Leseprobe : Über Wissenschaft, Freiheit und Frieden

Mit gespenstischer Klarsicht nahm Aldous Huxley bereits 1946 unsere Gegenwart vorweg: Technologischer Fortschritt bündelt die politische Macht bei wenigen. In Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs floriert Nationalismus, während Demokratien schwinden

Jeff Bezos, Amazon-Gründer – oft als „Tech-Oligarch“ bezeichnet wegen seines wirtschaftlichen und politischen Einflusses

Foto: Alexander Tamargo/Getty Images/America Business Forum

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Zeit der Oligarchen

Zeit der Oligarchen

Aldous Huxley
Übersetztaus demEnglischenvonJürgen Neubauer

Hardcover, gebunden

92 Seiten

14 €

»Bei einer derartig schlechten Einrichtung der Gesellschaft wie der unseren, in der eine kleine Zahl von Menschen die Macht über die Mehrheit hat und diese unterdrückt, dient jeder Sieg über die Natur unweigerlich nur dazu, Macht und Unterdrückung zu vergrößern. Und ge­nau das geschieht heute.«

Fast ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Tolstoi diese Worte geschrieben hat, und nichts hat sich seither daran geändert. In den zurückliegenden Jahrzehnten haben Wissenschaft und Technik beachtliche Fortschritte gemacht, genau wie die Zentralisierung von politischer und wirtschaftlicher Macht und wie Oligarchie und Despotismus. Man muss kaum erwähnen, dass die sich rasch entwickelnde Wissenschaft nicht der einzige Grund für diese Dynamik ist. Kein gesellschaftliches Übel hat jemals nur eine einzige Ursache. Umso schwieriger ist es, in jedem dieser Fälle ein Gegenmittel zu finden. Hier soll ­lediglich festgestellt werden, dass der wissenschaftliche Fortschritt einer der Urheber des voranschreitenden Niedergangs der Freiheit und der Zentralisierung der Macht im 20. Jahrhundert ist.

Die angewandte Wissenschaft berührt das Leben der Menschen und der Gesellschaft an zahlreichen Punkten und in einer Vielzahl von Situationen, und so mehrt sie auch die Macht der Wenigen über die Vielen auf vielfäl­tige Weise. Auf den folgenden Seiten werde ich die wichtigsten aufzeigen und schildern, wie die angewandte Wissenschaft bislang zur Zentralisierung der Macht in den Händen einer kleinen herrschenden Minderheit beigetragen hat und wie man diesen Entwicklungen entgegen­treten und sie vielleicht sogar umkehren kann.

In den letzten zwei oder drei Generationen wurden die politischen Bosse, die in den verschiedenen Nationalstaaten an der Macht waren, durch Wissenschaft und Technik mit Zwangsmitteln von nie da gewesener Effi­zienz ausgestattet. Der Panzer, der Flammenwerfer und der Bomber – um nur einige ihrer Werkzeuge zu nennen – lassen die herkömmlichen Methoden des Volksaufstands lächerlich aussehen. Gleichzeitig wurde die Polizei durch revolutionäre Fortschritte im Bereich Trans­port und Kommunikation massiv gestärkt. Fouché mag auf seine verquere Weise ein Mann mit herausragenden Qualitäten gewesen sein; doch verglichen mit der Geheimpolizei, über die moderne Diktaturen und selbst Demokratien verfügen, wirkt der Unterdrückungsapparat, den er für Napoleon schuf, geradezu absurd unbeholfen. In der Vergangenheit verdankten sich persönliche und politische Freiheiten zu einem erheblichen Maß der staatlichen Ineffizienz. Der Geist der Tyrannei war immer mehr als willig, doch ihre Organisation und mate­rielle Ausstattung waren im Allgemeinen ungenügend. Fortschrittliche Wissenschaft und Technik haben das geändert. Wenn heute die Exekutive repressiv vorgehen will, steht ihr ein wunderbar effizienter Zwangsapparat zur Verfügung, den sie nur in Bewegung setzen muss. Dank der Begabung und eifrigen Mitwirkung gut aus­gebildeter Physiker, Chemiker, Ingenieure und Erfinder sind Tyrannen in der Lage, immer mehr Menschen immer effektiver zu unterdrücken, und können Strategen immer willkürlicher und auf immer größere Entfernung töten und vernichten. Die Natur wurde an vielen Fronten zurückgedrängt; doch wie Tolstoi vorhersah, haben der Mensch und seine Freiheiten eine Reihe von Niederlagen erlitten.

Dieser überwältigenden wissenschaftlichen und technischen Überlegenheit lässt sich im direkten Konflikt nichts entgegensetzen. Im Jahr 1848 war das Jagdgewehr den Waffen der Soldaten ebenbürtig, und eine Barrikade aus umgestürzten Karren, Sandsäcken und Pflastersteinen bot ausreichend Schutz gegen Kavallerie und Kanonen. Nach einem Jahrhundert des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts können Waffen, wie sie den Massen zur Verfügung stehen, nicht mehr mit den Arsenalen der herrschenden Minderheit mithalten. Wenn die Vielen den Wenigen Widerstand leisten wollen, müssen sie dies daher auf Gebieten tun, auf denen die technische Überlegenheit nicht greift. In Ländern mit demokratischen Institutionen und einer Exekutive, die bereit ist, sich an die demokratischen Spielregeln zu halten, können sie sich gegen die Herrschaft der Wenigen schützen, indem sie von ihrem Recht Gebrauch machen, zu wählen, zu streiken, Bürgerinitiativen zu gründen, Petitionen einzureichen, Versammlungen abzuhalten und in Pressekampagnen Reformen zu verlangen. Wo es jedoch keine demokratischen Institutionen gibt oder wo sich eine bislang demokratische Regierung nicht mehr an die Spielregeln hält, kann sich eine unterdrückte Mehrheit zum Widerstand gezwungen sehen. Da Wissenschaft und Technik in ihrem Sieg über die Natur jedoch die militärische und polizeiliche Macht der Wenigen massiv gestärkt haben, kann gewalttätiger Widerstand nicht auf Erfolg hoffen, denn im Falle eines bewaffneten Konflikts wird die Seite, die über Panzer, Flugzeuge und Flammenwerfer verfügt, unweigerlich den Sieg über die Seite davontragen, die bestenfalls mit Handfeuerwaffen und Granaten ausgestattet ist.

Gibt es einen Ausweg aus einer derart ungünstigen ­politischen Situation, in der sich die Massen dank der angewandten Wissenschaft heute befinden? Bislang ist nur ein einziger Fall bekannt, der Hoffnung macht. In Süd­afrika und später in Indien standen Gandhi und seine Anhänger einer tyrannischen Regierung und ihrer militärischen Übermacht gegenüber. Gandhi, der nicht nur ein Idealist und Mann mit Prinzipien ist, sondern auch ein außergewöhnlich praktischer Politiker, begegnete die­ser scheinbar ausweglosen Situation, indem er eine gewaltfreie Form des Widerstands organisierte, die er ­satyagraha nannte. Für eine Darstellung der Methoden und Erfolge von satyagraha sei dem interessierten Leser War without Violence von Krishnalal Shridharani (New York, 1939) empfohlen. An dieser Stelle soll es genügen zu erwähnen, dass mit dieser Methode in Situationen, die aus militärischer Sicht ausweglos waren, eine Reihe beeindruckender Erfolge erzielt wurden. Denjenigen, die der Ansicht sind, dass Gandhis Leistung in der historischen und psychologischen Situation des industrialisierten Westens nicht relevant sei, gibt Shridharani die folgende Antwort:

Entgegen der landläufigen Meinung hat mich mein Kontakt mit der westlichen Welt zu der Überzeugung geführt, dass satyagraha, wenn es bewusst und gezielt eingesetzt wird, im Westen auf noch fruchtbareren Grund fallen könnte als im Osten. Wie der Krieg verlangt satyagraha Gemeinschaftssinn, Opferbereitschaft, Organi­sation und Disziplin, und diese Eigenschaften habe ich in westlichen Gemeinschaften häufiger vorgefunden als in meinen eigenen. Die besten Vordenker der Kunst des Krieges werden vielleicht die effektivsten Vertreter des gewaltfreien Protests. Um es mit William James zu sagen, ist es nur eine Frage von »Meinungsführern, die eine historische Gelegenheit ergreifen«.

Es heißt oft, satyagraha sei machtlos gegen eine Organisation, deren Führer bereit sind, ihre militärische Überlegenheit ohne Skrupel und Bedenken auszuspielen. Wie jede andere Form des gewalttätigen oder gewaltfreien Widerstands kann satyagraha den Erfolg nicht garantieren. Gegen vollkommen rücksichtslose und fanatische Gegner mag sich die Verweigerung der Zusammenarbeit und das, was Thoreau als »zivilen Ungehorsam« bezeichnete, zusammen mit disziplinierter Opferbereitschaft, zwar als wirkungslos erweisen, doch die Situation, die sich daraus gibt, kann materiell kaum schlechter sein, als sie es gewesen wäre, hätte man die unerträgliche Unterdrückung passiv erduldet oder erfolglos gewaltsamen Widerstand geleistet; psychologisch und moralisch wäre sie dagegen aller Wahrscheinlichkeit nach sehr viel besser – für die Beteiligten der satyagraha, aber auch in den Augen der Beobachter und aller, die aus zweiter Hand von deren Errungenschaften erfahren.

Es ist durchaus vorstellbar, dass satyagraha in den kommenden Jahren im Westen Fuß fasst – weniger weil es einen Meinungswandel gäbe, sondern ganz einfach, weil sie für die breite Masse, vor allem in besetzten Ländern, die einzig gangbare Form des politischen Protests ist. Die Deutschen des Ruhrgebiets und der Pfalz griffen 1923 gegen die Franzosen zu einer Form der satyagraha. Weil die Bewegung spontan entstand und philosophisch, ethisch und organisatorisch nicht vorbereitet war, fiel sie schließlich in sich zusammen. Doch sie hielt sich lange genug, um zu beweisen, dass auch eine westliche ­Nation – noch dazu eine, die mehr als jede andere gründlich militärisch indoktriniert war – ausgezeichnet in der Lage ist, gewaltfreien Widerstand zu leisten und bereitwillig Opfer auf sich zu nehmen. Es ist durchaus möglich, dass in der Bevölkerung im besetzten Deutschland ähnliche satyagraha-Bewegungen aufkommen (nur diesmal reflektierter und besser vorbereitet). Da andere Formen des politischen Protests nicht realistisch sind, könnte dies früher oder später geschehen. Es wäre eine der glücklicheren Ironien der Geschichte, wenn das Land, das Clausewitz, Bernhardi und Hitler hervorgebracht hat, von den Umständen gezwungen würde, der erste westliche Vertreter des gewaltfreien Protests zu werden, der in dieser Zeit des wissenschaftlichen Fortschritts die einzige ge­eignete Alternative zu aussichtslosen Revolutionen und selbstmörderischem Krieg geworden ist.

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