Auf der Suche nach der wahren Freiheit

Leseprobe Das Schauspiel sagenumwobener Piraten, ihrer Königreiche, Gräueltaten und anarchistischen Utopien erregte im 18. Jahrhundert in der ganzen Welt Aufsehen. Gerüchte verbreiteten sich wie Lauffeuer, schockierten und inspirierten die europäischen Eliten
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Foto: Tomohiro Ohsumi/Getty Images

Vorwort

Dieser Essay wurde zunächst als ein Kapitel einer Sammlung von Essays zum Thema »Gottkönigtum« geschrieben, deren Co-Autor Marshall Sahlins war. [1] Während meiner eigenen Feldforschungen auf Madagaskar in der Zeit von 1989 bis 1991 hörte ich nicht nur zum ersten Mal davon, dass zahlreiche Piraten aus der Karibik sich einst auf Madagaskar niedergelassen hatten, ich erfuhr auch, dass ihre Nachkommen als eigenständige Bevölkerungsgruppe auf der Insel verblieben. (Diese Tatsache wurde mir durch eine kurze Liebesbeziehung zu einer Frau bewusst, deren Ahnenreihe bis zu den Bewohnern der Insel Sainte Marie zurückreichte.) Später staunte ich dann darüber, dass niemand jemals systematische Feldforschung unter diesen Menschen betrieben hatte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens plante ich sogar, selbst ein solches Feldforschungsprojekt anzugehen – ein Plan, der durch verschiedene Zufälle, wie sie das Leben bereithält, unterlaufen und niemals verwirklicht wurde. Eines Tages gehe ich ihn vielleicht doch noch an.

Zu jener Zeit erwarb ich nach einem Besuch in der British Library eine Fotokopie des Mayeur-Manuskripts, [2] die lange Zeit in einem Stapel von Büchern und Dokumenten bei einem Panoramafenster im Zimmer in meinem Apartment in New York, wo ich aufgewachsen war, abgelegt blieb. Es waren außerordentlich große Blätter, die mit einer kaum lesbaren Handschrift aus dem 18.Jahrhundert gefüllt waren. Über viele Jahre hinweg hatte ich oft das Gefühl, dass mich dieser Text leicht vorwurfsvoll lockte, während ich versuchte, an einem anderen Thema zu arbeiten. Als ich dann aufgrund der Machenschaften des Polizei-Nachrichtendienstes 2014 mein Zuhause verlor, ließ ich das ganze Manuskript scannen, zusammen mit verschiedenen Familienfotos und mit Dokumenten, die zu umfangreich waren, um sie mit nach London zu nehmen, und schließlich ließ ich das Manuskript transkribieren.

Es war mir immer etwas rätselhaft vorgekommen, dass dieser Text noch nie veröffentlicht worden war, zumal das in der British Library aufbewahrte, in Mauritius niedergeschriebene Original-Manuskript noch eine kurze Notiz enthielt, wonach eine Typoskript-Fassung des Textes in der Academie Malgache in Antananarivo vorhanden sei und dass man, sofern man es zu sehen wünsche, einen gewissen M. Valette konsultieren solle. Es waren verschiedene Essays französischer Autoren erschienen, die eindeutig Teile dieses Typoskripts gelesen und zusammengefasst hatten. Aber das Originalmanuskript, ein wissenschaftliches Werk, das für sich selbst stand und mit zahlreichen kritischen Fußnoten gespickt war, war niemals zum Druck befördert worden.

Mir wurde schließlich klar, dass ich genug Material zu den Piraten zusammengetragen hatte, um daraus einen eigenen, ansprechenden Essay zu machen. Der ursprüngliche Titel lautete – weil daraus ein Essay für ein Buch über Könige werden sollte – »Pirate Enlightenment: the Mock Kings of Madagascar« (»Piraten-Aufklärung – die Schattenkönige von Madagaskar«), wobei der Untertitel eine Anspielung auf ein schmales Büchlein von Daniel Defoe über Henry Avery war. Doch im Verlauf des Schreibprozesses wurde der Essay immer länger. Schon bald waren gut 70 mit einzeiligem Abstand beschriebene Seiten beisammen, und ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob dadurch nicht das gesamte Kompendium zu umfangreich zu werden drohte und ob der Textinhalt nicht zu weit vom ursprünglich anvisierten Schwerpunkt auf betrügerische Könige (und umfassendere Fragen zum Thema, ob nicht alle Könige in einem gewissem Sinn Hochstapler seien, bei nur graduellen Unterschieden zwischen den einzelnen Ausprägungen) weggerückt war, um eine Aufnahme in den geplanten Band wirklich zu rechtfertigen.

Letztlich beschloss ich: Ein langer Essay ist allen Leuten verhasst, aber alle lieben ein kurzes Buch. Warum also nicht den Essay zu einem eigenständigen Werk ausarbeiten, das sich aus eigener Kraft behaupten konnte?

Und dieses Buch ist dabei herausgekommen.

Die Gelegenheit, das Buch bei Libertalia Press [3] zu veröffentlichen, erwies sich als unwiderstehlich (und jetzt – ab 2023 – bei Farrar, Straus und Giroux [4]). Die Idee von Libertalia, dem utopischen Experiment von Piraten, ist für die freiheitlich gesinnte Linke eine endlose Quelle der Inspiration geblieben; immer schon hat ein Gefühl bestanden, dass es dieses Experiment zumindest gegeben haben sollte, selbst wenn es niemals existierte; oder dass, selbst wenn es niemals in irgendeinem wörtlichen Sinn existierte, selbst wenn es also niemals eine Ansiedlung gab, die diesen Namen trug, die bloße Existenz von Piraten und Piraten-Gesellschaften für sich genommen eine Art Experiment war; und dass in den tiefsten Ursprüngen dessen, was als das Projekt der Aufklärung bekannt geworden ist – das heute in revolutionären Kreisen als falscher Traum von Befreiung angesehen wird, der stattdessen eine unaussprechliche Grausamkeit über die Welt gebracht hat –, eine Art von Erlösungsversprechen vorhanden war, das Versprechen einer echten Alternative.

Dieses kleine Buch kann als ein Beitrag zu einem umfassenderen intellektuellen Projekt angesehen werden, das ich erstmals in einem Essay mit dem Titel »There Never Was a West«[5] beschrieb (es erschien auch als eigenständige Veröffentlichung in französischer Sprache) und jetzt als Teil eines gemeinsamen Projekts mit dem britischen Archäologen David Wengrow weiterverfolge. Im gegenwärtig angesagten Sprachgebrauch könnte man es als ein Projekt der »Entkolonialisierung der Aufklärung« bezeichnen. Zweifellos dienten viele der Gedanken, die wir heute als Ergebnisse der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts betrachten, tatsächlich der Rechtfertigung außergewöhnlicher Grausamkeit, Ausbeutung und Zerstörung, die sich nicht nur gegen die arbeitende Bevölkerung im eigenen Land, sondern auch gegen die Bewohner anderer Kontinente richtete. Aber die pauschale Verurteilung des aufklärerischen Gedankenguts ist ihrerseits eher abwegig, wenn man bedenkt, dass es sich hierbei vielleicht um die erste historisch belegte intellektuelle Bewegung handelte, die zu großen Teilen von Frauen organisiert wurde – außerhalb offizieller Institutionen wie etwa Universitäten –, mit dem ausdrücklichen Ziel, alle bestehenden Machtund Autoritätsstrukturen zu untergraben. Die Denker der Aufklärung machten außerdem, wie man aus vielen Originalquellen erschließen kann, sehr deutlich, dass die Quellen ihres Gedankenguts außerhalb dessen liegen, was wir heute ausschließlich als »die westliche Tradition« bezeichnen.

Hier soll nur ein Beispiel angeführt werden, das in einem anderen Buch ausführlich dargestellt werden wird.[6] Im Jahr 1690, etwa zu dem Zeitpunkt, als die Piraten sich auf Madagaskar niederließen, entwickelte sich in Montreal eine Art protoaufklärerischer Salon. Baron Froberville, der damalige Gouverneur von Kanada, diskutierte in seinem Haus gemeinsam mit seinem Assistenten Lahontan über Fragen von gesellschaftlicher Bedeutung – Christentum, Wirtschaftsthemen, Sexualmoral – mit einem Staatsmann der Huronen namens Kondiaronk. Dieser vertrat den Standpunkt eines egalitär gesinnten und skeptischen Rationalisten und erklärte, der Strafapparat der europäischen Gesetze und der Religion sei nur erforderlich aufgrund eines Wirtschaftssystems, das so gestaltet sei, dass es unweigerlich die Verhaltensweisen hervorbringe, zu deren Unterdrückung der Apparat eingerichtet wurde. Lahontan sollte im Jahr 1704 dann eine eigene Fassung seiner Aufzeichnungen zu einigen dieser Gespräche als Buch veröffentlichen, das sich rasch zu einem in ganz Europa verbreiteten Bestseller entwickelte. Nahezu jede bedeutende Persönlichkeit der Aufklärung verfasste letztlich eine Imitation dieses Werks. Doch Persönlichkeiten wie Kondiaronk sind irgendwie aus der Geschichte hinausgeschrieben worden.

Niemand bestreitet, dass diese Debatten tatsächlich stattgefunden haben. Eher ist davon auszugehen, dass Männer wie Lahontan, wenn es an die Niederschrift des Geschehens ging, schlichtweg alles ignorierten, was Kondiaronk tatsächlich gesagt hatte, und es durch so etwas wie »die Fantasie des edlen Wilden« ersetzten, die sich ausschließlich aus der europäischen intellektuellen Tradition speiste. Mit anderen Worten: Wir haben den Gedanken, dass es eine in sich geschlossene »westliche Zivilisation« (eine Vorstellung, die erst im frühen 20. Jahrhundert auftauchte) gegeben habe, in die Vergangenheit zurückprojiziert. Verbunden mit einer zutiefst perversen Ironie, dienten Vorwürfe wegen rassistischer Arroganz, die sich gegen Menschen richteten, die wir als »Bewohner westlicher Länder« bezeichnen (was heutzutage nichts anderes als ein euphemistisches Codewort für »weiße Menschen« ist), als Vorwand, um alle anderen, auf die die Bezeichnung »weiß« nicht zutrifft, von jedem Einfluss auf den Verlauf der Geschichte auszuschließen, und ganz besonders von der Geistesgeschichte. Es sieht ganz danach aus, als sei Geschichte – und hier speziell die Geschichte des Radikalismus – zu einer Art von moralischem Spiel geworden, bei dem es ausschließlich darum geht, deutlich zu machen, dass man die Großen Männer der Geschichte nicht davonkommen lassen wird mit dem (offenkundig sehr realen) Rassismus, Sexismus und Chauvinismus, den sie an den Tag gelegt haben, wobei völlig außer Acht bleibt, dass ein 400 Seiten umfassendes Buch, mit dem Rousseau attackiert wird, immer noch ein 400-Seiten-Werk über Rousseau ist.

Ich erinnere mich heute noch daran, wie sehr mich im Kindesalter ein Interview mit dem Sufi-Autor Idries Shah beeindruckte, der in diesem Gespräch anmerkte, wie seltsam es ihm vorkomme, dass so viele intelligente und anständige Menschen in Europa und Amerika so viel Zeit auf Protestmärschen verbringen, bei denen sie die Namen ihnen verhasster Menschen rufen und deren Porträts schwenken (»Hey hey LBJ, how many kids did you kill today?«). [7] Ob diesen Leuten denn nicht klar war, merkte er an, wie außerordentlich erfreulich das für die Politiker sei, die sie anprangerten? Ich glaube, es waren Hinweise dieser Art, die mich letztlich dazu brachten, eine Politik des Protestes abzulehnen und mich auf eine Politik der direkten Aktion zu verlegen. Ein Teil der Empörung, die in diesem Essay festzustellen ist, entstammt dieser Quelle.

Warum sehen wir Männer wie Kondiaronk nicht als wichtige Denker zur Frage der Freiheit des Menschen? Das war er eindeutig. Warum sehen wir einen Mann wie Tom Tsimilaho nicht als einen der Pioniere der Demokratie? Warum sind die Beiträge der Frauen, von denen wir wissen, dass sie in der Gesellschaft der Huronen und der madagassischen Betsimisaraka so bedeutende Rollen spielten, deren Namen aber weitgehend in Vergessenheit geraten sind, sogar aus den Geschichten entfernt worden, die wir über solche Männer erzählen? Wie übrigens auch die Frauen, die die Salons organisierten, aus der Geschichte der Aufklärung weitgehend ausgeschlossen worden sind.

Mit diesem kleinen Experiment in Sachen Geschichtsschreibung möchte ich zumindest deutlich machen, dass die vorliegenden Erzählungen nicht nur zutiefst fehlerhaft und eurozentrisch, sondern auch unnötig ermüdend und langweilig sind. Ja, mit dem Moralismus verbindet sich ein heimliches Vergnügen, so wie auch eine mathematische Freude darin liegt, jegliches menschliche Handeln auf eine sich selbst verherrlichende Berechnung zu reduzieren. Aber diese Vergnügungen sind letztlich eher von der schäbigen Art. Die wahre Erzählung dessen, was sich in der menschlichen Geschichte zutrug, ist tausend Mal unterhaltsamer.

Lasst uns also eine Geschichte über Zauberei erzählen, über Lügen, Seeschlachten, entführte Prinzessinnen, Sklavenaufstände, Menschenjagden, Fantasiekönigreiche und betrügerische Botschafter, Spione, Juwelendiebe, Giftmischer, Teufelsanbetung und sexuelle Obsessionen, die mit dem Ursprung der modernen Freiheit verbunden sind. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser dabei so viel Spaß haben, wie ich ihn hatte.

26.01.2023, 10:00

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