Kein hoffnungsvoller Ausblick

Kommentar Als „Aufklärer und Abräumer“ bezeichnet Heribert Prantl, Jurist und Journalist den Autor Andreas Fisahn, dessen Analyse „Zur Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie“ er für angemessen konkret und engagiert hält. Ein Auszug aus seinem Geleitwort
Demonstrant: innen protestieren gegen den Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP.  Als Symbol für das Pariser-Abkommen aus dem Jahr 2015 steht eine Miniaturversion des Eifelturms vor dem Reichstag.
Demonstrant: innen protestieren gegen den Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP. Als Symbol für das Pariser-Abkommen aus dem Jahr 2015 steht eine Miniaturversion des Eifelturms vor dem Reichstag.

Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images

Der Weg Deutschlands zum Grundgesetz führt durch Abgründe. Am Wegrand stehen Gestapo, Volksgerichtshof, Bergen-Belsen und Lidice. Am Wegrand stehen ausgebeutete Zwangsarbeiter, eingebildete Herrenmenschen und die Opfer des von Hitler provozierten Bombenkriegs. Am Wegrand stehen die 1,2 Millionen Ermordeten von Auschwitz. Am Wegrand steht die Weiße Rose. Am Wegrand lesen wir das letzte Wort des Angeklagten SS-Oberscharführers Wilhelm Boger aus dem Auschwitz-Prozess: »Ich habe nicht totgeschlagen, ich habe Befehle ausgeführt.« Das Grundgesetz beginnt deshalb mit dem Gedenken an Auschwitz, Dachau und Treblinka. Die Erinnerung daran steht als Mahnung in Artikel 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Der Staat findet also seine Rechtfertigung darin, dass er diese Würde achtet und schützt. Die Freiheits-Grundrechte des Grundgesetzes sind die rechtliche Antwort auf die Erniedrigung und Auslöschung der Individuen durch ein System planmäßiger Willkür. Sie bewahren die Erinnerung an ihre systematische Beseitigung im sogenannten Dritten Reich. Diese Genese gilt es zu beachten, wenn darüber gestritten wird, wie mit den Verächtern der Demokratie in Deutschland umgegangen werden soll.

Es war und ist nicht damit getan, dass ein Bundespräsident – es war 1985 Richard von Weizsäcker – den Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs zum »Tag der Befreiung« erklärte. Die Befreiung von der Gesinnung, die vor achtzig Jahren in die NS-Katastrophe geführt hat, war und ist nicht die Aufgabe eines Tages, sondern eine Daueraufgabe. Sie ist ein Auftrag, kein Ritual. Und der Befreiungsauftrag darf nicht umgedeutet werden in eine Befreiung von der Befreiung, genannt AfD. Gewiss: Zwischen der bundesdeutschen Vergangenheitsflucht in den fünfziger und sechziger Jahren und dem Heute liegen Jahrzehnte der angestrengten und anstrengenden Vergangenheitsbewältigung; dazwischen liegen der Auschwitz-Prozess von 1963, der Kniefall von Kanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal des jüdischen Gettos in Warschau von 1970, dazwischen liegt das Verjährungsaufhebungsgesetz von 1979. 2005 wurde das Holocaust-Mahnmal in Berlin, im Zentrum der Hauptstadt errichtet. Die eigene Täterschaft ist im historischen Gedächtnis der Deutschen angekommen – und aufgenommen worden. Sie ist verankert in Berlin, im Zentrum der Hauptstadt, sie spricht aus jeder Stele des Holocaust-Mahnmals.

Und doch – kein Gedenken ist felsenfest. Nie war eine Rechtsaußen-Partei in der Bundesrepublik so stark wie die AfD. Nun ist das keine deutsche Spezialität. Man könnte sich damit beruhigen, dass Deutschland nun nachvollzieht, was in den anderen europäischen Staaten gang und gäbe ist: dass populistische Extremisten im Parlament sitzen und sogar, wie in Ungarn und Polen, regieren. In Österreich und Dänemark, in Finnland, Norwegen, den Niederlanden oder in Frankreich sind solche Parteien schon lange Nummer drei oder gar zwei – vereint im »Nein« zu Europa, zum Islam, zur offenen Gesellschaft. Sie haben Anziehungskraft für Wähler, die mit Globalisierung und Moderne nicht zurechtkommen. Doch der Hinweis auf den populistischen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus anderswo taugt nicht zur Beschönigung der Situation hierzulande. Deutschland ist in der Situation des Alkoholikers. Wenn der wieder trinkt, wird es gefährlich.

Der populistische Extremismus und der neue aggressive Nationalismus sind keine Naturgewalten, sie sind nicht zwangsläufig, sie kommen nicht einfach unausweichlich auf uns zu. Gibt es eine Zukunft, von der man sagen könnte, dass es sie einfach gibt, dass sie einfach über uns kommt? Zukunft ist nichts Feststehendes, nichts Festgefügtes, Zukunft kommt nicht einfach – es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt und umformen lässt: je nachdem, welchen Weg ein Mensch, welchen eine Gesellschaft wählt, welche Entscheidungen die Menschen hier und jetzt treffen, welche Richtung die Gesellschaft einschlägt. Zukunft gibt es nicht festgefügt, sie entsteht in jedem Moment der Gegenwart, ist darum in jedem Moment auch veränderbar. Die Zukunft ist nicht geformt, sie wird geformt.

Die populistischen Extremisten haben das verstanden. Sie sind, wo sie an der Macht sind, mit Brechstange und Dampframme dabei, die Zukunft zu verformen: Sie entlassen – siehe Türkei, siehe Ungarn, siehe Polen – Richter, Lehrer, Beamte; sie stampfen Menschenrechte in den Boden; sie machen die Europäische Union verächtlich und wollen den alten Nationalstaat wieder aufrüsten. Sie wollen ihr Land wieder »great again« machen. Die populistischen Extremisten sind nicht nur mit brachialem Werkzeug unterwegs, sondern auch mit spitzer Feder dabei: Ihre Schreiber und Kommunikatoren erfinden eine moderne philosophische Einkleidung der alten völkischen und rassistischen Ideologie. Sie formen eine Zukunft, die Krieg, Spaltung und Brutalität heißt, eine Zukunft, die zynischerweise genau jene zuerst auf eben das Kreuz legen wird, das sie hinter die extremen Parteien setzen.

Man steht bisweilen an der Schwelle vom Zweifel zur Verzweiflung: Es ist, als habe die Weltgeschichte den Weltstaubsauger eingeschaltet, der die bisherigen Sicherheiten wegsaugt. Es ist, als säßen an den Reglern der Saugleistung Typen wie Trump, Leute wie Erdoğan und Orbán, Kaczyński, Bolsonaro, Le Pen und Gauland, als säßen dort die Populisten und Nationalisten, diejenigen also, von denen man gern geglaubt hätte, dass ihre Zeit vorbei sei. Es ist, als saugten sie die Grundgewissheiten weg und den Boden der Gewissheiten gleich mit. Die Welt wird, diese Angst packt einen bisweilen beim Hören der täglichen Nachrichten, bodenlos.

Dieses Gefühl hat mich beim Lesen des Buches von Andreas Fisahn nicht verlassen, im Gegenteil. Sein eindrucksvolles Werk über die Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik ist kein Schinken der Hoffnung. Sein Buch beschreibt profund und mit vielen Beispielen die fordistische und die neoliberale Epoche in Deutschland; das Buch ist spannend, umfassend, gelehrt und bisweilen munter respektlos. Andreas Fisahn hat Jura sowie Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften studiert, er ist Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht sowie für Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Er ist ein rechtssoziologischer Kopf.

Von den Juristen wird die Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie oft als recht respektabel beschrieben, es gibt viele Heile-Welt-Juristen. Soziologen dagegen beschreiben die Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie oft als Verfallsgeschichte. Fisahn macht weder das Eine noch das Andere. Er hält beides für verkehrt. Substanzverlust sieht er bei der Demokratie, beim Rechtsstaat allerdings eine Liberalisierung. beides wird meist auch nicht getrennt, schon deshalb, weil vielfach eher Eindrücke theoretisiert werden als konkrete Maßnahmen und Entwicklungen beschrieben. Fisahn wird konkret, das zeichnet sein Buch aus. Dieses Buch ist eine Denk- und Fundgrube. Und der Blick in die Zukunft, zu dem dieses Buch führt, ist nicht hoffnungsvoll:

Fisahn befürchtet, dass »durch die Überausbeutung der Natur der Menschheit die die Grundlagen demokratischer, d. h. kollektiver Freiheit genommen« werden. »Demokratische Lebensgestaltung«, so schreibt er, »wird unter den selbst geschaffenen Bedingungen der menschlichen Existenz auf diesem Planeten fast unmöglich sein«. Und: »Wenn sich in zwanzig Jahren herausstellen sollte, dass die Reduktions- und Umbauziele, die gegenwärtig gesetzt werden, nicht erreicht worden sind, wächst das Risiko, Probleme im Notstandsmodus zu bearbeiten. Ob in einer solchen Situation Demokratie und Rechtsstaat im Inneren aufrechterhalten sind, erscheint außerordentlich fraglich.«

Das klingt duster. Aber Andreas Fisahn wirft sich dieser Düsternis nicht in die Arme. Er ist ein optimistischer Pessimist. Er beschreibt, wie schlimm es kommen kann, um zu verhindern, dass es tatsächlich so kommt. Er schreibt sehr pessimistisch – aber immerhin ein sehr dickes, engagiertes Buch: Dazu braucht man faktischen Optimismus, sonst lässt man es von vornherein. Letztlich will Fisahn mit seinen Szenarien und seinen Befürchtungen einen Raum für die Demokratie erkämpfen. Er stellt die richtigen Dilemmata dar. Es ist mutig, sie so unerbittlich ungnädig aufzuzeichnen. Das verdient Respekt, denn Demokratie braucht Aufklärung. Fisahn klärt auf. Er klärt auf über die Selbstwidersprüche der Verhältnisse und wie diese Selbstwidersprüche Ungleichheit und Klimazerstörung dynamisch antreiben. Das zu begreifen ist wichtig, auch wenn es sehr ungemütlich ist. Sein Verdienst ist, dass er mit Illusionen wie jener aufräumt, es ginge mit E-Mobilität und individuellem Konsumverzicht.

[...]

04.01.2022, 21:43

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