Rekonstruktion des kolonialen Imperialismus

Leseprobe Eigene poetische Notizen verwebt Lindqvist mit Werken von Kriegsherren, Eroberern, Publizisten, Philosophen, Historikern, Sozial- und Naturwissenschaftlern. Diesen erschütternden Zeugnissen stellt er literarische Werke entgegen
Schonungslos rechnet Sven Lindqvist mit den „Gräueltaten der europäischen Kolonialgeschichte“ ab
Schonungslos rechnet Sven Lindqvist mit den „Gräueltaten der europäischen Kolonialgeschichte“ ab

Foto: Three Lions/Hulton Archive/Getty Images

Sven Lindqvist

Wenn ein Schriftsteller jahrelang Völkermorde, Waffensysteme, die gewalttätigen Wahnvorstellungen von Faschisten und die geistigen Muster jener studiert, die ohne auch nur den Schatten eines Zögerns die Planung von Massenmorden betreiben –
wie lebt er dann im Lauf dieser Zeit? Wie geht es ihm, der täglich in die blutigen Senkgruben des Rassismus hinabund dann wieder daraus hervorsteigt? Der die Aggressionen noch einmal, mit dem Schrecken eines Kindes im Innern, aufschreibt? Wie lebt er, der die Frage des Bösen untersucht, während seiner Recherchen? Und danach?
* – Agneta Stark, Lebensgefährtin von Sven Lindqvist

(* Zitat aus Agneta Starks Beitrag »Sven« in Raoul Pecks Buch Exterminate All the Brutes zu seiner gleichnamigen Serie. Paris: Editions Denoël – Velvet Film 2021, S. 217.)

Rottet die Bestien aus! komprimiert auf meisterliche Art das gesamte Werk Sven Lindqvists.

Die Essenz seiner menschlichen Abenteuer, seiner geheimen Gedanken und seiner Weltsicht spiegeln sich in jeder Zeile, jeder Seite und jedem Kapitel dieses so einzigartigen Werks wider.

Das Resultat eines ganzen Lebens also, in dem Sven seine Leser nie hinters Licht geführt hat. Er hat sich mit seinem gesamten Wesen engagiert, physisch (er betrieb Kraftsport, wo immer ihm das möglich war) und intellektuell, und er hat zu jeder Zeit das Abenteuer des Menschseins ins Zentrum gestellt.

Andere Autoren haben von ihrer eigenen Odyssee über die Kontinente, ihrem Abstieg in die Hölle, ihren ersten Schritten in unerforschte Gebiete erzählt. Sven Lindqvist hingegen führt uns an andere Orte, indem er uns, wer immer wir sein mögen, mit uns selbst konfrontiert.

Er konfrontiert uns mit der wahren Geschichte des mörderischen Eurozentrismus und der völkermörderischen Herrschaft des europäischen Kontinents über den Rest der Welt sowie mit den Konsequenzen, die diese für das Leben und die Kulturen der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten gehabt haben. Es gibt nur wenige Autoren, denen dies auf so meisterliche, tiefgehende, ergreifende und persönliche Art gelungen ist.

Svens Prosa und Poesie hinterlassen beim Leser, ganz gleich, um wen es sich handelt, tiefe Spuren. Er erschüttert uns, zutiefst und im Wesen, weil sein Werk zugleich das Hier und das Anderswo, das Selbst und den Anderen, das Zentrum und die Peripherie anvisiert. Er zieht Folgerungen, die unmöglich ignoriert werden können. Man bleibt von ihm nicht unversehrt.

Und es ist diese einzigartige Herangehensweise, die mich gleich bei meiner ersten Begegnung mit Sven aufgewühlt hat, als ich dank des Hinweises eines befreundeten Verlegers sein Buch entdeckte. Ich habe dabei ein ganz seltenes Beben verspürt, das nur wenige Werke dieser Art und zu diesem Thema in mir auslösen können. Ich empfand, über den Altersunterschied, die Entfernung, die anderen Erfahrungen hinweg, eine bis dahin unbekannte Nähe, die mich sofort magnetisch anzog. Eine »humanistische Identität«, die sich mir unmittelbar mitgeteilt hat.

An diesem Punkt hat meine Freundschaft mit Sven begonnen. Ich musste ihm überhaupt nichts erklären, geschweige denn mich selbst. Genauso, wie ich sofort verstanden habe, warum er sprach, wie er sprach, und vor allem, warum er so LEBTE und leben wollte.

Diese Gemeinsamkeit des Schicksals, der Ziele, der Suche und des Blicks auf die Welt ist selten genug, um als unwahrscheinlich betrachtet zu werden. Aber dennoch waren diese wenigen Jahre, die er dann noch lebte, die Zeit einer Freundschaft von außerordentlicher und, paradoxerweise, beruhigender Intensität.

Er hatte sein Werk vollendet und ging in dem Wissen, dass es fortgesetzt werden würde.

Rottet die Bestien aus! ist in Wirklichkeit eine Geschichte des Kapitalismus. Dieses Buch verfolgt die Eroberungen seit der Ära der sogenannten Doktrin der Entdeckung, die von dem, was der Historiker Sven Beckert in seinem Werk King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus als Epoche des »Kriegskapitalismus«* bezeichnet hat (*Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München: Verlag C. H. Beck 2014.) bis zu unserer heutigen Gesellschaft führten, der Karikatur eines wahnsinnigen Finanzkapitalismus, der global geworden ist und keinerlei Grenzen kennt. Es erzählt die Geschichte einer imperialen Eroberung, die alles auf ihrem Weg zerstören und in die Völkermorde des 20. Jahrhunderts münden wird; ein Blutbad, das auf den beiden »amerikanischen« Kontinenten begonnen hat, auf denen innerhalb von weniger als einem Jahrhundert 90 Millionen Menschen ausgerottet wurden. Dennoch behaupten gewisse Politiker in den Vereinigten Staaten heute immer noch, dieses Land sei ursprünglich »unberührt« und menschenleer gewesen.

Sowohl Sven Lindqvist als auch der Anthropologe Michel-Rolph Trouillot (in seinem unentbehrlichen Werk Silencing the Past) haben gezeigt, wie diese Gründungserzählung zur tragenden geistigen Säule der imperialen Eroberungen wurde. Eine Erzählung, die insbesondere auch die Konstruktion rassifizierter Hierarchien und die entmenschlichende Darstellung der nichteuropäischen Völker ermöglicht, die den Grundstein dieser völkermörderischen Geschichte bilden. Und schließlich decken sie auf, wie Kolonialismus und Kapitalismus in der europäischen Geschichte bis hin zur Endlösung untrennbar miteinander verwoben sind.

Das ist es, was mich dazu bewogen hat, auf sie zurückzugreifen.

Beide Autoren enthüllen, wie das Verschweigen und die Lügen der offiziellen Geschichte, der Geschichte der angeblich »objektiven« Sieger, im ausschließlichen Interesse einer Minderheit integrale Teile von Erzählungen kaschiert, gelöscht und ausradiert haben. Diese Formen des Schweigens haben sich nachhaltig auf die heutige Welt, ihre Politik, ihren Diskurs und ihre nationalen und kulturellen Identitäten ausgewirkt.

Jede historische Erzählung ist ein politischer Akt, der eng mit der Macht und ihrer Aufrechterhaltung und somit auch mit der Rechtfertigung staatlicher Gewalt verbunden ist.

Wie vor ihm Frantz Fanon hat Lindqvist im Detail gezeigt, wie die koloniale Gewalt sowohl beim Opfer als auch beim Unterdrücker traumatische Spuren hinterlässt – einem Unterdrücker, der davon überzeugt ist, im Recht zu sein, weil ja er selbst die Geschichte schreibt, noch während sie sich mit grundlegenden existentiellen Konsequenzen für Täter und Opfer abspielt.

Es wird heute von einigen gern endlos über die Frage von Reparationen, Versöhnung oder »Vergebung« diskutiert.

Aber das heißt, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen. Solange es kein tiefes, klar herausgearbeitetes Verständnis, keine radikale Dekonstruktion des dominanten westlichen Denkens in all seinen Formen gibt, bin ich nicht der Meinung, dass eine »Verhandlung« mit jedweden heutigen Erben kolonialer, auf Völkermord beruhender Reichtümer angebracht oder auch nur möglich ist. Ich würde sogar sagen, dass solche »Verhandlungen« regelrecht geschmacklos wären, weil es ein weiteres Mal »dieselben« sind, die die Diskussion führen wollen – und sich das Recht anmaßen wollen, den Richter zu spielen.

In meinem Film Rottet die Bestien aus! sage ich, dass »Neutralität keine Option mehr ist«. Sven jedenfalls hat Partei ergriffen und sich mit Leib und Seele auf diese Reise begeben. Er schenkt uns hier ein Dokument, eine Bibel, eine Geografie, ein vollständiges Werk, das er aus dem tiefsten Inneren seines Wesens hervorgeholt hat.

Es ist radikal, existentiell und wegweisend. »Das Grauen! Das Grauen!«, rief Kurtz.

Raoul Peck, Juni 2023
Deutsch von Michael Schiffmann

1

Du weißt bereits genug. Ich auch. Es mangelt uns nicht an Kenntnis. Uns fehlt der Mut, einzusehen, was wir wissen, und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen.

2

Tademait, die »Wüste unter den Wüsten«, ist das toteste Gebiet der Sahara. Vegetation ist nicht einmal ansatzweise vorhanden. Alles Leben ist ausgelöscht. Den Boden bedeckt nur jener schwarze, glitzernde Wüstenfirnis, den die Hitze aus den Steinen gepresst hat.

Der Nachtbus, der einzige Bus zwischen El Goléa und In Salah, braucht mit etwas Glück sieben Stunden. Einen Sitzplatz erkämpft man sich gegen einige Dutzend Soldaten in derben Kampfstiefeln, die ihre Anstell-Technik in der Nahkampfschule der algerischen Armee in Sidi Bel Abbès gelernt haben. Wer dabei unter einen Arm das Kernstück des europäischen Gedankens geklemmt hat, abgespeichert auf einer altmodischen Festplatte, hat das Nachsehen.

An der Abzweigung Richtung Timimoun wird warme Kartoffelsuppe mit Brot durch ein Loch in der Wand serviert. Danach ist der zuschanden gefahrene Asphalt zu Ende, der Bus fährt durch eine straßenlose Wüste weiter.

Es ist der reinste Rodeo. Der Bus gebärdet sich wie ein noch nicht zugerittenes Jungpferd. Mit scheppernden Scheiben und quietschenden Federn schaukelt, stampft und springt er vorwärts, jeder Stoß überträgt sich bis zur Hardware des Computers auf meinen Knien und zur organischen Software meiner Wirbelsäule, die einem Stapel schwankender Bauklötze gleicht. Wenn ich das Sitzen nicht mehr aushalte, klammere ich mich ans Gepäcknetz oder gehe in die Hocke.

Genau das habe ich gefürchtet. Genau danach habe ich mich gesehnt.

[…]

8

[…]

Der Ostwind bläst mir brennend ins Gesicht, als ich zum Hotel zurückkehre. Dort sind vor allem Fernfahrer und Ausländer, zumeist Deutsche, alle auf dem Weg »rauf« oder »runter«, wie auf einer Treppe. Alle erkundigen sich untereinander nach Weg, Benzin, Ausrüstung, alle sind vom Gedanken getrieben, so schnell wie möglich weiterzukommen.

Ich klebe die Landkarte an die Wand und betrachte die Entfernungen. Es sind 290 Kilometer Wüstenstraße bis zur nächsten Oase im Westen, Reggane. Es sind 400 Kilometer Wüstenstraße bis zur nächsten Oase im Norden, El Goléa, von wo ich gekommen bin. Es sind 500 Kilometer Luftlinie bis zur nächsten Oase im Osten, Bordj Omar Driss. Es sind 660 Kilometer Wüstenstraße bis zur nächsten Oase im Süden, Tamanrasset. Es sind 1000 Kilometer Luftlinie bis zum nächsten Meer, dem Mittelmeer, und 1300 Kilometer Luftlinie bis zum nächsten Fluss, dem Niger. Es sind 1500 Kilometer bis zum Meer im Westen. Im Osten liegt das Meer so weit entfernt, dass es bedeutungslos ist.

Immer, wenn ich die Entfernungen betrachte, die mich umgeben, wenn mir bewusst wird, dass ich hier am Nullpunkt der Wüste bin, durchfährt mich ein starkes Glücksgefühl. Genau deshalb bleibe ich.

9

[…]

Finsternis – das Wort »Europa« leitet sich von einem semitischen Wort ab, das genau das bedeutet. Der Satz, der da am Bildschirm leuchtet, ist wahrhaft europäisch. Der Gedanke lag schon seit geraumer Zeit in der Luft, bis er um den Jahreswechsel 1898–1899 endlich von einem polnischen Schriftsteller formuliert wurde, der oftmals auf Französisch dachte, aber auf Englisch verfasste: Joseph Conrad.

Kurtz, eine der Hauptfiguren in Herz der Finsternis, beendet seinen Aufsatz über die »zivilisatorische Aufgabe« der Weißen bei den »Wilden« in Afrika mit einem handschriftlichen Postskriptum, das die eigentliche Aussage seiner hochtrabenden Rhetorik zusammenfasst.

Es ist dieser Satz, der mir hier am Bildschirm nun entgegenstrahlt:

»Exterminate all the brutes!«

[…]

144

1904 zeigten die Deutschen in Südwestafrika, dass auch sie jene Kunst beherrschten, die während des gesamten 19. Jahrhunderts von den Amerikanern sowie Briten und anderen Europäern praktiziert worden war – die Kunst, das Aussterben eines »kulturarmen« Volkes zu beschleunigen.

Nach nordamerikanischem Vorbild wurden dem Volk der Herero Reservate zugewiesen, ihr Weideland wurde an deutsche Einwanderer und Kolonialgesellschaften übergeben.

Als die Herero Widerstand leisteten, erließ General von Trotha den Befehl, das Volk der Herero auszurotten. Jeder Herero, der innerhalb der deutschen Grenzen mit oder ohne Waffen angetroffen wurde, sollte erschossen werden.

Aber die meisten starben gewaltlos. Die Deutschen trieben sie einfach in die Wüste hinaus und machten die Grenzen dicht.

Die mit eiserner Strenge monatelang durchgeführte Absperrung des Sandfeldes (…) vollendete das Werk der Vernichtung« schreibt der Generalstab im offiziellen Kriegsbericht. »Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinnes … Sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit! Das Strafgericht hatte sein Ende gefunden. Die Hereros hatten aufgehört, ein selbständiger Volksstamm zu sein.«

Über dieses Resultat war der Generalstab sehr stolz. Die Armee, so schrieb man, verdiene die Dankbarkeit des gesamten Vaterlandes.

Als die Regenzeit kam, fanden deutsche Patrouillen die Skelette rund um trockene Löcher verteilt, zwölf bis sechzehn Meter tief, die die Herero in der vergeblichen Suche nach Wasser gegraben hatten. Beinahe das ganze Volk – um die 80 000 Menschen – verendete in der Wüste. Nur ein paar Tausend blieben übrig, zu Zwangsarbeit in deutschen Konzentrationslagern verurteilt.

Damit fand das Wort »Konzentrationslager«, das 1896 von den Spaniern auf Kuba erfunden, von den Amerikanern anglisiert und von den Engländern im Burenkrieg wiederverwendet wordenwar, Eingang in die deutsche Sprache und Politik.

29.09.2023, 13:15

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