Was heißt das: „Mann-Sein“?

Leseprobe Zum zweiten Mal ist er Vater geworden. Eine Nacht hört die Tochter nicht auf zu schreien, in der nächsten fragt er sich, ob sie noch atmet. Er ist überfordert als Vater, verunsichert als Mann. Warum fällt es ihm so schwer, sich in die Rolle zu fügen?
Der Anteil an Vätern in Elternzeit stieg in den letzten zehn Jahren um fast 50 Prozent
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Foto: BULENT KILIC/AFP via Getty Images

Am Abend fragst du mich, warum ich dich liebe, und ich sage: Weil du so riechst, wie du riechst.

Und dann fragst du: Wie rieche ich denn?, und ich sage: So wie nur du.

Und du lächelst, ich sehe es, obwohl es dunkel ist, und du gibst mir einen Kuss auf die Stirn, fällst ins Kissen, schläfst ein.

Und ich denke daran, wie wir uns kennenlernten und merkten, dass wir zusammen sein wollen, und wie wir dann merkten, dass wir das auch konnten, zusammen sein und gemeinsam die Welt anschauen und versuchen, ab und zu etwas festzuhalten, in Worte zu fassen, was uns gefällt oder nicht gefällt, was uns Angst macht, staunen lässt, zum Lachen bringt oder zum Weinen.

Und dass so was wirklich möglich sein könnte, das hatte ich mir nicht vorstellen können, bevor wir uns kennenlernten, und deswegen wurde das dann für mich alles eins, du, ich, die Welt, die Sprache, und seitdem habe ich nur einen Wunsch: dass das immer so bleibt.

Ich erwache, als alle noch schlafen.

Ich gehe in die Küche, lasse Wasser ins Spülbecken laufen, nehme den Schwamm in die Hand, höre lautes Geschrei.

Also lege ich den Schwamm wieder hin und greife nach der Thermoskanne, fülle abgekochtes Wasser in eine kleine Plastikflasche, gebe Milchpulver dazu, mache langsame kreisende Bewegungen mit der Flasche und nähere mich dann unserer zweiten Tochter, die erst seit ein paar Wochen auf der Welt ist.

Und als ich endlich bei ihr bin, ist sie bereits so zornig, dass sie nicht mehr trinken kann, sie hustet, verschluckt sich, ich nehme sie hoch, ihr Schreien wird lauter, ich versuche, sie etwas näher an mich zu drücken, um sie zu beruhigen, presse sie an meine Brust, das funktioniert manchmal, auch wenn es sich brutal anfühlt, und ich staune, wie schnell meine innere Ruhe verfliegt und mein Mitgefühl abnimmt, je länger ich sie so höre: hoch, monoton, schrill.

Und irgendwann merke ich, dass es nichts bringt, sie an mich zu drücken, dass sie sich immer weiter wegbeugt von mir mit der ganzen, erstaunlichen Kraft ihres kleinen Körpers, dass ihr Schreien noch lauter wird, also springe ich vor Wut in die Höhe, sie verstummt, und ich lande auf dem Boden mit ihr in den Armen und gehe in die Knie und halte sie, höre sie nur noch leise schluchzen und spüre, wie sie am ganzen Körper zittert.

Und ich frage mich, wieso ich kein schlechtes Gewissen habe angesichts meiner Unfähigkeit, die Situation anders zu empfinden als nervenzehrend, es ist mir nicht möglich, in dem kleinen, wehrlosen Wesen in meinen Armen in diesem Moment etwas anderes zu sehen als eine möglicherweise defekte Maschine, die mit ein paar richtigen Handgriffen wieder unter Kontrolle zu bekommen wäre, ich spüre meine eigene Kälte auch beim Anblick des jetzt wieder aufgerissenen kleinen Mundes, der darin zuckenden Zunge, stelle mir vor, wie der Schall ihrer Schreie durch mein Gesicht hindurchgeht, durch meinen Schädel, mein Hirn.

Ich frage mich, ob vielleicht das Wasser in der Thermoskanne nicht mehr die richtige Temperatur hat, gehe mit dem brettharten, lärmenden Wesen in meiner Linken zurück in die Küche, schalte den Wasserkocher ein, schöpfe erneut mehrere Messlöffel Milchpulver in die kleine Plastikflasche und gieße dann etwas von dem bereits vor Stunden abgekochten Wasser aus der Thermoskanne und ein wenig frisches kochendes Wasser dazu, nehme einen kleinen Schluck, um sicher zu sein, dass es nicht zu heiß ist, und sitze kurz darauf auf der Couch, stecke den Sauger der Flasche in den weit aufgerissenen Mund, aus dem mittlerweile ein wellenartig an- und abschwellendes Kreischen kommt, das so heftig ist, dass sich der kleine Körper bei seinen Versuchen, Luft zu holen, wieder verschluckt und von Hustenanfällen erfasst wird, bis Z dann die Milch vom letzten 10 Mal, als sie es geschafft hat, etwas zu sich zu nehmen, über meine Brust erbricht, und ich beschließe, weder sie noch mich selbst abzuwischen, sondern bewege stattdessen die Flasche mechanisch vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück, und im Augenwinkel sehe ich, dass ich, je nachdem, was sie tut, abwechselnd ihr Kinn treffe, ihre Wange oder die Leere ihres zum Schreien geöffneten Mundes.

Und ich weiß, dass so was normal ist.

Ich weiß nur nicht, ob es normal ist, ab und zu hässliche Bilder vor dem inneren Auge zu sehen, in denen die eigene Faust eine Rolle spielt, und ich weiß auch nicht, ob das plötzliche Verständnis für Eltern, die es nicht schaffen, ihre Kinder großzuziehen, die sie vernachlässigen oder ihnen etwas antun, ein Zeichen von zu- oder abnehmender Empathie ist, und ich weiß auch nicht, ob es normal ist, dass man sich fragt, wie man überhaupt Empathie mit etwas empfinden kann, das einen nicht einmal anschaut, geschweige denn mit einem spricht.

Und in dem Moment, als ich mir gerade ganz sicher bin, dass wir alle verloren sind, dass wir keine Chance haben, den unumkehrbaren Zerfall der menschlichen Gemeinschaft in immer schneller erkaltende Individuen aufzuhalten, in dem Moment kommst du und nimmst das schreiende Kind aus meinen Armen und gehst zurück ins Schlafzimmer, und bald ist es still, und ich schlafe auf der Couch, wache auf, als der Wecker klingelt, wecke unsere erste Tochter B, frühstücke mit ihr, sortiere nebenbei die kleinen Leinensäcke für den Adventskalender, helfe ihr beim Anziehen, frage, was sie in den Kalender möchte, Spielsachen oder Süßigkeiten, sie sagt: Spielsachen, und dass 11 sie einen Adventskranz will, wir verabreden, am Samstag einen zu basteln, sie putzt Zähne, ich hole die Wäsche aus der Maschine im Keller, dann klingelt es, die Nachbarstochter ist da, um mit B gemeinsam zur Schule zu laufen, und kurz darauf stehe ich auf dem Balkon und winke den beiden hinterher und winke noch immer, als sie schon lange wieder auf den Boden schauen, ins Laub, durch das ihre Füße sich vorwärtsbewegen in den Tag.

Und wie lieben möglich sein soll, ohne festzuhalten, hat einem niemand erklärt, oder wie leben, ohne loszulassen, und ich spüre das Frottee über meine Haut reiben in meinem Gesicht, und ich weiß, dass es mir besser gehen wird, wenn ich es dabei ganz fest aufdrücke, das ist ja auch logisch, die Rezeptoren auf meiner Haut, die das Handtuch stimuliert, sind verbunden mit meinem Gehirn, wieso soll es nicht möglich sein, schlechte Gedanken abzutrocknen, und dann muss ich an die Legende denken, die Iwan Karamasow seinem Bruder Aljoscha erzählt, von dem Heiligen, der sich mit einem Kranken hinlegt und seinen fauligen Atem atmet, und daran, dass Iwan das alles für vollkommen übertrieben und sinnlos hält, für eine Lüge zur Aufrechterhaltung der weltlichen Macht der Kirche, für ihn sei diese Art Nähe nicht nur nicht möglich, sondern nicht einmal wünschenswert, und ich weiß noch, dass ich ganz genauso dachte, bis ich die Antwort las, die Aljoscha findet auf die Zweifel seines traurigen Bruders: ein Kuss auf den Mund.

Und vielleicht hat mich dieser Kuss darum damals so sehr berührt, weil er so wahr schien, so klar, nah und schnell und schnell wieder vorbei, denn vielleicht ist das die einzige Art von Wahrheit, die überhaupt möglich ist, die Wahrheit des Augenblicks, Lippen, die sich kurz berühren, und das war’s, und schon im nächsten Moment ist auch wieder die Lüge möglich und nötig, aus Liebe, Langsamkeit oder Staunen, wie bei Hanya Yanagihara, wo Willem jeden Tag absichtlich stolpert und der Länge nach hinfällt, um die gehbehinderten Kinder, die er betreut, zu unterhalten, und es gelingt, und sie lachen sich jeden Tag von neuem kaputt, wie man sagt, doch in Wahrheit lachen sie sich natürlich heil, und was wäre gewonnen, wenn ich Z sagte, sobald sie alt genug wäre, um mich zu verstehen, dass ich nicht den Mut hatte, sie zu küssen, als ich sie auf der Neonatologie liegen sah mit Kabeln in Nase und Mund für Nahrung und Luft, und ich stand daneben, und sie war so klein, und ich wusste nicht, wie ich ihr zeigen könnte, dass ich wollte, dass es ihr gut geht, und ich denke, es lag daran, dass ich, wenn ich ganz ehrlich bin, wahrscheinlich Angst hatte, es zu sehr zu wollen, weil ich dann ja, wenn es ihr nicht gut gehen sollte, irgendwie verloren hätte, in irgendetwas gegen Ich-weiß-auch-nicht-wen, als wäre das alles ein Spiel, also legte ich, auch weil zwei Krankenpflegerinnen dabei waren, nur eine Hand auf ihren Rücken, nahm sie aber bald wieder weg, weil meine Hand natürlich viel kälter war als die Wärmelampe darüber, und erst als ich vorsichtig meine Hand anhob, spürte ich die feinen Härchen auf ihrer roten Haut.

Und ein paar Tage später lese ich in A Little Life: There were times when the pressure to achieve happiness felt almost oppressive, as if happiness were something that everyone should and could attain, and that any sort of compromise in its pursuit was somehow your fault, und ich schreibe das ab, weil ich glaube, dass es wichtig sein könnte für uns, und ein paar Minuten später schaffe ich es dennoch nicht, meine Wut zu unterdrücken, als ich dich weinen sehe, beim Blick aus dem Fenster, vom Sofa aus, mit dem Morgenkaffee in den Händen, die Kleine schläft noch, und die Große ist schon in der Schule, also stehe ich auf und gehe abspülen oder Wäsche aufhängen und denke dabei an den Untergang der 6. Armee.

Und als du mich neulich fragtest, wie es sich anfühlt, Teil eines potenziell gewalttätigen Geschlechts zu sein, dachte ich lange nach, einerseits weil es mir richtig vorkam, eine solche Frage nicht impulsiv zu beantworten, andererseits weil mir bewusst wurde, dass ich mir diese Frage selbst so noch nie gestellt hatte, was erstaunlich ist, da ich ja auch in der Gegenwart lebe, eine Mutter habe und eine Schwester, zwei Töchter, Solnit gelesen habe und auf dem Zürcher Frauenstreik mitmarschiert war und dabei mit einem gewissen Stolz gedacht hatte, dass dank so guter Männer wie mir die Gleichberechtigung unmittelbar bevorstehen müsse, aber den wichtigsten, seltsamsten, interessantesten Aspekt der geschlechtlichen Ungleichheit, nämlich den, dass es die Männer sind, die Gewalt ausüben, hatte ich als Teil meiner Selbstkonstitution bisher komplett ignoriert, dabei weiß ich nicht erst, seit ich im Streit mit dir einen Tisch umgeworfen habe, dass auch in mir Kräfte ruhen, die ich weder benennen noch kontrollieren kann, wenn sie in Bewegung geraten, ich kann nur versuchen, die sie auslösenden Denk- und Fühlmechanismen zu kontrollieren, was mir mithilfe einer Therapeutin seit damals auch einigermaßen gelingt, aber dann fiel mir ein, dass mich meine Fähigkeit zur Vernichtung eigentlich schon viel früher beschäftigt hat, morgens, in der Münchner U-Bahn, unterwegs in die Schule, den Blick auf den Boden gerichtet, wenn andere Kinder einstiegen, die größer waren als ich und stärker und mehr und sich laut unterhielten in fremden Sprachen, und ich mich fragte, ob ich sie, wenn sie mich 15 angriffen, wohl besiegen könnte und wie genau, mit dem Nothammer neben dem Fenster oder dem Feuerlöscher unter dem Sitz, oder nachts, wenn ich von Bergen abgemagerter Leichen träumte, von zerrissenen Soldaten, an Straßenlaternen aufgehängten Volkssturmmännern, vergewaltigten BDM-Mädels oder prügelnden KZ-Aufsehern, Kindern mit Panzerfäusten vor herannahenden T-34 und Gruben, Gruben, Gruben, gefüllt mit immer langsamer zuckenden Nackten, am Rand reguläre Verbände, Militär, Polizei, Militärpolizei, und ich merke, dass ich mich bei der Frage, wozu ich fähig bin, immer vor allem als Deutschen betrachtet habe und nicht so sehr als Mann.

Und dann ist es Abend, und ich sitze auf einer Bank vor dem Schulgebäude unserer älteren Tochter, gebe der jüngeren die Flasche, ärgere mich stumm über die spanisch sprechenden Frauen genau vor mir, die noch lauter sind als die ohnehin viel zu laute Playback-Musik, die den Chor überdeckt, der vor dem alten, hell angestrahlten Gebäude steht und in dem angeblich auch unser Kind singt, heute Morgen beim Frühstück hat sie noch geübt, ein spanisches Weihnachtslied an einer Zürcher Grundschule, vielleicht sprechen die Frauen vor mir auch deshalb so laut, weil sie das Lied schon kennen, und an das Schulhaus wird groß projiziert: We stand up for women, eine Initiative gegen häusliche Gewalt und für Gleichberechtigung, und ich fühle mich noch stärker als sonst auf der richtigen Seite der Geschichte, und plötzlich scheint es mir zum ersten Mal, als würde unser zweites Kind, dem ich die Flasche gebe und das eingewickelt ist in meine französische Armeejacke, mich ansehen, die braunen Augen wirken plötzlich ruhig und klar, fokussiert und ernst, und es scheint jemand hinter ihnen zu sein, nicht wie bei denen der ausgestopften Möwe, die uns eine Freundin aus Hamburg zur Geburt geschenkt hat und die seitdem im Wohnzimmer auf dem Esstisch steht und mich manchmal anstarrt, frühmorgens, wenn ich um halb vier mit Rückenschmerzen aus dem Bett taumle, mich zu ihr setze mit Stift und Papier und darauf warte, dass meine verschlafenen Augen wieder klar sehen.

24.08.2022, 22:52

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