Aldous Huxley ist vor allem für seinen Roman »Schöne neue Welt« bekannt, ein Klassiker der dystopischen Literatur. Nun erscheint mit »Zeit der Oligarchen« ein erschreckend hellsichtiger Essay, der 80 Jahre lang verschollen war. Wie kam es zu dieser Entdeckung?
Die Entdeckung war das Ergebnis eines Gesprächs unter Freunden. Wir saßen eines Abends zusammen, sprachen über Politik und das in diesen Tagen weitverbreitete Gefühl, in einer fast schon dystopischen Realität festzustecken. George Orwell, Margaret Atwood und Aldous Huxley, deren Werke allesamt genau solche Fragen berühren, kamen auf. Nach diesem Abend zwischen Science-Fiction, Politik und Dystopie hat mich interessiert, welche Sachtexte diese Autor:innen jenseits ihrer Romane jeweils verfasst haben – und dabei bin ich antiquarisch auf »Zeit der Oligarchen« gestoßen. Nach der Lektüre der ersten Sätze musste ich mir, ehrlich gesagt, ein wenig die Augen reiben, weil der Text bis in die Wortwahl hinein an den Kern unserer Debatten über Tech, Macht, Geopolitik und globale Ungleichheit rührt. Und dann stellte sich heraus: Dieser Essay ist nach seiner Veröffentlichung 1946 tatsächlich aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden. Und das wollten wir so schnell wie möglich ändern.
Huxley schreibt über die aufstrebenden Tech-Oligarchen der 1940er Jahre. Welche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede gibt es zu unserer heutigen Situation?
Die wohl größte Gemeinsamkeit lässt sich schon an Huxleys ersten Sätzen ablesen, in denen er feststellt, dass die schnellen technologischen Entwicklungen seiner Zeit mit einer Zentralisierung von politischer Macht in den Händen weniger einhergingen. Genau das erleben wir heute durch die Tech-Riesen, wenn vermutlich auch in einem Ausmaß, das Huxley so nicht vorhersehen konnte. Natürlich dachte Huxley seinerzeit nicht an Künstliche Intelligenz und digitale Technologien, sondern in erster Linie an Waffen- und Nachrichtentechnik, aber zum Beispiel auch an die sich zunehmend globalisierende Lebensmittelproduktion. Bei allen Unterschieden sind die strukturellen Verflechtungen zwischen Technologie und Geopolitik, die er beschreibt, jedoch heute zu weiten Teilen ebenso gültig wie damals.
Der Begriff »Boy Gangster« weckt heute sofort lebhafte Assoziationen zu den üblichen Verdächtigen der Gegenwart – Trump, Xi Jinping, Putin, Musk und vielen anderen. Was meinte Aldous Huxley vor 80 Jahren damit?
Mir scheint, dass sich Huxley auch in »Schöne Neue Welt« schon sehr stark auf die menschliche Psychologie konzentriert hat – noch stärker, als beispielsweise George Orwell das in seinen Romanen tut. Warum sind Nationalismus, Autokratien, die Idee des »starken Mannes« an der Spitze immer wieder so verführerisch für so viele Menschen – vor allem in unsicheren Zeiten? Darum geht es Huxley in seinen Romanen und auch hier. Die Boy Gangster sind für Huxley jene Männer (und ja, hier spricht er nur von Männern), die genau das auszunutzen wissen – jeder Ethik, jedem historischen Erfahrungswert und auch jeder Vernunft zum Trotz. Vielleicht kann man sagen: Der »Boy Gangster« ist fast schon ein psychologischer Archetypus, mit dem jede Zeit immer wieder auf ihre Art umgehen muss.
Die Tech-Bros scheinen momentan allgegenwärtig in den Schlagzeilen und Nachrichten. Was trägt Huxleys Buch zu dieser Debatte bei?
Das Besondere an »Zeit der Oligarchen« ist gerade die überzeitliche Relevanz. Da Huxley nicht im tagesaktuellen Kleinklein der Gegenwart verstrickt ist, erlaubt sein Buch es, einen Schritt zurückzutreten und das große Ganze zu betrachten, das man allzu oft aus den Augen zu verlieren droht. Huxley erklärt nicht das konkrete Verhalten der gegenwärtigen Tech-Bros zwischen Wirtschaft und Politik – aber sein Buch macht das System, die Idee »Tech-Bro« verständlich.
Was kann oder muss man aus der Lektüre von »Zeit der Oligarchen« für unsere Zukunft mitnehmen?
Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar nennt Huxleys Essay eine hellsichtige Analyse, die sich heute so aktuell liest wie damals – und wirft zu Recht die Frage auf: Warum haben wir nicht daraus gelernt? Huxley war zu seiner Zeit keineswegs der Einzige, der auf diese Gefahren hinwies. Auch Albert Einstein hat sich zeit seines Lebens dafür eingesetzt, dass die Wissenschaft sich ihrer enormen Verantwortung bewusst sein muss, wenn sie die Welt durch Technologien vor neue Realitäten stellt – allen voran durch die Atombombe. Auch heute kämpfen Wissenschaftler:innen für einen ethischen Umgang mit neuen Technologien. Gerade im Fall von KI oder auch Gentechnik scheinen wir momentan noch am Anfang zu stehen – aber die Atomabkommen des letzten Jahrhunderts zeigen auch, dass internationale Zusammenarbeit in dem Bereich grundsätzlich möglich ist, was Huxley noch nicht wissen konnte. Wenn wir nicht dem Pessimismus nachgeben wollen, sollten wir vielleicht genau das mitnehmen: Wissenschaft und Politik müssen (und können) an einen Tisch. Und vielleicht kann man auch einen zweiten Gedanken mitnehmen: Manchmal kommen anregende politische Analysen nicht nur von Experten, sondern auch von literarischen Autoren – gerade weil es ihr Handwerk ist, die Welt nicht nur zu beschreiben, wie sie ist, sondern auch Welten zu entwerfen, die sich von der Realität (noch) unterscheiden, im Guten wie im Schlechten.