute, wo selbst das Wort »liberal« in Amerika als Schimpfwort gebraucht wird, vergisst man leicht, dass es selbst dort einst Menschen gab, die sich ohne weiteres Sozialisten nannten. Anfang des Kalten Krieges schrieb kein Geringerer als Albert Einstein eine stolze Verteidigung des Sozialismus. Das würden heute immer weniger Menschen tun. Doch wie Einstein und viele andere lasse ich mich gerne eine Linke und Sozialistin nennen.

Von den Liberalen unterscheidet sich die Linke darin, dass sie nicht allein die politischen Rechte hochhält, die uns Rede-, Religions-, Bewegungs- und Wahlfreiheit sichern, sondern auch die sozialen Rechte reklamiert, die eine reale Ausübung dieser politischen Rechte erst garantieren. Liberale Autoren sprechen von »Ansprüchen« oder »sozialer Sicherung«. Solche Begriffe lassen es so aussehen, als wären faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Wohnen Fragen der Wohltätigkeit und nicht der Gerechtigkeit. Dabei sind diese und andere soziale Rechte auf faire Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnen und Teilnahme am kulturellen Leben in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten, die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Die meisten Mitgliedstaaten haben dieses Dokument unterzeichnet, und doch hat bislang keiner dieser Staaten eine Gesellschaft geschaffen, die all diese Rechte sicherstellt – die Erklärung ist rechtlich nicht bindend. Mag das Dokument auch in sagenhafte 530 Sprachen übersetzt worden sein, mehr als einen Anspruch formuliert die Erklärung nicht. Linkssein heißt, darauf zu bestehen, dass diese Ansprüche nicht utopisch bleiben.

»Sich schrittweise durch die Veränderung des Rechts-, Fiskal- und Sozialsystems in diesem oder jenem Land auf den partizipatorischen Sozialismus zuzubewegen, ist durchaus möglich. Wir brauchen nicht auf die Einstimmigkeit des Planeten zu warten«, schreibt der Ökonom Thomas Piketty.[1] Es reiche, die Steuern auf einen Satz zu erhöhen, der unter dem läge, den die Vereinigten Staaten und Großbritannien in der Ära des größten Wirtschaftswachstums nach dem Krieg erhoben haben. Piketty kommt zu dem Schluss, dass gerade die Desillusionierung über ökonomische und soziale Gerechtigkeit Identitätskonflikte auslöse.[2] Es geht in diesem Buch auch nicht darum, dass sich die Linke mehr um ökonomische als um andere Formen der Ungleichheit kümmern sollte. Ich halte das zwar tatsächlich für richtig, aber dafür sind schon hinreichend Lanzen gebrochen worden. Mich beschäftigt vielmehr, warum sich sogenannte linke Stimmen der Gegenwart von philosophischen Ideen verabschiedet haben, die für den linken Standpunkt von zentraler Bedeutung sind: ein Bekenntnis zum Universalismus statt zum Stammesdenken, eine klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Überzeugung, dass Fortschritt möglich ist. All diese Ideen sind miteinander verbunden.

Aber sie werden im heutigen Diskurs kaum noch erwähnt. Das hat recht viele meiner über die Welt verstreuten Freunde zu dem bitteren Schluss kommen lassen, sie gehörten nicht mehr zu den Linken. Auch wenn sie sich ihr Leben lang für soziale Gerechtigkeit eingesetzt haben, finden sie die Entwicklungen auf Seiten der sogenannten woken Linken oder radikalen Linken äußerst befremdlich. Ich bin dennoch nicht bereit, das Wort »links« aufzugeben oder mich der Meinung anzuschließen, man sei entweder woke oder reaktionär. Stattdessen möchte ich untersuchen, wie die selbsternannte Linke von heute Kerngedanken hat fallenlassen, an denen jeder Linke festhalten sollte.

In einer Zeit, in der auf allen Kontinenten antidemokratische und nationalistische Bewegungen wachsen, stehen wir da nicht vor drängenderen Problemen als dem, die Theorie zu klären? Eine Kritik an denen, die vermeintlich die gleichen Werte teilen, könnte narzisstisch klingen. Doch sind es wahrlich keine kleinen Unterschiede, die mich von denen trennen, die sich für woke halten. Die Differenzen betreffen nicht bloß Stil und Ton, sie treffen ins Herz dessen, was es heißt, links zu sein. Die größere Gefahr mag von den Rechten ausgehen, doch die Linken von heute haben sich selbst der Ideen beraubt, die wir unbedingt brauchen, um dem allgemeinen Rechtsruck zu widerstehen.

Die Verschiebung nach rechts findet international statt und ist gut organisiert. In Bangalore, Budapest und anderswo kommen rechte Nationalisten regelmäßig zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen und Strategien abzusprechen, auch wenn jede Nation dabei ihre Zivilisation für die höhere hält. Die Solidarität unter den Rechten zeigt, dass nationalistische Überzeugungen nur am Rande auf der Idee fußen, Ungarn/Norweger/Juden/Deutsche/Angelsachsen/Hindus seien der beste aller möglichen Stämme. Was sie eint, ist vielmehr das Prinzip des Stammesdenkens selbst: Echte Verbindungen entstehen nur zwischen Menschen gleicher Stämme, folglich haben wir keine tiefen Verpflichtungen gegenüber anderen. Es ist mehr als ironisch, dass die Stammesdenker von heute besser kooperieren als diejenigen, deren Engagement sich, ob sie es nun wissen oder nicht, aus dem Universalismus speist.

Woke bezeichnet keine eigentliche Bewegung. Der Ausdruck stay woke ist zum ersten Mal 1938 in dem Lied Scottsboro Boys des großen Bluesmusikers Leadbelly belegt. Gewidmet war es neun schwarzen Teenagern, deren Hinrichtung wegen Verge- waltigungen, die sie nie begangen hatten, erst durch jahrelange internationale Proteste verhindert werden konnte. Wach bleiben für Ungerechtigkeit, wachsam für Anzeichen von Diskriminierung, was sollte daran falsch sein? Doch innerhalb weniger Jahre wandelte sich der Begriff woke vom Lobes- zum Schmähwort. Was ist da geschehen?

Von Ron DeSantis bis zu Rishi Sunak und Éric Zemmour ist woke zu einem Schlachtruf geworden, der zum Kampf gegen alle Antirassisten aufruft, ähnlich wie der Begriff Identitätspolitik ein paar Jahre früher umgekrempelt worden ist. Dennoch liegt die Schuld nicht allein bei den Rechten. Barbara Smith, Gründungsmitglied des Combahee River Collective und Schöpferin des Begriffs, betont, dass Identitätspolitik inzwischen auf eine Weise gebraucht wird, die nie beabsichtigt worden ist. »Es bedeutet absolut nicht, dass wir nur mit Menschen zusammenarbeiten würden, die so sind wie wir. Unser Credo ist es, mit Menschen ganz diverser Identitäten an gemeinsamen Problemen zu arbeiten.« [3] Man könnte dennoch auf die Idee kommen, schon in den ursprünglichen Absichten habe der Keim zum Missbrauch gelegen. Dass aber weder die Wörter Identitätspolitik noch woke Politik mit der notwendigen Nuanciertheit eingesetzt wurden, ist offensichtlich Beide führten zu Entfremdungen, die sich die

Rechten schnell zu Nutze machten. Universitäten und Unternehmen neigen eher dazu, woke Tendenzen zu eskalieren als Aktivisten, die vor Ort arbeiten. Der schlimmste Missbrauch geht vom woken Kapitalismus aus, der die Forderung nach Vielfalt zum Zwecke der Profitsteigerung gekapert hat. Der Historiker Touré Reed hält diesen Vorgang für wohlkalkuliert: Unternehmen glauben, dass Schwarze einzustellen ihnen Zugang zu deren Märkten verschafft. [4] Oft geschieht eine solche Vereinnahmung direkt und unverhohlen. McKinseys Bericht für die Filmindustrie erklärt: »Die Industrie konnte durch die Thematisierung der anhaltenden rassistischen Ungerechtigkeit jährlich 10 Milliarden Dollar zusätzlich an Gewinn machen – etwa sieben Prozent mehr als der geschätzte Ausgangswert von 148 Milliarden Dollar.« [5]

Selbst abgesehen von der kruden Ausbeutung dessen, was mit fortschrittlichen Zielen begonnen hat, ist woke vielfach zur Symbolpolitik geworden, anstatt sozialen Wandel einzuleiten. Woker Kapitalismus war das dominierende Thema beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2020, zugleich wurde der Eröffnungsredner Donald Trump mit stehenden Ovationen begrüßt.[6] Der Umstand, dass rechte Politiker das Wort woke verächtlich ausspucken, sollte uns nicht davon abhalten, es zu untersuchen.

Kann man woke definieren? Es beginnt bei der Sorge um ausgegrenzte Menschen und endet bei ihrer bloßen Reduktion auf das Ausgegrenztsein. Mit dem Gedanken der Intersektionalität hätte deutlich gemacht werden können, inwiefern wir schließlich alle mehr als eine Identität haben. Stattdessen führte er dazu, sich ausschließlich auf die Identitäten zu konzentrieren, die die stärkste Ausgrenzung erfahren, und sie zu einem Wald aus Traumata zu verdichten.

Woke hebt hervor, in welcher Weise die Rechte einzelner Gruppen beschnitten worden sind, versucht hier Abhilfe zu schaffen und Wiedergutmachung zu leisten. Doch wenn vor allem Machtungleichgewichte im Fokus stehen, bleibt die Idee von Gerechtigkeit oft auf der Strecke.

Die WokeBewegung fordert Nationen und Völker dazu auf, sich mit den Verbrechen in ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Oft wird aber daraus geschlossen, dass die Geschichte aus nichts als Verbrechen besteht.

Das Verwirrende an der Woke-Bewegung ist, dass sie von Empfindungen angetrieben wird, die traditionell bei der Linken zu finden sind: Mitgefühl für die Ausgegrenzten, Empörung über die Misere der Unterdrückten, die feste Überzeugung, dass historisches Unrecht wiedergutzumachen ist. Doch diese Empfindungen sind durch eine Reihe theoretischer Annahmen so aus der Spur geraten, dass sie schließlich ausgehöhlt werden. Theorie ist ein derart modischer Begriff, dass er sogar zum Namen einer Modemarke geworden ist. Das Wort mag heute keinen klaren Gehalt mehr haben, aber es hat eine Richtung. Was unterschiedlichste intellektuelle Bewegungen mit dem Wort Theorie verbinden ist die Ablehnung des erkenntnistheoretischen Begriffsrahmens und der politischen Annahmen, die das Erbe der Aufklärung waren. Man muss nicht Jahre damit zubringen, Judith Butler oder Homi Bhabha zu entschlüsseln, um von Theorie beeinflusst zu sein. Nur selten bemerken wir überhaupt die inzwischen in die Kultur eingebetteten Annahmen, denn sie werden meistens als selbstverständliche Wahrheiten betrachtet. Da sie als schlichte Beschreibungen der Wirklichkeit auftreten und nicht als Ideen, die wir in Frage stellen können, lassen sie sich nur schwer direkt anzweifeln. Wer im Studium gelernt hat, allen Wahrheitsansprüchen zu misstrauen, wird zögern, eine Falschheit anzuerkennen.

[1] Thomas Piketty, Time for Socialism: Dispatches from a World on Fire, New Haven 2021.
[2] Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, München 2020.
[3] Barbara Smith, zitiert in: Olufemi O. Taiwo, »Identity Politics and Elite
Capture«, Boston Review, 7. Mai 2020.
[4] Touré F. Reed, Toward Freedom: The Case Against Racial Reductionism,
London 2020.
[5] https://www.mckinsey.com, 2021.
[6] New York Times, 23. Januar 2020.
[7] Kwame Anthony Appiah, Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit,
Berlin 2019, S. 21.

06.09.2023, 13:23

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