Zur Entwicklung des Rechtsstaats

Leseprobe Andreas Fisahn untersucht in „Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie“ die Entwicklung des Rechtsstaates, der, laut Autor, eine eigentümliche Form repressiver Toleranz entwickelt habe. Weiterhin analysiert er die Veränderung der Demokratie
Als Symbol für Recht und Gerechtigkeit ist Justitia – die Augen verbunden, ein Schwert in der einen und eine Waage in der anderen Hand haltend – häufig vor Gerichtsgebäuden zu finden.
Als Symbol für Recht und Gerechtigkeit ist Justitia – die Augen verbunden, ein Schwert in der einen und eine Waage in der anderen Hand haltend – häufig vor Gerichtsgebäuden zu finden.

Foto: DAMIEN MEYER/AFP via Getty Images

1. Mein Problem

Die Identitären, Autoritären, Nationalisten, Rassisten und Faschisten kriechen in den kapitalistischen Zentren, Europa und den USA, aus ihren Löchern. Sie machen sich im öffentlichen Diskurs breit und ätzen, hetzen und stänkern in den so genannten sozialen Medien gegen alles und jeden. Sie kotzen das aus, was sie schon immer einmal loswerden wollten, was aber selbst in schlechter Gesellschaft nicht erwünscht war. Mit etwas Verspätung erzielten die autoritären Nationalisten auch in Deutschland und den USA Erfolge. In den USA besetzten sie gar das Präsidentenamt. In Deutschland wurden sie nach 2015 auch von den Mainstream-Medien – vermutlich zu großen Teilen gar gegen ihre Intention – aufgewertet und hoch geschrieben: Plötzlich saßen AfD-Nationalisten in jeder Talkshow. In Österreich sind die autoritären Nationalisten der FPÖ ministrabel und in Brasilien hat das Volk mit Mehrheit einen Präsidenten gewählt: Bolsonaro, der sich positiv auf die Diktaturen der Jahre 1964 bis 1985 bezieht. Angesichts dieser Entwicklung wird vielen demokratisch gesinnten Menschen angst und bange. Historisch Interessierte ziehen Vergleiche mit der Weimarer Republik und erinnern sich wehmütig an den Satz „Bonn ist nicht Weimar“, weil sie sich fragen, ob das denn wohl auch für Berlin gelte.

Gefürchtet wird – wohl zu Recht – die Zerstörung von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik und bei den nahen und fernen Nachbarn. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, dass die Diagnose schon sehr alt ist. Verfallsgeschichten sind weit verbreitet. Gesetzesverschärfungen im Straf- und Strafprozessrecht sowie im Polizeirecht einerseits und die Aufrüstung der Polizei mit Informationstechnologien andererseits kennzeichnen den Begriff Sicherheits- oder Überwachungsstaat. Zu den neuen Informationstechnologien gehören Abhörinstrumente und -befugnisse, Möglichkeiten der Telefon- und Handyüberwachung oder Trojaner zum Ausspähen von Computern und schließlich die Einrichtung zentraler Datenbanken, um die Datenflut zu organisieren und abrufbar zu halten. Ich nenne das „informationelle Aufrüstung“ der Polizei. Die Gesetzesverschärfungen begannen in den 1970er Jahren mit der RAF-Gesetzgebung, es folgten Gesetze, um die „organisierte Kriminalität“ zu bekämpfen. Weitere Befugniserweiterungen für die Sicherheitsbehörden folgten nach 2001, dem Anschlag auf das World Trade Center und den „islamistischen Terror“. Das Verfallstheorem lautet: Der Sicherheitsstaat verdrängt oder unterminiert den Rechtsstaat.

Die Begriffe variieren, aber die Verfallsthese ist für alle charakteristisch. Joachim Hirsch sprach schon 1980 vom Sicherheitsstaat, ein Begriff, den Giorgio Agamben 2016 wieder aufnahm. Vom Überwachungsstaat sprach Jochen Bölsche 1983; Marioan Hosseini konstatiert ihn 2017 erneut. Jürgen Roth diagnostizierte 1972 den Polizeistaat, aufgearbeitet von Gerhard Donhauser 2015; der autoritäre Staat wurde 1994 von Michael Klöpfer erkannt, inzwischen ist er in aller Munde. Alfred Schüller verwendete den Begriff 2013 zur Kennzeichnung der Situation. Recht neu ist der Begriff „tiefer Staat“, womit die Durchdringung der Exekutive seitens der Geheimdienste gemeint ist. Ulrich Mies gab 2017 ein Buch mit dem gleichnamigen Titel heraus. Weiter unten wird die Literatur zum Verfallstheorem etwas genauer, aber dennoch im Überblick vorgestellt, hier ist der Hinweis auf das Problem ausreichend.

Eine ähnliche These gibt es zur Demokratie. Demokratie werde ausgehöhlt, das Parlament entmachtet, die Bürger entmündigt oder: Die Demokratie wird zur Postdemokratie. Schon 1967 sprach Johannes Agnoli von der Transformation der Demokratie; Rudolf Wassermann verwandte 1986 den Begriff Zuschauerdemokratie; Christoph Weller sah 1999 die Demokratie in der Globalisierungsfalle; Colin Crouch berühmtes Essay zur Postdemokratie erschien 2008 und 2012 diagnostizierten Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin eine Fassadendemokratie. Auch diese Überlegungen werden weiter unten noch einmal genauer diskutiert. Hier soll zunächst auf das Problem hingewiesen werden.

Das Problem dieser Verfallsgeschichten ist, dass sie seit den 1960er Jahren immer wieder, in der Form unterschiedlich, im Inhalt aber ähnlich wiederholt werden. Dann stellt sich die Frage, ob man noch von einem Rechtsstaat und einer Demokratie in der Bundesrepublik sprechen kann, ob es sie jemals gegeben hat und wann sie dann wohl verdrängt wurden. Um das zu klären, müsste man die Begriffe klären und den Beginn, den Zustand am Anfang der Republik mit dem gegenwärtigen vergleichen, was allerdings selten passiert.

Umgekehrt gibt es eine Apologie von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik, die Veränderungen gar nicht wahrnimmt, sondern − meist implizit − die ungebrochene Kontinuität von Rechtsstaat und Demokratie unterstellt. Seit 1949 wird − insbesondere in den Rechtswissenschaften − ein intakter Rechtsstaat diagnostiziert. Heinz Laufer sprach 1966 von der freiheitlichen Demokratie, eine Begriffsbildung, die nicht nur Hans Zacher 1969 aufgriff, sondern die bis heute im politischen Sprachspiel als Werbebegriff vorherrscht. Gerhard Stoltenberg wählte 1977 den Titel „Soziale Marktwirtschaft und freiheitliche Demokratie: Ludwig Erhards Erbe für die Zukunft“. Otto Depenheuer untersuchte 2011 „Die freiheitliche Demokratie zwischen Öffentlichkeit und Vertraulichkeit“ und Christian Becker analysierte 2012 den Zusammenhang von freiheitlicher Ordnung, wehrhafter Demokratie und Staatsschutzstrafrecht. Die Unterstellung ungebrochener Kontinuität überzeugt ebenso wenig wie das Verfallstheorem.

2. Thesen

Kurz: Es geht folglich darum, die Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik nicht als eherne Grundlage oder als simple Verfallsgeschichte zu rekonstruieren, bei der man sich seit fast 50 Jahren auf dem Weg in eine Postkonstellation begibt – Postrechtsstaat und Postdemokratie. Im Ergebnis werde ich zu zeigen versuchen, dass der Rechtsstaat in der fordistischen Periode repressiver war als in der neoliberalen Ära, in der sich eine eigenartige Mischung aus Repressivität und Toleranz, also repressive Toleranz entwickelt hat. Dagegen war die Demokratie der fordistischen Periode, so die Ergebnisse meiner Überlegungen, inklusiver und offener als in der neoliberalen Periode. Am Schluss wage ich einen Ausblick auf mögliche Konstellationen der Zukunft. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass sich die kapitalistischen Zentren nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 auf den Weg zu einem neuen Akkumulationsmodell gemacht haben, das wahrscheinlich mit einer neuen politischen Form verbunden ist.

An dieser Stelle ist schon darauf hinzuweisen, dass die Rekonstruktion der Entwicklung nicht monokausal gedacht werden kann. Und auch wenn der Zusammenhang von ökonomischer Entwicklung und der Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie im Fokus stehen, werden andere Faktoren oft hinzugezogen und erörtert, wenn auch vielleicht nicht im angemessenen Umfang, nicht zuletzt deshalb, weil das anderswo schon geschehen ist. Nicht zuletzt aus Platzgründen konnten nicht an jeder Stelle alle Einflüsse und Wirkkräfte berücksichtigt und ausreichend diskutiert werden. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die die theoretische Einordnung unten (D III 5) erfolgen, während zunächst die widersprüchlichen Phänomene exemplifiziert werden und scheinbar zusammenhangslos nebeneinander stehen bleiben können. …

3. Ökologie oder Barbarei?

Die angesprochenen Probleme demokratischer Akzeptanz eines ökologisch gebotenen Umbaus lassen aber auch weit pessimistischere Prognosen zu. Möglicherweise hat sich die Menschheit oder besser haben die kapitalistischen Zentren durch die Überausbeutung der Natur der Menschheit die Grundlagen demokratischer, d.h. kollektiver Freiheit genommen. Demokratische Lebensgestaltung wird unter den selbst geschaffenen Bedingungen der menschlichen Existenz auf diesem Planeten annähernd unmöglich sein. Der Belastbarkeitsdiskurs könnte stimmen, wenn die absolute Grenze der Nutzung und Zerstörung der natürlichen Umwelt auf so vielen Gebieten erreicht ist, dass eine demokratische Bestimmung des Soll-Zustandes ausscheidet und nicht mal über das Tempo, sondern nur noch über die Mittel zu entscheiden ist, die einzusetzen sind, um ein Überleben der Menschheit erträglich zu gestalten. Dann entfielen Beratung und Entscheidung der normativen Frage „Wie wollen wir leben?“ als Prämisse des Einsatzes naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Es bliebe nur noch die Frage: „Wie können wir überleben?“ Das bedeutete, mit der Politik würde auch die Demokratie abdanken – oder vice versa. Entscheidungen sind naturgesetzlich vorgegeben, werden erzwungen unter der verbleibenden Prämisse, nämlich das Überleben der Menschheit zu sichern.

Die normative Voraussetzung ist aber auch in diese Überlegung hineingerutscht: Das Leben soll erträglich bleiben – und das müsste im Zweifel für die ganze Menschheit gelten. Für die ganze Menschheit ist auch heute das Leben keineswegs erträglich. Überausbeutung und faktische Sklaverei oder beständiger Hunger und das Hausen in Slums sind keine erträglichen Formen des Lebens und kaum des Überlebens. Anders gesagt: Es gibt als Alternative zum radikalen ökologischen Umbau die Möglichkeit, die natürlichen Lebensgrundlagen so zu zerstören, dass eine Sicherung des Lebens auf halbwegs zivilisiertem Niveau nicht mehr gelingen kann, dagegen ein Abrutschen in die Barbarei, d.h. in Zustände, in denen das nackte Überleben zählt, möglich ist.

...

Um die Dilemmata zusammenzufassen: Zunächst muss daran erinnert werden, dass eine rein technische Lösung der ökologischen Anforderungen bei gegebener kapitalistischer Wachstumslogik ausscheidet. Das wurde oben erläutert und ist Prämisse der nachfolgenden Überlegungen. Weiter wird im folgenden Wohlstand in einem beschränkten Sinne als materieller Wohlstand oder als Menge der zur Verfügung stehenden Konsumgüter verstanden, nicht in einem umfassenden Sinne als „gutes Leben“.

Würde eine − eher unwahrscheinliche − Angleichung des Ressourcenverbrauchs zwischen Norden und Süden im Sinne einer Angleichung an den Wohlstand im Norden eingeleitet, überschritte dies auf eher kurze Sicht die absoluten Belastungsgrenzen der Ökologie. Im Ergebnis würde die ökologische Transformation scheitern.

[...]

04.01.2022, 21:43

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