Große politische Biografie

Leseprobe Sergii Rudenkos Buch ist das lebendige Porträt eines Helden, der keiner sein wollte – und eine unverzichtbare Quelle für alle, die den Mann verstehen wollen, der Putin die Stirn bietet und mit seinem Land zum Verteidiger der freien Welt geworden ist
Der Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht nach dem Massaker der russischen Soldaten an den Bewohner:innen die ukrainische Stadt Butscha
Der Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht nach dem Massaker der russischen Soldaten an den Bewohner:innen die ukrainische Stadt Butscha

Foto: RONALDO SCHEMIDT/AFP via Getty Images

Vorwort

Selenskyjs Polit-Oscar

Zu den Klängen des Titelsongs »Ich liebe mein Land …« aus dem Soundtrack von Diener des Volkes traten am 21. April 2019 um acht Uhr abends Wolodymyr Selenskyj und sein Team vor die Presse. Es war, als würde dieses dümmliche Liedchen in jenem Augenblick nicht nur den siegreichen Kandidaten besingen, sondern auch die 73 % der Wählerschaft, die ihm ihre Stimme gegeben hatten.

Ukrainische wie ausländische Journalisten und Journalistinnen, die das Park-Kongresszentrum in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw füllten, erwarteten voller Ungeduld die Triumphrede des frisch gewählten Präsidenten. Selenskyj strahlte. Und mit ihm alle, die ihn zum Sieg begleitet hatten: Andrij Bohdan, Dmytro Rasumkow, Kyrylo Tymoschenko, Andrij Jermak, Oleksandr Danyljuk und Wolodymyrs Frau Olena. Es regnete Konfetti, der Saal kochte, und es fehlte nicht viel und der präsidentielle Stab hätte begonnen zu tanzen.

»Das haben wir gemeinsam geschafft …« – in dem ihm eigenen Duktus begann Selenskyj seine Rede. Ganz, wie es einem Schauspieler bei der Oscarverleihung gebührt, dankte er zuerst seinem Team, der Familie, Freunden, seiner Frau Olena und sogar zwei Reinigungskräften namens Oksana und Ljuba, die in den Büros seines Stabes für Ordnung gesorgt hätten. Er erinnerte auch an den symbolträchtigen 73. Block im Olympiastadion, vor dem er gemeinsam mit seinem Team den berühmt-berüchtigten Wahlkampfspot »Dann eben im Stadion« gedreht hatte.
Noch nicht aus dem Schatten seines TV-Alter-Egos Wasyl Holoborodko herausgetreten, riss Wolodymyr Witze, stichelte gegen den ukrainischen Inlandsgeheimdienst, der ihn, so seine Formulierung, »in Form gehalten habe«, und gab sich demonstrativ optimistisch. Nach seinem Abschied von der Konzertkarriere rechnete Selenskyj ganz offensichtlich mit ähnlich begeisterter Zustimmung auf der politischen Bühne. Ganz selbstverständlich verließ er sich darauf, beim Publikum gut anzukommen, zu hören, wie man applaudierte, »Bravo!« und »Zugabe!« rief. Das verwundert nicht. Man hatte ihn in den großen Konzertsälen von Moskau, Kyjiw, Odessa, Jurmala, Minsk und anderswo in der ehemaligen Sowjetunion bejubelt, überall hatte der Stern des Wolodymyr Selenskyj hell gestrahlt. Gleich nach seinem Sieg in Aleksandr Masljakows beliebter Gameshow Klub der Witzigen und Schlagfertigen 1997 war der damals 19-Jährige zu Fernsehruhm gelangt und für viele Ukrainerinnen und Ukrainer bis zur Übernahme des Präsidentenamts ein bekannter und beliebter Schauspieler gewesen.

Und wie hätte er an diesem Abend des 21. April 2019, nach seinem erdrutschartigen Wahlsieg, auch ahnen sollen, dass ihm nach nur einem knappen halben Jahr die Rufe »Schande!« und »Selja – Verschwinde!« entgegenschallen würden? Und zwar nicht nur von der Anhängerschaft seines größten Konkurrenten Petro Poroschenko, sondern auch aus dem Mund von Freiwilligen, von Militärangehörigen, von Kollegen und Kolleginnen aus der Politik?

Einige Monate nach der Amtseinführung würde er damit beginnen, sich seiner Mitstreiter auf dem Weg zum Sieg zu entledigen. Als Ersten würde es Oleksandr Danyljuk treffen, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, der angeblich über Selenskyj verärgert war, weil der ihn nicht zum Ministerpräsidenten gemacht hatte. Dann flog der Leiter des Büros des Präsidenten Andrij Bohdan aus dem Team, der seit Selenskyjs ersten Schritten auf der großen politischen Bühne an seiner Seite gestanden hatte. Weiterhin verloren auch Ministerpräsident Oleksij Hontscharuk und Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka ihre Posten.

Alle Genannten waren wesentliche Bestandteile des »kollektiven Selenskyj« gewesen, den das Land am 21. April 2019 ins Amt gewählt hatte. Bis ins Finale der Präsidentschaftskampagne hinein hatte Selenskyj als individuelle politische Persönlichkeit ja nicht existiert. Überhaupt nicht, in keiner Weise. Er war ein begabter Komiker und als Manager beim Fernsehsender Inter und der Produktionsfirma Studio Kwartal 95 tätig. Und er war Schauspieler, der in der Rolle des Serienhelden Wasyl Holoborodko vom Geschichtslehrer zum Staatsoberhaupt aufsteigt. Sein präsidentielles Image verpasste ihm seine Entourage.

Vor drei Jahren verkündete der sechste Präsident der Ukraine: »Ich verspreche, euch niemals zu enttäuschen.« Mittlerweile haben wir Wolodymyr Selenskyj in vielen Lebenslagen erlebt. Er und sein Team mussten sich als unprofessionell kritisieren und der Korruption, der Arroganz und sogar des Hochverrats beschuldigen lassen. Seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des flächendeckenden russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, konnten wir allerdings einen ganz anderen Selenskyj entdecken. Einen Menschen, der keine Angst hat, Putins Herausforderung anzunehmen und sich vor Ort in der Ukraine an die Spitze des Widerstands gegen die russische Aggression zu stellen. Einen Präsidenten, dem es gelingt, Anhänger wie Gegner in diesem Widerstand zu vereinen, Nutznießer der Korruption mit Anti-Korruptionsaktivisten, Alte mit Jungen, Menschen verschiedener Nationalitäten und Glaubensrichtungen. Ein Staatsoberhaupt, dem man im US-amerikanischen Kongress und den Parlamenten Europas Beifall klatscht.

Jede der in diesem Buch geschilderten Episoden aus dem Leben des sechsten Präsidenten der Ukraine ist ein Mosaiksteinchen. Zusammengesetzt ergeben sie ein Porträt des Wolodymyr Selenskyj. Eines Menschen, der ohne jegliche politische Erfahrung oder entsprechende Kompetenzen den Ukrainerinnen und Ukrainern versprach, ihren Staat umzukrempeln. Eines Menschen, dem 13,5 Millionen Wähler und Wählerinnen ihre Stimme anvertrauten.

Das Buch will weder moralisieren noch Vorurteile bedienen oder gar manipulieren. Hier soll es um Fakten gehen, allein um Fakten. Mir war es schlicht darum zu tun, den sechsten Präsidenten der Ukraine ungeschminkt zu porträtieren.
Inwieweit mir dies gelungen ist, mögen meine Leserinnen und Leser selbst beurteilen.

Sergii Rudenko, April 2022

Episode 1

Zehn Anschläge auf das Leben von Präsident Selenskyj

Am 24. Februar 2022 um 4 Uhr 50 morgens startete Moskau seine Raketenangriffe auf ukrainisches Territorium. Während das Staatsfernsehen der Russischen Föderation Wladimir Putins Ansprache an sein Volk übertrug, gingen gleichzeitig die ersten ballistischen Raketen auf Ukrainer und Ukrainerinnen in der Hauptstadt Kyjiw nieder, in Charkiw, Odessa, Mariupol, Dnipro und anderen Städten des Landes. Wenige Kilometer von meinem Zuhause in Kyjiw entfernt, in den Kyjiwer Vororten Browary und Boryspil, zitterte die Erde unter den Detonationen. Die verschlafenen Städte verwanden den ersten Schock. Sirenen von Ambulanzen, Feuerwehren und Ersthelfern zerschnitten scharf die winterliche Luft. Noch wollte das Bewusstsein die Tatsache nicht wahrhaben, dass Russland einen freien und unabhängigen Staat mitten in Europa bombardieren ließ. Alles gemahnte an einen irren Traum, der sich mit den ersten Sonnenstrahlen verflüchtigen würde.

Doch es war kein Traum. Es war die neue Wirklichkeit, in die hinein Ukrainer und Ukrainerinnen erwachten.
Eine halbe Stunde nach den ersten Einschlägen trat Wolodymyr Selenskyj an die Öffentlichkeit und bestätigte, dass zwischen Russland und der Ukraine Krieg herrschte. Von ihm erfuhr die Ukraine im Morgengrauen auch von den ersten Opfern des Überfalls durch den Kreml. Es waren Militärangehörige, die sich in Stützpunkten befunden hatten, auf die Moskau seine Geschosse hatte regnen lassen. So begann der flächendeckende Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, an den bis dato niemand hatte glauben wollen. Auch Wolodymyr Selenskyj nicht. Einen Monat vor Kriegsausbruch hatte der Präsident trotz vielfacher Warnungen der amerikanischen und britischen Geheimdienste vor einem bevorstehenden Angriff noch beharrlich behauptet, alles unter Kontrolle zu haben. Das Ausland verbreite nur Panik, zu der überhaupt kein Anlass bestehe.

In der Nacht auf den 24. Februar, buchstäblich wenige Stunden vor Ausbruch der Kampfhandlungen, hatte sich der ukrainische Präsident öffentlich an die Bevölkerung in Russland gewandt. Er hatte ernsthaft gehofft, er sei in der Lage, Putin zu stoppen. Obwohl seit der Annexion der Krym und der Besetzung von Teilen des Donbas 2014 wohl nur noch die bedingungslose Kapitulation der Ukraine oder alternativ eine Kugel in den Kopf den Kremlherren hätten stoppen können. Putin war nicht müde geworden zu behaupten, die ukrainische Staatlichkeit ginge auf Wladimir Lenin zurück, und die Ukrainer als Volk seien der Einbildung des Grafen Potocki entsprungen. Wie er es ja auch unmittelbar vor dem Überfall auf die Ukraine noch gebetsmühlenartig wiederholt hatte. Dabei wurde die ukrainische Hauptstadt Kyjiw gegründet, als das Gebiet des heutigen Moskau noch Sumpfland war. Die öffentliche Bekundung Putins, die sogenannte »Unabhängigkeit« der Pseudostaaten »Donezker« und »Luhansker Volksrepublik« sicherstellen zu wollen, war nur der Vorwand, unter dem er zur Vernichtung des ukrainischen Staates blies.
Präsident Selenskyj nahm Putins Fehdehandschuh würdig auf. Trotz zahlreicher Angebote seitens der USA und zehn Anschlägen auf sein Leben (die Zahl wurde im März von Mychajlo Podoljak aus dem Büro des Präsidenten genannt), die er allesamt überlebte, verließ er Kyjiw nicht. Putin wollte seinen Tod – wenn nicht physisch, so ganz sicher politisch. Dass es so weit nicht kam, bezeugt die Schwäche des Machthabers im Kreml. Das Büro des Präsidenten im Herzen Kyjiws wurde zu einem wichtigen Symbol für die Unbeugsamkeit des ukrainischen Volks. Der Mut, mit dem Wolodymyr als Oberkommandierender der Streitkräfte dem russischen Angriff die Stirn bietet, hat die Ukrainer und Ukrainerinnen schlicht beeindruckt, unter ihnen zuallererst auch die Gegner des sechsten Präsidenten. In den Parlamenten überall in Europa applaudiert man ihm stehend, auf ihm als Mensch ruht die Aufmerksamkeit der ganzen Welt. Die Popularität, die Wolodymyr Selenskyj gegenwärtig im Westen genießt, lässt sich nur mit der des Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow vergleichen.

Der Blitzkrieg, auf den Wladimir Putin in der Ukraine spekuliert hatte, ist gescheitert. Russland traf auf den erbitterten Widerstand des ukrainischen Volks mit seinem Präsidenten Selenskyj an der Spitze. Auch war der Kreml anscheinend nicht davon ausgegangen, dass der vom Zaun gebrochene Krieg von den Ukrainern als Krieg des ganzen Volks geführt werden würde. Die russischen Invasoren wurden mit Feuer empfangen – nicht nur von den Streitkräften, sondern auch von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern. Und zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des Landes können wir beobachten, wie sich alle Ukrainer geeint einem äußeren Feind entgegenstellen.
Über Selenskyjs Rolle und Selenskyjs Sieg in diesem Krieg werden zweifellos künftig die Historiker zu befinden haben. Über ihn werden Filme gedreht und Bücher geschrieben werden, man wird Straßen, Plätze und Universitäten nach ihm benennen. Selenskyj persönlich wird für immer mit der Epoche der ukrainischen Geschichte verbunden bleiben, die unter der Überschrift »Der endgültige Bruch mit Russland« verhandelt werden wird.

Jahrhundertelang haben die Ukrainer mit Moskau um das Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft. Millionen Menschen haben in diesem blutigen Ringen ihr Leben gelassen, ohne dass der ukrainisch-russische Kampf je ein Ende zu nehmen schien. Der Kreml hoffte noch bis vor Kurzem, es würde gelingen, die Ukraine auch weiterhin in seiner Einflusszone zu halten. Doch er hat sich verrechnet. Jener Wladimir Putin hat sich verrechnet, der stets herablassend über Wolodymyr Selenskyj sprach. Es ist dann wohl eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der, dem der russische Präsident bis zuletzt nicht auf Augenhöhe begegnen mochte, zum Totengräber des gegenwärtigen russischen Regimes werden dürfte.

10.07.2022, 17:46

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