Mitreißend!

Leseprobe Als Ajay Sunny Wadia – Abkömmling des einflussreichen Wadia-Clans – kennenlernt, der im Café mit seinen Freunden das Wochenende verbringt, wird er dessen rechte Hand. Und: Ajay wird in die politischen Machenschaften der Wadias hineingezogen ...
Eine Stadt, die niemals schläft: Neu Delhi
Eine Stadt, die niemals schläft: Neu Delhi

Foto: ROBERTO SCHMIDT/AFP via Getty Images

Neu-Delhi, 2004

Fünf Obdachlose liegen tot am Rande von Delhis Inner Ring Road.

Das klingt wie der Anfang eines schlechten Witzes.

Wenn es einer ist, hat ihnen das niemand gesagt.

Sie starben, wo sie schliefen.

Fast.

Zehn Meter hat sie der Mercedes noch mitgeschleift,

nachdem er mit Vollgas über den Bordstein gesprungen war.

Es ist Februar. Drei Uhr morgens. Sechs Grad.

Fünfzehn Millionen Seelen kuscheln sich in ihre Betten.

Ein blasser Schwefeldunst hängt in den Straßen.

Und eine der Toten, Ragini, war achtzehn Jahre alt. Sie

war im fünften Monat schwanger. Ihr Mann Rajesh,

dreiundzwanzig, schlief neben ihr. Beide mit dem Bauch nach

oben, dicke Tücher um Kopf und Füße gewickelt, so dass sie

ohnehin wie Leichen aussahen, abgesehen von dem Rucksack

unter ihrem Nacken, den ordentlich neben den Armen

aufgereihten Sandalen.

Eine grausame Laune des Schicksals: Das Paar kam erst

gestern in Delhi an. Fand Zuflucht bei Krishna, Iyaad und

Chotu, drei Wanderarbeitern aus demselben Distrikt von Uttar

Pradesh. Jeden Tag standen diese Männer vor dem Morgengrauen

auf und marschierten zur Arbeits-mandi beim Company Bagh, um

den Tagelohn zu ergattern, der gerade aufzutreiben war – als

dhaba-Koch, Hochzeitskellner, Bauarbeiter –, um Geld in ihr

Dorf zu schicken, für die shaadi einer Schwester, die

Schulgebühr eines Bruders, das Medikament eines Vaters.

Lebten von einem Tag auf den anderen, einer Stunde auf die

andere, arm trotz Arbeit, ums Überleben kämpfend. Kehrten

nach Einbruch der Dunkelheit zum Schlafen an diese

unwirtliche Stelle zurück, neben der Ring Road, unweit der

Nigambodh Ghat. Unweit des abgerissenen Slums vom Yamuna

Pushta, in dem sie gewohnt hatten.

Aber die Zeitungen halten sich mit diesen drei Männern

nicht weiter auf. Ihre Namen verblassen im Morgengrauen wie

die Sterne.

Ein Mannschaftswagen mit vier Polizisten trifft an der

Unfallstelle ein. Sie steigen aus und sehen die Leichen und

die heulende, wütende Menge, die jetzt das Auto umringt. Es

sitzt noch jemand drin! Ein junger Mann, kerzengerade, die

Arme auf das Lenkrad gestützt, die Augen fest geschlossen.

Ist er tot? Ist er so gestorben? Die Polizisten schieben das

Gesindel beiseite und spähen hinein. „Schläft der?“, sagt

einer von ihnen zu seinen Kollegen. Diese Worte veranlassen

den Fahrer dazu, den Kopf zu drehen und, wie ein Ungeheuer,

die Augen zu öffnen. Der Polizist macht vor Schreck beinahe

einen Satz. Das glatte, ebenmäßige Gesicht des Fahrers hat

etwas Groteskes an sich. Sein Blick ist herausfordernd und

wild, aber abgesehen davonist alles an ihm akkurat. Die

Polizisten ziehen die Tür auf, fuchteln drohend mit ihren

lathis, befehlen ihm, auszusteigen. Zu seinen Füßen liegt

eine leere Flasche Black Label. Er ist ein schlanker Mann,

durchtrainiert, in einem Safari-Anzug aus grauer Gabardine,

messerscharf gescheiteltes undtadellos eingeöltes Haar.

Unter den Whiskygestank mischt sich ein anderer Geruch:

Davidoff Cool Water, nicht dass diese Polizisten es erkennen

würden.

Was sie erkennen, ist folgendes: Er ist kein reicher

Mann, beileibe kein reicher Mann, eher ein Faksimile,er

erinnert nur an Wohlstand, dient ihm. Der Anzug, das

gepflegte Gesicht, das Auto, all das kann die essenzielle

Armut seiner Herkunft nicht verbergen; ihr Geruch ist stärker

als jeder Schnaps, jedes Parfüm.

Ja, er ist ein Dienstbote, ein Chauffeur, ein Fahrer,

ein „Boy“.

Eine wohlgenährte und stubenreine Version dessen, was da

tot auf der Straße liegt.

Und der Mercedes gehört ihm nicht.

Man kann also mit ihm machen, was man will.

Er schluchzt selbstvergessen, als die Polizisten ihn

herauszerren. Zusammengekrümmt übergibt er sich auf seine

Lederslipper. Einer schlägt ihn mit seiner lathi, zieht ihn

hoch. Ein anderer durchsucht ihn, findet seine Brieftasche,

findet ein leeres Schulterholster, findet eine

Streichholzschachtel aus einem Hotel namens Palace Grande,

findet eine Geldklammer mit zwanzigtausend Rupien.

Wem gehört das Auto?

Woher hast du das Geld?

Wem hast du es geklaut?

Wolltest mal eine Spritztour machen, was?

Wem gehört der Schnaps?

Chutiya, wo ist die Waffe?

Wichser, für wen arbeitest du?

In seiner Brieftasche befinden sich ein Wählerausweis,

ein Führerschein, dreihundert Rupien. Laut Ausweis heißt er

Ajay. Der Name seines Vaters lautet Hari. Er wurde am 1.

Januar 1982 geboren.

Und der Mercedes? Er ist auf einen Gautam Rathore

zugelassen.

Die Polizisten beratschlagen: Der Name kommt ihnen

bekannt vor. Und die Adresse – Aurangzeb Road - spricht für

sich. Nur die Reichen und Mächtigen wohnen dort.

„Chutiya“, blafft ein Beamter und hält den

Fahrzeugschein hoch. „Ist das dein Chef?“

Aber dieser junge Mann namens Ajay ist zu betrunken zum

Sprechen.

„Arschloch, hast du ihm das Auto geklaut?“

Einer der Polizisten tritt zur Seite und betrachtet die

Toten. Die Augen der jungen Frau sind offen, die Haut in der

Kälte bereits blau geworden. Sie blutet aus dem Bereich

zwischen ihren Beinen, wo Leben war.

Auf der Wache wird Ajay nackt ausgezogen und in einen

kalten und fensterlosen Raum gesperrt. Er ist so betrunken,

dass er das Bewusstsein verliert. Die Polizisten kehren

zurück, um Eiswasser über ihm auszugießen, und er wacht mit

einem Schrei auf. Er wird aufgesetzt, und sie drücken seine

Schultern an die Wand, ziehen seine Beine auseinander. Eine

Beamtin stellt sich auf seine Oberschenkel, bis sie nicht

mehr durchblutet werden, und er brüllt vor Schmerz und wird

erneut ohnmächtig.

Am nächsten Tag nimmt der Fall Fahrt auf. Die Medien

sind empört. Anfangs wegen der Schwangeren. Nachrichtensender

betrauern sie. Allerdings war sie weder fotogen noch gab sie

Anlass zu großen Erwartungen. Also richtet sich das Interesse

auf den Mörder. Eine Quelle bestätigt, dass der Wagen ein auf

Gautam Rathore zugelassener Mercedes ist, und das ist eine

Schlagzeile – er gehört zum festen Inventar der Gesellschaft

von Delhi, ein Polospieler, ein Anekdotenlieferant und ein

Fürst, echter Adel, der erste und einzige Sohn eines

Parlamentsabgeordneten, Maharaja Prasad Singh Rathore. Saß

Gautam Rathore am Steuer? Das ist die Frage, die jeder sich

stellt. Aber nein, nein, sein Alibi ist wasserdicht. Am

vergangenen Abend war er im Urlaub, gar nicht in Delhi. Er

war in einem Fort Palace Hotel bei Jaipur. Sein derzeitiger

Aufenthaltsort ist unbekannt. Aber er hat eine Erklärung

abgegeben, sein Entsetzen geäußert und den Verstorbenen und

ihren Angehörigen sein Beileid ausgesprochen. Der Fahrer,

heißt es darin, arbeite erst seit Kurzem für ihn. Offenbar

habe er sich den Mercedes ohne Gautams Wissen genommen. Habe

sich Whisky und den Mercedes genommen und unerlaubterweise

eine Runde gedreht.

Eine Verlautbarung der Polizei bestätigt das: Ajay,

Angestellter Gautam Rathores, stahl eine Flasche Whisky aus

Rathores Haus, während sein Arbeitgeber verreist war, fuhr

mit dem Mercedes los, verlor die Kontrolle.

Diese Geschichte wird zur Tatsache.

Sie nistet sich in den Zeitungen ein.

Und der Polizeibericht kommt zu den Akten.

Ajay, Sohn Haris, wird gemäß Abschnitt 304A des

indischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Fahrlässige Tötung.

Höchststrafe: zwei Jahre.

Er wird in das überfüllte Gericht gebracht und dem

Bezirksrichter vorgeführt, der Richter braucht zwei Minuten,

um eine Kaution zu verweigern und Untersuchungshaft

anzuordnen. Er wird mit den anderen Häftlingen in einem Bus

ins Tihar-Gefängnis gefahren. Sie müssen zur Abfertigung eine

Schlange bilden; in mürrischen Reihen sitzen sie auf

Holzbänken im Aufnahmeraum, umgeben von in den feuchten,

löchrigen Putz der Wände genagelten Plakaten mit

Vorschriften. Als Ajay dran ist, wird er in ein

vollgestelltes Büro gebracht, wo ein Verwaltungsbeamter und

ein Gefängnisarzt mit ihrer Schreibmaschine und ihrem

Stethoskop warten. Seine Habseligkeiten werden ein weiteres

Mal ausgebreitet: Brieftasche, Geldklammer mit zwanzigtausend

Rupien, die Streichholzschachtel mit dem Aufdruck Palace

Grande, das leere Schulterholster. Das Geld wird gezählt.

Der Verwaltungsbeamte nimmt seinen Bleistift und

beginnt, das Formular auszufüllen.

„Name?“

Der Häftling starrt ihn an.

„Name?“

„Ajay“, sagt er kaum hörbar.

„Name des Vaters?“

„Hari.“

„Alter?“

„Zweiundzwanzig.“

„Beruf?“

„Fahrer.“

„Lauter.“

„Fahrer.“

„Wer ist dein Arbeitgeber?“

Der Verwaltungsbeamte späht über seinen Brillenrand.

„Wie heißt dein Arbeitgeber?“

„Gautam Rathore.“

Zehntausend Rupien werdender Geldklammer entnommen,

den Rest bekommt er zurück.

„Steck’s dir in den Strumpf“, sagt der

Verwaltungsbeamte.

Er wird registriert und in Gefängnis Nr. 1 geschickt,

durch den Innenhof zur Strafanstalt geführt, durch den

dunklen Korridor in eine große Zelle gebracht, in der neun

weitere Insassen beengt und gedrängt leben. Kleidung hängt an

den Gitterstäben wie an einem Marktstand, und der Fußboden

ist bedeckt mit zerfledderten Matratzen, Decken, Eimern,

Bündeln, Säcken. Ein kleines Stehklo in der Ecke. Trotz der

Enge befiehlt der Wärter, ihm auf dem kalten Boden neben dem

Klo ein klein wenig Platz zu schaffen. Matratze kann

allerdings keine entbehrt werden. Ajay legt die Decke, die

man ihm gegeben hat, auf den Steinboden. Er setzt sich mit

dem Rücken an die Wand, starrt mit leerem Blick geradeaus.

Mehrere seiner Zellengenossen kommen und sagen ihm ihre

Namen, aber er bleibt stumm, reagiert auf nichts. Er rollt

sich zu einer Kugel zusammen und schläft.

Als er zu sich kommt, sieht er einen Mann vor sich

stehen. Alt und zahnlückig, wirrer Blick. Seit über sechzig

Jahren auf der Erde, sagt er. Über sechzig Jahre. Er sei

Autorikschafahrer, zumindest sei er das draußen gewesen. Seit

sechs Jahren warte er hier auf seinen Prozess. Er sei

unschuldig. Das ist mit das Erste, was er sagt. „Ich bin

unschuldig. Angeblich bin ich Drogendealer. Aber ich bin

unschuldig. Ich war am falschen Ort. Ein Dealer saß in meiner

Rikscha, aber der ist abgehauen und mich haben die Bullen

geschnappt.“ Dann fragt er, wessen Ajay beschuldigt werde,

wie viel Geld er am Leib versteckt habe. Ajay ignoriert ihn,

dreht sich in die andere Richtung. „Wie du willst“, sagt der

alte Mann fröhlich. „Aber du solltest wissen, dass ich hier

Sachen regeln kann. Für hundert Rupien kann ich dir noch eine

Decke besorgen, für hundert Rupien kann ich dir besseres

Essen besorgen.“ „Lass ihn in Ruhe“, brüllt ein anderer

Insasse, ein pummeliger, dunkler Junge aus Aligarh, der sich

mit einem Stückchen neem in den Zähnen stochert. „Weißt du

nicht, wer das ist, das ist der Mercedes-Killer.“ Der alte

Mann schlurft davon. „Ich bin Arvind“, sagt der dicke Junge.

„Die sagen, ich hätte meine Frau umgebracht, aber ich bin

unschuldig.“

07.03.2023, 17:50

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