Herzensliebe und Hass. Protest und Conspirituality
Auto an Auto. Es waren mehrere Hundert Fahrzeuge, die am 27. Januar 2021 einen über einen Kilometer langen Korso durch die Stuttgarter Innenstadt bildeten. Zu der Aktion aufgerufen hatte Querdenken 711, um gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zu protestieren. Manche Autos hupten, andere hatten Warnblinker eingeschaltet, und an vielen waren Botschaften angebracht. Mal mehr, mal weniger eindeutig: »Denkt nach! Es ist Zeit zu hinterfragen« oder »Keine Impfpflicht. Schiebt euch die Spritze in den Arsch«.
Mit der Kundgebung beendete Querdenken 711 eine selbst auferlegte Demonstrationspause. An Weihnachten 2020 hatte Michael Ballweg, Initiator der Bewegung, in einem Video verkündet, den Winter nutzen zu wollen, um »Kräfte für den Frühling« zu sammeln. Den anderen Querdenken-Gruppen empfahl er, ebenfalls auf Aktionen zu verzichten. Per Video erfolgte auch der Aufruf für die neue Protestform. Die sozialen Medien von Blogs und Websites über Facebook und Instagram bis zu Chat- und Telegram-Kanälen sind die medialen Multiplikatoren der Bewegung. So blieb der Appell auch in anderen Städten der Bundesrepublik nicht ungehört. In Hamburg, Köln, Mannheim, München oder Zwickau folgten weitere Autokonvois. Bis zum offiziellen Frühjahrsbeginn konnte die selbsternannte Bewegung für Freiheit und Schutz der Grundrechte doch nicht ausharren. Im April 2021 richtete sie immer noch Auto-Protestfahrten aus.
Anlass für die Wiederaufnahme der Proteste aus dem Vorjahr dürften die neuerlichen Lockdown-Regelungen gewesen sein, die am 19. Januar 2021 von Bund und Ländern beschlossen worden waren. Das geschichtsträchtige Datum ihres offiziellen Aktionsstartes für 2021 weniger. Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz-Birkenau befreit, 2005 beschlossen die Vereinten Nationen, jedes Jahr an diesem Tag den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen. Eine Verbindung zur Querdenken-Bewegung und Corona-Leugnungsszene besteht insofern, als Einzelne daraus eine historische Verbindung zwischen sich und den Opfern des Nationalsozialismus sehen wollen. Sie tragen einen gelben Stern mit der Aufschrift »Ungeimpft«, in Anlehnung an den Stern, den jüdische Menschen von 1941 bis 1945 sichtbar anheften mussten, oder identifizieren sich, wie die zu zweifelhaftem Ruhm gelangte »Jana aus Kassel«, mit Sophie Scholl, die 1943 hingerichtete Widerstandskämpferin von der Weißen Rose.
In der Debatte um das »Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« im November 2020 wurden ebenso Vergleiche mit dem Nationalsozialismus bemüht. Bei Aufrufen zu Protesten vor dem Bundestag, die in den sozialen Medien kursierten, bezeichneten Gegner:innen die Vorlage als »Ermächtigungsgesetz«. Mit dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933 hatten die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler das Recht erhalten, ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat sowie ohne Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen. Der Reichstag schaffte sich durch die Annahme der Gesetzesvorlage als demokratische Institution selbst ab.
Das Infektionsschutzgesetz hingegen lässt sich natürlich kritisieren, zur Zerstörung der pluralistischen Demokratie führen die Erweiterungen der Befugnisse für die Regierung aber nicht. Auch nicht die angekündigte Ausweitung im April 2021. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland sprach im Bundestag gleichwohl von einer »Gesundheitsdiktatur«. Und der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, schob nach: Diese »Gesetzesvorlage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab«. Diese Vielzahl von begrifflichen und symbolischen Anspielungen auf den Nationalsozialismus im Spektrum der Pandemie-Maßnahmenkritiker:innen legt nahe, dass sie den Termin für den Autokonvoi durchaus bewusst gewählt haben könnten.
Die Kritik an diesem Missbrauch der Geschichte folgte schnell, blendete allerdings oft aus, dass viele Mitglieder der Bewegung tatsächlich fest davon überzeugt sind, sie würden ihrer individuellen Rechte beraubt und eine Diktatur stehe unmittelbar bevor. Sie hoffen mit »Herzensliebe« den »Freiheitsvirus« verbreiten zu können und diese Entwicklung zu stoppen, wie sich Ballweg am 1. August 2020 bei der Demonstration »Tag der Freiheit« ausdrückte.