Beim Thema Start-ups und Innovationen denken viele nach wie vor an das Silicon Valley. Doch es ist Zeit, die Richtung zu wechseln, sagt Chinaexperte Wolfgang Hirn. Wer wissen will, wie – im Guten wie im Bösen – die Welt von morgen aussehen könnte, muss nach Shenzhen fahren. In der Megacity am Perlflussdelta kann man sehen, wie man den Nahverkehr einer Millionenstadt auf Elektromobilität umrüstet, wie Roboter zunehmend den Alltag beherrschen, wie Zutritt zunehmend per Gesichtserkennung geregelt wird oder wie Drohnen Verkehrssünder verfolgen. Wolfgang Hirn besucht Shenzhen seit vielen Jahren und hat die rasante Entwicklung der Stadt von einem schwer durchschaubaren Moloch zu einer zunehmend lebenswerten Stadt mit Bars, Galerien, Malls und Restaurants aus nächster Nähe verfolgt. Mit seinem Buch eröffnet er einen einzigartigen Blick in Chinas größtes Reformlabor.
Shenzhen ist Chinas Speerspitze in die Zukunft. Seitdem die Stadt 1979 von Reformer Deng Xiaoping zur Sonderwirtschaftszone erklärt wurde, wuchs sie zur pulsierenden Metropole heran. In Shenzhen durfte seither mehr experimentiert werden als anderswo in China. Hier gibt es eine Stadtregierung, die offen für neue Ideen ist und Entrepreneurship fördert. So wird in Shenzhen längst nicht mehr nur kopiert, sondern innoviert. Keine chinesische Stadt ist jünger und moderner, keine beherbergt eine größere Start-up-Szene, die inzwischen Talente aus aller Welt anzieht.
Wolfgang Hirn beschreibt die spannende Entwicklung der Stadt von einer Ansammlung von Fischerdörfern zur Hightech-Megacity, in der immer weitere ausländische Konzerne – ob Airbus, Apple oder Daimler – ihre Labs installieren. Für Hirn ist klar: die Weltwirt-schaft bekommt hier ein neues Gravitationszentrum. Anders als das auf IT und Software basierte Silicon Valley hat Shenzhen eine viel breitere industrielle Basis. Die Stadt profitiert von der größten Fabrikdichte der Welt in ihrem Umland. In Shenzhen, so formuliert Hirn etwas überspitzt, kannst du morgens eine Idee haben und am Abend schon den Prototypen in der Hand.
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Interview mit Wolfgang Hirn
Shenzhen, chinesische Megacity und Protagonistin Ihres neuen Buches, repräsentiert die Welt von morgen. Was macht diese Welt aus?
Wolfgang Hirn: Die Stadt ist Vorreiter bei vielen technologischen Entwicklungen. Positiv ist die Verkehrspolitik, die rigoros auf Elektromobilität setzt. Alle Busse und Taxen sind inzwischen unter Strom. Auch bei der Digitalisierung steht Shenzhen an der Spitze der Entwicklung. Das Konzept der Smart City, wo fast alles vernetzt ist, wird hier konsequent umgesetzt. Politiker hierzulande können deshalb lernen, wie man eine zukunftsfähige Verkehrspolitik betreibt und eine Digitalisierungsstrategie entwickeln kann.
Deng Xiaoping erklärte Shenzhen schon 1979 zur Sonderwirtschaftszone mit besonderen Rechten in puncto Innovation und Entrepreneurship. Was hat Shenzhen anderen chinesischen Megastädten voraus?
WH: Shenzhen ist anders als alle chinesischen Großstädte eine junge Metropole. Und das in doppelter Hinsicht: Sie ist erst nach dem Tode Maos entstanden. Sie ist ein Kind des neuen Chinas und der chinesischen Reformpolitik. Zum zweiten sind die Einwohner Shenzhens jung. Das Durchschnittsalter beträgt gerade mal rund 30 Jahre. Hierher kommen viele junge Leute aus China, aber auch zunehmend von außerhalb, um dort ihre Träume und Wünsche zu erfüllen. Das erzeugt ein besonders kreatives Klima in der Stadt.
In China vollzieht sich die Entwicklung vom »Made in China« zum »Created in China«. Welche Konsequenzen hat das für das Silicon Valley und Europa?
WH: Unternehmen aus Shenzhen werden zunehmend Konkurrenten von amerikanischen und europäischen Firmen. In einigen Branchen sind sie sogar innovativer, so dass Shenzhen-Firmen wie zum Beispiel BGI (Biotech), BYD (Elektromobilität), Huawei (Telekommunikation) oder Tencent (Internet) in ihren Industrien inzwischen als Benchmark für westliche Unternehmen gelten.
Was hat Sie während Ihrer Recherche persönlich am meisten an Shenzhen beeindruckt oder überrascht?
Ich kenne viele chinesischen Städte, aber Shenzhen ist die grünste Stadt, die ich bislang in dem Land kennengelernt habe. Dazu die Lage am Wasser, die durch die kilometerlange Uferpromenade noch besonders attraktiv erscheint. Freilich würde man als Europäer direkt am Wasser gerne das ein oder andere Lokal oder eine Bar erwarten. Aber es gibt trotzdem ein paar Oasen der Ruhe in der Stadt. Meine liebste ist das OCT Loft mit seinen Cafés, Galerien und Restaurants.