Bericht eines faszinierenden Lebens

Leseprobe In „Zeitreise“ lässt Stefan Aust ein Panorama bundesdeutscher und internationaler Politik entstehen. So entsteht zugleich ein Zeitzeugnis, Hintergrundbericht und die Abenteuergeschichte eines hoch spannenden Lebens ...
Porträt des chinesischen Präsidenten Xi Jinping neben einem Bild von Mao Zedong
Porträt des chinesischen Präsidenten Xi Jinping neben einem Bild von Mao Zedong

Foto: HECTOR RETAMAL/AFP via Getty Images

Teil 1

1946 – 1979

Zeit, das ist der Abstand zwischen Ursache und Wirkung.
In der Physik und genauso in der Geschichte.
Und dazwischen
liegt unser Leben, unsere persönliche Zeitreise.
Manches haben
wir selbst miterlebt, miterleben müssen – oder miterleben dürfen.
Und manches recherchieren, aufschreiben oder filmen können.
Beobachtungen am Rande der Geschichte.

Die Schülerzeitung

Der Krieg und das Dritte Reich lagen bei meiner Einschulung sieben Jahre und bei meinem Abitur gerade mal 21 Jahre zurück. Zu Hause wurde nicht darüber gesprochen und in der Schule auch nicht – denn die meisten Lehrer hatten ja zu diesem epochalen politischen und moralischen Desaster beigetragen.

Am Athenaeum gab es eine Schülerzeitung mit dem Namen Wir, bei der ich mich bereits in der achten Klasse engagierte. Als Journalist – auch bei der Schülerzeitung – konnte man alles kritisieren, konnte seine Nase überall hineinstecken. Man war zudem irgendwie wichtig, was schon daraus ersichtlich war, dass die Schulleitung Zensurmaßnahmen einführen wollte. Am Widerstand konnte man wachsen.

Ein großer Schreiber war ich nie, also fing ich an, die Finanzen der Schülerzeitung zu betreuen. Ich ging in Buchhandlungen und Geschäfte in Stade und warb Anzeigen für die Zeitung ein. Als meine Mutter davon erfuhr, war sie bass erstaunt. Ich sei doch normalerweise zu schüchtern, um im Laden irgendetwas Gekauftes zurückzugeben. Und jetzt würde ich die Inhaber von Geschäften dazu überreden, uns Anzeigen zu geben? Die Erklärung war relativ simpel: Als Vertreter der Schülerzeitung war ich in einer Funktion tätig, das nahm mir die Schüchternheit.

Es lag etwas in der Luft, ein Hauch von Aufklärung und Rebellion. Man war nicht eigentlich links, eher ein wenig anarcholiberal, kritisch nach allen Seiten. In unserem Dezemberheft 1964 stellten wir unser Motto sogar auf die Titelseite:

»Als Sprachrohr der Jugend veröffentlicht WIR frank und frei die Beobachtungen und Gedanken junger Menschen. Alle Artikel geben die persönliche Meinung ihrer Verfasser wieder. Sie sind keinesfalls mit den Ansichten aller Schüler oder gar der Schule gleichzusetzen.«

Das gefiel nicht allen, vor allem unserem Schuldirektor Dr. Bartels nicht. Irgendeine eher nebensächliche Geschichte nahm er zum Anlass, die Vorzensur der Zeitung zu verfügen. Wir dürften einen Lehrer unseres Vertrauens aussuchen, der jeden Artikel vor der Veröffentlichung lesen und dann freigeben sollte. Dem wollte und konnte ich mich nicht fügen. Ich erklärte dem Direktor, dass wir das Heft dann außerhalb der Schule verkaufen würden. Das gefiel dem Direktor nicht besonders, und als dann das Hamburger Sonntagsblatt über unsere Differenzen mit der Schulleitung berichtete und einige Zeit danach sogar das Fernsehmagazin Panorama, war ziemlich dicke Luft.

Wir verkauften das neue Heft auf der Straße direkt vor dem Athenaeum, was manche Studienräte zum Anlass nahmen, den Schülern dringend vom Kauf des Blattes abzuraten. Mitglieder des Lehrerkollegiums suchten sogar die Stader Buchhandlungen auf und drückten ihr Missfallen darüber aus, dass die Wir dort zum Verkauf auslag.

Dafür kam uns damals Panorama zur Hilfe, und Joachim Fest moderierte am 29. November 1964 einen Beitrag, der sich mit Schülerzeitungen und deren Schwierigkeiten mit der Schulleitung beschäftigte. Dabei wurde ausführlich auf das Beispiel der Wir eingegangen, die, um keiner Zensur zu unterliegen, inzwischen außerhalb der Schule erschien. Es gab einen ziemlichen Aufruhr am Athenaeum, als das Kamerateam von Panorama anrückte und von der Straße her die aus dem Fester lehnenden Lehrer filmte. Im klapprigen DKW-Kombi meiner Eltern, beklebt mit dem Titel der neuen Wir-Ausgabe, bog ich mit meiner Freundin Marlies auf dem Beifahrersitz eilig um die Ecken, um die Zeitung bei den zwei Buchhandlungen in Stade auszuliefern. Darunter der Song »Down around the corner in a little school« und der Text des Redakteurs Christian Herrendörfer:

»Was diese Schüler tun, sehen viele Lehrer nicht gern. Sie geben in Stade eine eigene unabhängige Zeitung heraus, und das alle sechs Wochen in über 1000 Exemplaren. Den Lieferwagen für den Vertrieb stellte der Vater des Chefredakteurs. Die Zeitung kostet 50 Pfennig, ihre Herstellung über das Doppelte, die Differenz wird durch Anzeigen gedeckt.«

Dann sah man, wie wir die Stufen zum Keller meiner Großmutter Elsa, der Mutter meiner Mutter, hinunterliefen. »Aus der Schülerzeitung ist eine jugendeigene Zeitung geworden, im Asyl, das die Großmutter des Chefredakteurs in ihrem Keller gewährte.« Ich hatte extra meinen Freund Rolf Heuer aus der Heide anreisen lassen. Er konnte für seine 18 Jahre nicht nur unglaublich schreiben, sondern auch formulieren: »Eine Schülerzeitschrift hat schon genug mit dem Desinteresse der Schüler zu kämpfen, als dass es für sie opportun wäre, jetzt in eine Zweifrontenstellung auch noch gegen die Lehrer gedrängt zu werden.«

Der Reporter wandte sich an mich: »Wie kommt denn Ihre Schülerzeitung bei der Lehrerschaft an?« »Es hört sich paradox an, aber ich glaube, im Augenblick kommt unsere Zeitung bei den meisten Lehrern besser an, als sie es vor dem Auszug aus der Schule tat. Unsere Zeitung ist eben interessanter geworden.«

Rolf, der seinen Namen später auf meinen Vorschlag in Rolv änderte, übernahm wieder die Interpretation: »Der Lehrer ist in seinem beschränkten Radius eingefroren, und er versucht, die Schüler in die Lähmung mit einzubeziehen.«

38 Jahre später wurde das Video in einer Sendung von 3 nach 9 noch einmal gezeigt. Darauf schrieb mir Marlies einen kleinen Brief: »Wir waren so streng und ernst. Ich habe das Gefühl, dass wir uns die ganze Verantwortung und Sprachlosigkeit der Generation unserer Eltern auf unsere schmächtigen Schultern gepackt haben.«

Mein Klassenlehrer schrieb zu meinem Abitur in die interne Bewertung, die ich gut 50 Jahre später anlässlich der 425-Jahr Feier der Schule einsehen durfte, bei der ich die Ansprache hielt:

»Eine gewisse Oberflächlichkeit, jugendlicher Überschwang und altersgemäße Protesthaltung führen zu leicht negativer, ablehnender Beurteilung von Lebensfragen. Überkommenen Werten und Lebensgewohnheiten gegenüber ist er sehr skeptisch, wobei er sich jedoch die Möglichkeit, sich zu arrangieren, offenhält. Ehrgeiz und Tatkraft führen zu selbständiger publizistischer Betätigung.«

Doch dann kam es knüppeldick: »In einigen schulischen Sachgebieten zeigte er verschiedentlich provozierendes Desinteresse und mangelnden Fleiß. Gegenüber Älteren ist er gelegentlich respektlos und herausfordernd.«

02.06.2021, 17:06

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