Auf der Suche nach Heilung

Leseprobe Im von Insidern »V13« genannten exemplarischen Prozess sollte ein Trauma bearbeitet, sollten Hunderte von Perspektiven abgewogen und schließlich ein Urteil gefällt werden. Emmanuel Carrère besuchte den Prozess über neun Monate lang Tag für Tag
Ludmila Profit (24) war zum Zeitpunkt des Anschlags im Bataclan. Bei einem Shooting mit den Opfern zeigt sie ihr Tattoo: ein vierblättriges Kleeblatt und das Wort »Fuck«
Ludmila Profit (24) war zum Zeitpunkt des Anschlags im Bataclan. Bei einem Shooting mit den Opfern zeigt sie ihr Tattoo: ein vierblättriges Kleeblatt und das Wort »Fuck«

Foto: JOEL SAGET/AFP/Getty Images

Der erste Tag

Start in den Herbst

8. September 2021, Mittag. Die Île de la Cité unter massivem Polizeischutz. Wir sind mehrere Hundert Personen und passieren zum ersten Mal die Sicherheitsschleusen, die wir nun ein Jahr lang jeden Tag passieren werden. Den Polizeibeamten, denen wir Guten Tag sagen, werden wir wohl oft Guten Tag sagen. Die Gesichter der Anwälte mit ihrem Ausweis an einem schwarzen, die der Journalisten mit einem orangen und die der Geschädigten mit einem grünen oder roten Band werden allmählich vertraut werden. Mit manchen von ihnen wird man sich anfreunden – etwa dem Grüppchen derer, mit denen man diese Reise gemeinsam unternehmen, Notizen und Eindrücke austauschen und sich gegenseitig vertreten wird, wenn der Tag kein Ende nimmt, und spät in der Brasserie Les Deux Palais etwas trinken gehen wird, wenn er zu hart war. Die Frage, die wir uns alle stellen, lautet: Hast du vor, die ganze Zeit herzukommen? Oder oft? Wie organisierst du dich mit dem Rest deines Lebens? Deiner Familie? Den Kindern? Manche, das weiß man schon, werden nur an den absehbar interessantesten Tagen vorbeischauen. Andere planen, jeden Tag dabei zu sein und die zähen Phasen genauso mitzumachen wie die intensiven. Ich gehöre zu Letzteren. Ob ich durchhalten werde?

Der Ablauf

Ende Juli wurde bekannt, dass der Prozess nicht sechs, sondern neun Monate dauern wird. Ein Schuljahr, eine Schwangerschaft. Der Ablauf bleibt gleich, was sich ändert, ist die Zeit, die man den Geschädigten widmen will. Etwa 1800 Personen. Wie viele davon aussagen werden, weiß man noch nicht. Bis zur letzten Minute können sie sich dafür entscheiden oder dagegen. Jedem wird durchschnittlich eine halbe Stunde eingeräumt – doch wer wird schon jemanden unterbrechen, der nach Worten ringt, um von der Hölle im Bataclan zu erzählen, und ihm sagen: »Ihre Redezeit ist abgelaufen«? Vielleicht wird die halbe Stunde zu einer ganzen werden, die sechs Monate sind jetzt schon dabei, sich in ein Jahr zu verwandeln, und ich bin wohl nicht der einzige, der sich heute fragt, warum ich mich anschicke, ein Jahr meines Lebens fünf Tage pro Woche mit einer Maske vorm Gesicht in einem riesigen Gerichtssaal zu verbringen und in aller Frühe aufzustehen, um meine Notizen vom Vorabend zu sortieren, bevor sie unentzifferbar werden – was schlicht bedeutet, ein Jahr lang an nichts anderes zu denken und kein Leben mehr zu haben. Warum? Warum tue ich mir das an? Warum habe ich dem Nouvel Observateur vorgeschlagen, den gesamten Prozess zu begleiten? Wenn ich Anwalt wäre oder irgendein Akteur in diesem riesigen Justizapparat, klar, dann wäre das mein Job. Genauso, wenn ich Journalist wäre. Aber als Schriftsteller, den niemand darum gebeten hat und der, wie Psychoanalytiker von sich sagen, sich nur qua seines Begehrens dazu ermächtigt? Ein sonderbares Begehren. Denn ich bin von den Anschlägen nicht persönlich betroffen gewesen und auch niemand in meinem Umfeld. Allerdings interessiere ich mich für Rechtsprechung. In einem Buch habe ich schon einmal das Dekorum eines Schwurgerichts beschrieben, in einem anderen die oft verkannte Arbeit eines Amtsgerichts. Was heute hier eröffnet wird, ist kein Nürnberger Prozess über den Terrorismus schlechthin, wie immer wieder behauptet wurde – in Nürnberg hat man hohe Nazifunktionäre verurteilt, hier wird man nur Mitläufern den Prozess machen, denn alle Mörder sind tot –, dennoch wird es ein Riesending werden, etwas nie Dagewesenes, und ich will dabei sein: Das ist der erste Grund. Ein zweiter ist, dass ich mich, ohne ein Experte des Islam und schon gar nicht der arabischen Welt zu sein, auch für Religionen und ihre krankhaften Mutationen interessiere – und für die Frage: Wo beginnt das Krankhafte? Wo beginnt der Wahnsinn, wenn es um Gott geht? Was geht im Kopf dieser Typen vor? Doch der eigentliche Grund ist noch ein anderer. Der wichtigste Grund ist, dass Hunderte von Menschen vor uns stehen und sprechen werden, die eines gemeinsam haben: die Nacht vom 13. November 2015 erlebt und überlebt zu haben oder diejenigen überlebt zu haben, die sie geliebt haben. Jeden Tag werden wir von extremen Todesund Lebenserfahrungen hören, und ich glaube, zwischen dem Moment, da wir diesen Gerichtssaal betreten, und dem, da wir ihn verlassen werden, wird sich irgendetwas in uns allen verändern. Wir wissen nicht, was wir erwarten, wir wissen nicht, was uns erwartet. Also gehen wir hin.

Die Kiste

Immer wieder wurde gesagt, dieser Prozess sei ein Jahrhundertprozess, einer für die Geschichtsbücher, einer mit Vorbildcharakter. Dabei stellte sich die Frage, welcher Rahmen dieser gigantischen Werbekampagne für das Rechtsprinzip wohl angemessen wäre. Das vor drei Jahren eröffnete neue Gerichtsgebäude an der Porte de Clichy ganz im Norden von Paris? Zu modern, zu abgelegen. Eine Sporthalle? Nicht weihevoll genug. Ein Theaterraum? Nach dem Bataclan geschmacklos. Schließlich entschied man sich für den altehrwürdigen Justizpalast auf der Île de la Cité zwischen der von Ludwig dem Heiligen erbauten Sainte-Chapelle und dem Quai des Orfèvres, an dem der Schatten von Kommissar Maigret umgeht, doch da keiner seiner Säle groß genug war, baute man in die Vorhalle eine 45 Meter lange und 15 Meter breite, fensterlose weiße Sperrholzkiste, die 600 Personen fasst und den Staat 7 Millionen Euro gekostet hat. Dennoch ist sie nicht groß genug, um am ersten Tag alle Anwesenden zu fassen, also entscheidet das Los darüber, wer von den Journalisten Zutritt erhält. Allein für den Nouvel Observateur sind wir zu dritt da. Violette Lazard und Mathieu Delahousse – die über den Prozess für die Onlineausgabe der Zeitung im fieberhaften Tagesrhythmus berichten werden – und ich, der im bequemen Takt des Magazins schreiben wird: 7800 Zeichen pro Woche, Abgabe am Montag, Veröffentlichung am Dienstag, die gute alte Art. Wir hoffen, einander zu ergänzen. Violette und Mathieu sind Koryphäen unter den Gerichtsreportern – die sie »la presse ju’« nennen –, einer eingeschworenen, herzlichen Zunft voller starker Persönlichkeiten, mit der ich schon einigen Umgang hatte und auf die ich gerne wiedertreffe. Mit ihnen zusammen hier zu sein beruhigt mich, und sie nehmen den Neuling, den man ihnen in die Hand gegeben hat, wie gute Kameraden in ihrer Mitte auf. Das Los ergibt einen Platz für den L’Obs, als Willkommensgeschenk überlassen sie ihn mir. Ich finde mich eingezwängt zwischen dem Sonderberichterstatter der New York Times und dem von Radio Classique wieder. Dass Radio Classique jemanden schickt, ist verrückt, aber Violette und Mathieu haben mir schon prophezeit: Die Aufregung wird sich bald legen. Die Fernsehteams, die am Saaleingang auf der Stelle treten, weil es verboten ist, drinnen zu filmen, werden ihre Ausrüstung wieder einpacken, der Sonderberichterstatter von Radio Classique wird zu seinen Symphonien zurückkehren, und übrigbleiben werden nur die echten, die wirklichen Spezialisten für Verbrechen und Terrorismus – den sie »le terro« nennen. Unsere Sitzbänke sind sehr unbequem, kantig und ungepolstert. Es gibt auch keinerlei Schreibunterlage. Ob man direkt auf dem Computer schreibt oder, so wie ich, in ein Heft, in jedem Fall sagt man sich: Sich monatelang Notizen auf den Knien zu machen und ständig die Haltung zu wechseln, um möglichst wenig zu verkrampfen, das wird kein Spaziergang. Außerdem ist man weit weg. Weg von dieser Theaterbühne, die ein Gerichtssaal ist, so weit weg, dass man vor allem auf die Übertragungsbildschirme starren wird. Tatsächlich ist es ein bisschen so, als würde man den Prozess im Fernsehen verfolgen. Um 12.25 Uhr allgemeines Erzittern. Mit massiver Polizeieskorte werden die Angeklagten in die Sicherheitskabine geführt. Man sieht eher die Spiegelungen auf der Glasscheibe als sie selbst dahinter. Man steht auf, verrenkt den Hals und fragt: Ist er da? Ja, er ist da. Salah Abdeslam ist da. Der Typ im schwarzen Polohemd, der am weitesten weg steht, er ist es: das einzige überlebende Mitglied des Terrorkommandos. Dass er in der hintersten Ecke der Glasbox steht, liegt nicht daran, dass man ihn nicht sehen soll, sondern an der alphabetischen Reihenfolge. Er ist der erste in einer langen Reihe von As: Abdeslam, Abrini, Amri, Attou, Ayari. Schrilles Klingeln. Eine Stimme verkündet: »das Gericht«. Alle erheben sich, wie bei einer Messe. Der Vorsitzende Richter und seine vier Beisitzer treten ein und nehmen Platz. Mit leichtem Marseillaiser Akzent verkündet der Vorsitzende: »Bitte nehmen Sie Platz, die Sitzung ist eröffnet.« Es hat angefangen.

03.08.2023, 09:15

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